Manschetten

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Endlos lang gebraucht für die Entscheidung. Na gut, geh ich eben hin, nehme die lange Fahrt auf mich, auch wenn es sinnlos ist.

Ich komme viel zu spät. Hätte halt früher fahren müssen, viel früher, jetzt wird es schon fast lächerlich wirken, wenn ich noch erscheine.

Dann verlaufe ich mich auch noch auf dem Weg dorthin, durchquere nie gesehene Quartiere, teils voll quirligem Leben, teils öde und verlassen, die Straßen von zahlreichen Trümmergrundstücken gesäumt. Plötzlich stelle ich fest, dass ich meine Tasche vergessen habe, keinerlei Unterlagen, nicht mal einen Notizblock dabei habe, was soll ich denn nun dort, wäre es nicht besser, jetzt umzukehren?

Endlich angekommen, aber welcher Raum ist es denn nun, zweiter oder dritter Stock, rechts oben oder links unten? Da, eine offene Tür, das muss es sein!

In der zweiten Reihe ist ein Platz frei, ich setzte mich, aber nun kommt noch jemand, schaut pikiert, wendet sich ab, aber ich stehe schnell auf, murmele etwas wie „ist da besetzt – wollte ihnen den Platz nicht …“, und gehe nach hinten. In der vorletzten Reihe finde ich einen Platz, es gibt einen Nachbarn, der keinerlei Notiz von mir nimmt, auch ich spreche ihn nicht an. Alle haben vor sich auf ihren Tischen, ordentlich abgelegt, verschiedene Bücher, Hefte, Schreibutensilien liegen, nur meine Tischplatte ist leer. Ich suche in dem Fach unter der Bank, finde einen alten, albernen Comic, nunja, besser als gar nichts, und ein paar angeschmuddelte, verknitterte Blätter, so kann ich die Nacktheit der Tischplatte kaschieren. Und wenn es gar zu langweilig wird, ein wenig in dem zerfledderten Comic-Heftchen blättern.

Dann erscheint die Dozentin. Sie tigert in dem freien Raum vor der Gruppe wie auf einer Bühne hin und her, spricht völlig frei, nicht laut, aber ausdrucksstark, so perfekt, als würde sie ablesen. Und es sind komplizierte Zusammenhänge, die sie darlegt, beschreibt und erläutert, aber ich kann ihr folgen, fast mühelos, genieße es, durch das klare, wohlstrukturierte Gedankengebäude geführt zu werden, das sie vor uns errichtet. Ich finde sie ungeheuer attraktiv.

Jetzt hat sie ihren Bewegungsradius erweitert, wandelt durch die Sitzreihen, spricht auch mal von ganz hinten, bleibt zuweilen zwischen den Sitzreihen stehen, unterbricht ihre Rede, schaut diesen oder jenen antwortheischend an, stellt auch mal eine direkte Frage. Die Reaktionen sind recht unterschiedlich, es gibt einige wenige glatte, wie auswendig gelernte Antworten, oft auch nur ein paar unüberlegt zusammengestoppelte Sätze oder betretenes Schweigen.

Ich erhasche ihren Blick, platze ungefragt mit einer Bemerkung heraus, sie bleibt stehen, gibt eine Antwort, es entwickelt sich ein Gespräch, ein Dialog; kein Schlagabtausch, eher ein kooperatives Pin-Pong, wo jeder den Ball möglichst lange im Spiel halten will. Gibt es in unserer eleganten Diskussion unterschwellige Bedeutungen, einen Subtext? Ich weiß es nicht, fühle mich nur unglaublich wohl dabei.

Nun wendet sie sich ab, kehrt zu ihrer Bühne zurück, schneidet ein neues Thema, ein neues Kapitel an, ich sitze da, aufrecht, habe die Hände hinter dem Kopf verschränkt und das rechte Bein über das linke geschlagen, der Fuß weist auf den schmalen Gang zwischen den Reihen, so ergibt sich eine bequeme Sitzhaltung trotz des etwas zu kleinen Stühlchens. Das Spiel wiederholt sich, wieder geht sie im Raum umher, aber noch finde ich keinen Anhaltspunkt, um mit einer halbwegs passenden Bemerkung einzuhaken.

Da bleibt sie vor mir stehen, weist mit spitzem Finger auf mein Hosenbein, fragt, und es klingt recht indigniert: „Was ist denn das?“

Meine alten Bluejeans sind unten mit Manschetten aus dunkellila Stoff repariert und verlängert, ich habe das selber genäht, ich kann so etwas, aber noch nie hat man mich darauf angesprochen, wie sollte man auch, wo die Leute doch heutzutage sogar mit neuen, künstlich zerfetzten Hosen rumlaufen. Ich bin irritiert, suche nach Worten, stammle so etwas wie „War halt zu kurz, musste verlängert werden“, mehr fällt mir nicht ein.

Aber vielleicht meinte sie gar nicht meine Hose, sondern die Haltung.
 

Vitelli

Mitglied
Hi Binsenbrecher,

schöne Geschichte, gut geschrieben. Liest sich so runter, und das meine ich positiv. Der Beginn ist der eines klassischen Alptraums, daher war ich angenehm überrascht, dass der Text eine andere Richtung einschlägt. Das Ende ist schlüssig, aber - mMn - auch ein wenig unbefriedigend. Kurz: Gerne gelesen.

VG,
Vitelli
 
Hallo Vitelli,

vielen Dank für die freundlichen Worte zu meinem Text und die Besternung.
Jaja, das Ende! Wie gefiele Dir dieses?

"Da klingelte der Wecker. 5 Uhr 15. Wie lange ich wohl noch in diesem Job im Paketdienst festhängen werde?
 



 
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