Mannshohe Reifen

»Denk dran: drei Minuten plus«, sagte John, als ein Sattelschlepper mit laufendem Motor vor dem Truck Stop anhielt und der Fahrer ausstieg. »Halt drauf!«
»Mein Akku ist leer«, sagte Timmy.
»Hier, nimm meins. Nicht zoomen! Das wackelt zu sehr. Und leise«, flüsterte er. »Denk an den Motor! Er muss zu hören sein. Und halt ruhig!«
»Mir ist kalt.« Auf dem weitläufigen Gelände wehte ein scharfer Wind, dem sein dünner Anorak nicht gewachsen war.
»Danach gehen wir.«
»Wie viele hast du schon?«, fragte Timmy.
»Über hundert.«
»Wow. Wie viel bringt's?«
»Fünfundzwanzig Prozent stehen uns zu. Wir müssen aber noch alles bei der Umweltbehörde einreichen … Eine Minute! … Kannst du mir am Wochenende dabei helfen? Über Dads Namen, wegen Konto und so. Dann kann er das Geld für Moms OP nehmen.«
»Klar, super.«
»Ab morgen bist du nach der Schule hier, okay? Für eine Stunde, für einige Tage. Sag keinem was. Wir können keine Konkurrenz gebrauchen. Erzähl auch Mom nichts! Ich will es ihr erst sagen, wenn wir das Geld haben.«
»Nach der Schule? Und wer ist dann bei ihr?«
»Tante Mary kommt morgen für eine Woche.«
»Und wo bist du?«
»Brooklyn ... Eins fünfunddreißig!«
»Woher wusstest du davon?«
»Im Fernsehen. Eine Kampagne. Mit diesem Rockstar. Billy, Billy …«
»Billie Eilish?«
»Den kenn ich nicht. Aber so ähnlich. Der Blonde. Aus den Achtzigern ... Zwei zehn! ... Wenn er wegfährt, rennst du mit laufender Kamera hinterher und hältst aufs Nummernschild drauf, okay? Auch Fotos. Auch vom Logo.«
»Ja, ja. Verstanden.«
Die Sekunden verstrichen langsam. Dann ging die Tür des Truck Stops auf, an dem aller Fortschritt spurlos vorübergegangen war.
»Mist! Er kommt zurück. Zwei einundzwanzig. Wird nicht reichen.«
»Nicht schlimm«, sagte John und legte einen Arm über Timmys Schulter. »Und hör auf zu fluchen. Wir warten auf den nächsten.«
»Ich weiß doch, wie es geht!« Eine steife Brise blähte seine Jacke. Er überkreuzte die Arme vor der Brust, sagte: »Ich film nicht zum ersten Mal. Komm, lass uns zum Krankenhaus.«
»Ich möchte doch nur sichergehen, dass du es richtig machst. Danach gehen wir. Wirklich.«
»Hier, dein Handy.«
»Was hast du vor?«
»Was gegen die Kälte tun.«

»Hallo! Zwei Kaffee, bitte! Schwarz.«
Grußlos stellte der hagere Angestellte zwei Becher auf die Theke, nahm den Kaffee von der Wärmeplatte.
Nervös blickte sich Timmy um. »Nicht viel los, ne?«
Der Mann fühlte am Glasbehälter und schüttete die Gefäße randvoll ein.
»Fast nur Trucker, ne?«
»Truck Stop?«, erwiderte er und zog eine Augenbraue hoch.
»Okay, okay.«
»Hier.«
»Ähm, das ging sehr … ähm, sehr schnell. Was macht das?«
»Vier Dollar.«
»Können Sie mir … Können Sie mir einen Gefallen tun?«
Während Timmy Geld aus der Hosentasche kramte, blickte der Hagere aus dem Augenwinkel durch die Scheibe, furchte die Stirn.
»Sie können den Rest behalten. Es … es geht um eine Wette.«

»Danke.« John nahm einen vorsichtigen Schluck. »Tut gut ... Hier, das Handy.«
»Da kommt einer! Halt mal bitte!«
Kaffee schwappte aus dem Becher. »Pass auf!«
»Ruhig, John. Motor läuft. Er steigt aus.«
»Ja, ja … Gut so.«
»Pst.«
»Jetzt fällt’s mir wieder ein: Billy Never Idles
»Was?«
»Die Kampagne ... Er kommt zurück!«
»Sehe ich selbst. Mist!«
Als der Fahrer, muskulös und kahlgeschoren, hastig auf sie zustürzte, schrie John: »Los, abhauen!«
»Dein Handy! Nimm!«
»Ich hab nur zwei Hände. Steck du ’s ein!«
»Hier!«
»Hey, pass auf … Aua! Ich hab mich verbrannt! ... Das Handy!«
»Lass liegen! Holen wir uns später. Schnell weg!«, schrie er und zog seinen Bruder am Arm.
»Das Handy! Warte! Ich muss …« John warf die Becher weg, bückte sich und suchte im hohen Grase umher.
»Komm endlich! Der macht uns beide fertig.«
Der Fahrer kam immer näher, krempelte die Ärmel hoch, ballte die Fäuste. »Na, wartet! Euch Schweine krieg ich!«
John und Timmy rannten los.

Keuchend blieben die beiden hinter einer Hauswand stehen, lugten um die Ecke. Der Fahrer war auf halbem Weg stehen geblieben und stützte seine Arme in die Hüfte.
»Puh.« Timmys Gesicht hellte sich auf. »Er kann nicht mehr, der Dicke. Glück gehabt.«
John holte tief Luft, als er sah, wie der Trucker etwas vom Boden aufhob. »Er hat das Handy gefunden!«
»Kannst mein Altes haben, das ist tausendmal besser. Komm, lass uns zu ihr.«
»Die Aufnahmen!« John lief dem Fahrer hinterher, der zurück zum Truck ging.
»Die kannst du von der Cloud runterladen.«
»Von der was? Das sind fast neuntausend Dollar! Alles umsonst!«
Timmy holte seinen Bruder ein, ließ ihn hinter sich. »Ich hol es!«
»Warten Sie! Bitte!«, rief John. »Bitte!«
Der Fahrer hielt vor dem Truck, schaute in ihre Richtung, hielt grinsend das Handy hoch. Er bückte sich und legte das Gerät vor dem mannshohen Reifen ab.
»Heh, Sie Scheißkerl!«, rief Timmy, noch einige Meter entfernt, während der Mann einstieg und den Motor startete.
»Nein! Nein! Bitte nicht!«, schrie John.
Timmy warf sich auf den Asphalt, schob sich unter das ratternde Ungetüm. »Ich komm nicht dran.«
»Komm da weg! Der ist wahnsinnig! Timmy!« John schlug gegen die Fahrertür, versuchte sie zu öffnen.
»Moment. Ich hab's gleich!«
John bückte sich, zerrte Timmy am Arm. »Lass es liegen, Timmy! Weg, weg! Lass …!«
 

Hans Dotterich

Mitglied
Hallo Franklyn,

Zwei Jungs, die raffiniert sind. Aber nicht raffiniert genug. Trotz digitaler Kommunikation.
Vor dem Lesen hatte ich keine Ahnung vom (literarischen) Wert von laufenden Dieselmotoren. Jetzt schon. Ein interessantes Erlebnis, kühl und hart serviert.

Grüße

Hans
 
Hallo Hans,

ich danke dir fürs Lesen und Kommentieren.

Zwei Jungs, die raffiniert sind. Aber nicht raffiniert genug.
Ja, genau. Gut, dass das so rübergekommen ist.

Vor dem Lesen hatte ich keine Ahnung vom (literarischen) Wert von laufenden Dieselmotoren
Ich halte es für ein wichtiges (Umwelt-, Nachhaltigkeits-)Thema, das leider viel zu wenig oder gar nicht bei uns bekannt ist. Deswegen diese kleine Geschichte.

Ein interessantes Erlebnis, kühl und hart serviert.
Danke dir.

Guten Wochenstart und
liebe Grüße, Franklyn
 



 
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