lietzensee
Mitglied
Marianne
Marianne war unzufrieden. In unserer Kolonie haben sich seither viele Legenden über sie gebildet. Aber Marianne selbst betonte stets, dass sie unzufrieden war. Das war ihre große Leistung. Sie hatte in einem Paradies gelebt, eine schöne Frau, ohne Sorgen und mit hinreißendem Körper. Es gibt noch Videos von dieser Welt, auch wenn die Kolonialverwaltung sie aus Jugendschutzgründen zensiert hat. Marianne stand in ihrem Garten, schlanke Taille, wallendes Haar. Ihr Mann, braungebrannt und mit breiten Schultern, begrüßte sie bei seiner Heimkehr mit einem Kuss. Um sie zu schützen, hatte er ein gefährliches Monster erschlagen. Doch Marianne war unzufrieden. Der Mann hielt ihr den abgeschlagenen Reptilienkopf entgegen und sagte, dass es ein schwerer Kampf gewesen sei. „Nur meine Liebe zu dir hat mir Kraft gegeben.“
„Hat sie das?“, fragte sie und blickte auf den blühenden Garten.
„Ja, mein Schatz.“ Er umarmte sie. „Warst du nicht besorgt?“
Sie wandte sich ab, blickte auf ein Blumenbeet und schüttelte dann langsam den Kopf. Sie war nicht besorgt gewesen, sie war unzufrieden.
„Ich hätte sterben können“, sagte er und streckte die Hand nach ihr aus.
Ja, er hätte sterben können, aber auch dann wäre sie nicht besorgt gewesen. Im Spiegel des Gartenteiches betrachtete sie ihre zwei nackten Körper. Sie wäre nicht besorgt gewesen, nicht unsicher, denn wenn er gestorben wäre, dann hätte sie das vorher gewusst. Er starb ja nur, wenn sie es wollte. Wenn sie es wollte, erwachte er auch wieder zum Leben. „Lass mich“, rief sie und stieß seine Hand weg. Marianne war unzufrieden. Dadurch vollbrachte sie die größte Leistung eines Menschen, seit unsere Kolonie dieses neue Entertainment-Paket gebucht hatte. Marianne erkannte den Grund ihrer Unzufriedenheit. Ihre Freude war nichts wert, weil sie kein Leid fürchten musste. Darum begann sie zu schreien und die Sicherheitsprotokolle griffen ein.
Feuchte Schläuche lösten sich aus ihrem Körper. Sie kehrte zurück aus der Virtual Reality in die wirkliche Realität. Hier hatte sie wieder Doppelkinn und eine schiefe Nase. Gewohnt, ihren Impulsen freien Lauf zu lassen, riss sie ihr Headset vom Kopf und warf es gegen das Fenster. Die Scheibe splitterte und kalte Luft drang in das vernachlässigte Zimmer.
Nun erinnerte sie sich wieder an alles. Was sie in der echten Welt tat, das hatte echte Folgen. Die Folgen konnten unberechenbar sein. Langsam schälte sie sich aus den modrigen Laken. Also gab es hier auch Männer, die unberechenbar waren.
Drei Tage brauchte Marianne, bis sie ihre Blase wieder selbst entleeren und Nahrung selbst kauen konnte. Neun Tage lang musste sie das Fenster offen lassen, um den faulen Geruch aus ihrer Wohnung zu vertreiben.
Dann machte sie sich auf die Suche. In den Wohngebäuden war keine Tür verschlossen, da jeder den anderen in der Virtual Reality vermutete. Aus den vermoderten Schlafzimmern suchte sie sich einen Mann aus. Zuerst riss sie das Fenster auf. Sie wischte Staub und Spinnweben vom Gesicht ihres neuen Prinzen. Dann küsste sie ihn fest auf seine Lippen. Der Geschmack war sauer. Doch er erwachte. Zusammen verbrachten sie ein paar wundervolle Tage und dann hatten sie einen Streit. Das machte Marianne unzufrieden. Sie weckte ihren nächsten Mann. Jeder ihrer verstoßenen Männer weckte eine neue Frau und so erwachte unsere Kolonie wieder zum realen Leben. Wer nicht in seinem Bett verfault ist, verdankt dies Mariannes Unzufriedenheit.