Mariechen ist tot

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lietzensee

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Mariechen ist tot​

Mariechen ist gestorben, die Erste in diesem Monat. Man hat sie morgens diskret in den Raum geschoben. Hilde blickt aus dem Fenster des Hospiz Trinitas. In Gesprächen mit anderen nennt man diesen Ort nur den Raum. Aber mit anderen unterhält Hilde sich selten. Viele können nicht mehr. Manche wollen nicht mehr. Was soll man auch noch sagen? Hilde blickt aus dem Fenster auf den Balkon. Dort sieht sie welke Blätter und Taubendreck. Aber nur eine einzige Taube sitzt reglos auf dem Geländer. Sie scheint auf etwas zu warten, so wie Hilde. Das Sitzen im Sessel schmerzt und vor dem Fenster ist tote Ruhe.
Herbert kommt in den Aufenthaltsraum. Mit seiner Gehhilfe rollt er direkt vor das Fenster. Hilde sagt, dass Mariechen gestorben ist und Herbert sagt: "Wer ist Mariechen?" Herbert gilt als senil. Dann sagt er: "Was ist sterben?" Man kann sich bei Herbert nie sicher sein.
Mariechen hatte immer die Tauben vor dem Fenster gefüttert. Den trockenen Kuchen vom Nachmittagskaffee hatte sie zerkrümelt und die Balkontür geöffnet. Weil die Tür eine Schwelle hat, darf man sie alleine nicht öffnen. Aber Marie hatte das trotzdem gemacht, so stur, dass es für die Pfleger meist bequemer war, die Krümel auf dem Balkon zu übersehen. Die angelockten Tauben hatten sie geschäftig aufgepickt. Da gab es Streit ums Futter, kleine Dramen und große Leidenschaft. Jetzt sitzt nur eine Taube auf dem Geländer und wartet.
Ramona tritt in den Raum und wirkt stolz dabei. Sie kann noch sicher auf ihren Beinen gehen. "Mariechen ist gestorben", sagt Hilde und Ramona sagt: "Ich weiß." Es gibt so wenig Neuigkeiten hier, dass sie nie reichen, um ein Gespräch zu füllen. Ramona trägt sogar noch Lippenstift und eine Handtasche. Aus der holt sie eine Kerze und Streichhölzer. Hilde staunt. Ihr kommt ein Reim aus der fernen Kindheit in den Sinn: Messer, Gabel, Schere, Licht ... Streichhölzer sind hier nicht erlaubt und Kerzen sind es noch viel weniger. Brandschutzordnung, sagen die Pfleger. Sie sagen nur dieses eine Wort, in das sich ihre Warnung durch häufige Wiederholung abgeschliffen hat. Alles scheint hier auf Wiederholung ausgelegt. Hilde blickt auf den leblosen Balkon des Trinitas.
Herbert sagt: "Mariechens Herz war unbefleckt. Da konnte auch ich nichts dran ändern." Wahrscheinlich will er damit behaupten, dass er selbst noch potent wäre. Doch kann man bei Herbert nie sicher sein. Niemand antwortet.
Die Kerze brennt auf dem Tisch vor dem leeren Balkon. Sie steht neben einer weißen Vase, die weder Blumen noch Wasser enthält. Obwohl ihr Rücken dabei schmerzt, beugt Hilde sich langsam im Sessel vor. Die Taube sitzt noch immer da. Blickt sie durch die Scheibe auf die Flamme?
Die Kerze brennt hinunter und es scheint Hilde, als würden sie alle auf etwas warten. Schließlich hören sie eilige Schritte auf dem Flur. Das ist Christian. Der Pfleger trägt Gummihandschuhe. Er hat traurige Augen und ist Sohn des Hospizleiters. Christian blickt in den Aufenthaltsraum und dann auf die Kerze. Ohne ein Wort zu sagen, streckt er fordernd die Hand nach den Streichhölzern aus. Vielleicht ist es diese Bewegung, die schließlich die letzte Taube von ihrem Geländer aufscheucht. Andächtig sehen Hilde, Herbert und Ramona zu, wie das Tier nach oben flattert. "Ja, unser Mariechen ist tot", spricht Christian sanft. Er leckt seine Gummifinger an. Dann löscht er die Kerze.
 
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Bo-ehd

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Ein bedrückendes Bild, das für jeden einmal Wirklichkeit werden kann. Wenn die paar Tauben das einzige sind, was sich ungehemmt bewegt und ein zwangloses Leben zeigt, ist der Mensch am Ende angekommen.
Gut geschrieben.
Gruß Bo-ehd
 

lietzensee

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Hallo Bo-ehd und DocSchneider,
vielen Dank für eure positiven Kommentare. Es freut mich, dass euch der kurze Text gefallen hat. Vielen Dank auch für die Empfehlung!

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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