Marlenes Welt

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Marlenes Welt

Da lagen wir beide auf dem Teppichboden und entnahmen einem Schuhkarton alte Schwarzweiß-Fotos. Marlene erzählte von ihrer Familie, hielt eines der vergilbten Fotos hoch und erklärte, das wäre ihr Onkel Eduard gewesen. Er war Matrose auf irgendeinem Dampfer, der Früchte und Gemüse aus Südostasien nach Europa transportiert hätte.

Es folgten eine dicke Tante, dann lachende Kinder eines Bruders von ihr, dann eine Oma, so ging das schon eine ganze Weile, immer neue Bilder, die mir nichts sagten, aber ich hielt durch.

Ich hatte mich bereit erklärt, bei ihr zu bleiben, zumindest bis zum Abend. Schmitz, mein Freund, hatte Nachtschicht, er arbeitete, wie ich auch, bei der Zeitung. Ausnahmsweise hatte ich in dieser Woche keine Nachtschicht und so bat mich Schmitz, den ich so nannte, weil sein Vorname im Freundeskreis schon drei Mal vergeben war, doch noch bei seiner Frau zu bleiben, damit ihr nicht langweilig wird, wie er meinte. Ich war etwas irritiert, willigte dann aber ein. Dann verließ er das Haus.

Als die Flasche Wein dem Ende zuging und die Dämmerung hereingebrochen war, wollte ich mich von ihr Marlene verabschieden. Doch sie bat mich inständig noch zu bleiben. „Du, das geht nicht, ist doch bitte klar, ich hau jetzt ab.“ „Bitte bleib doch noch, Du kannst hier schlafen, Schmitz hat nichts dagegen, glaub mir.“ Ich lachte. „Das glaubst Du bitte nicht im Ernst.“ Sie schmollte.

*

Wenn man Marlene ansah, musste man sich eingestehen, sie war eine klasse Frau, klein, schwarzhaarig, eine tolle Figur, mit einem Hintern versehen, der sich wirklich sehen lassen konnte. Die geraden Beine mit den schlanken Fesseln, die ein Kettchen zierte, ihre ausgeprägten Waden, die an eine Sportlerin erinnerten. Augen, die strahlten und von denen immer etwas Dunkles, geheimnisvolles ausging. Sie war sehr intelligent, sie sprach fünf Sprachen, unterrichtete Studenten, aber auch Leute aus der Wirtschaft.

Außerdem hatte sie von ihrem Vater ein Antiquitätengeschäft geerbt. Schmitz hatte mal erzählt, dass sie zweihunderttausend Mark im Jahr verdiene. In ihrem Haus lagen die Teppiche zum Teil dreilagig übereinander. „Teppiche müssen begangen werden“, hatte sie gesagt. Die Bilder an den Wänden habe sie, zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil, nur wegen der Rahmen gekauft, die seien ihr wichtiger gewesen.

Ich kannte die beiden schon seit zwei Jahren, wir hatten schon ein paar Mal zusammen gefeiert oder waren gemeinsam auf Partys eingeladen. Dort umschwärmte man sie. Sie genoss es, im Mittelpunkt zu stehen. Diese, für mich unverhohlene Nähe, mit der man sie zu vereinnahmen wusste, störte mich immer ein bisschen, aber das ging mich ja nichts an. Marlene fühlte sich wohl, so umworben zu werden, den Mädels auf den Festen gefiel das eher weniger.

Auf den Künstlersymposien war sie ganz „Grand Dame“ in ihrem kleinen Schwarzen. Wir standen wie Komparsen dabei und hielten uns an unseren Sektgläsern fest, während sie, in fließendem Wechsel, Französisch, Englisch oder Spanisch parlierte.

Nie hatte sie uns ihre Überlegenheit spüren lassen. Dagegen war unsere Welt, die von Schmitz und mir, eine vergleichbar überschaubare und leicht einzuordnende, eine, ohne tiefgehende Bedeutung. Aber, wie es Männer immer tun, übersteigern wir unsere Erfahrungswelten wie fette Collagen und decken alles andere damit zu.
Wenn sie sich an Schmitz schmiegte, ihn von unten ansah, ging immer etwas kindlich, naives von ihr aus. Schmitz küsste sie.

Mir war bekannt, dass Marlene frei über sexuelle Dinge sprach, das hatte mich schon einige Male verblüfft. Einmal hatte sie mich gefragt, wie es denn mit meiner neuen Freundin stünde, wie lange ich sie kennen würde und ob ich schon mit ihr geschlafen hätte.

Ich schluckte. „Weißt du, ich kenne sie erst seit ein paar Monaten, sie wohnt bei ihren Eltern, so wie ich auch, da hat sich noch nichts so richtig ergeben, außerdem ist sie sehr zurückhaltend in solchen Dingen.“

Marlene prustete vor Lachen und verschüttete den Wein dabei, sie hielt sich die Hand vor dem Mund. „Das gibt es doch nicht, du kennst sie seit Monaten und hast noch nicht mit ihr gevögelt?“ Schmitz saß neben ihr auf der Couch und lächelte in sein Glas. „Pass auf mein Junge, nächste Woche bringst du sie mit und ihr beide übernachtet bei uns, dann ist das auch geklärt.“ Jetzt erst schaffte ich es von meinem Glas aufzuschauen, mir war das alles so peinlich. Ich sagte nichts, nickte nur.

Ein anderes Mal, es war an einem dieser Whiskeyabende gewesen, Marlene war angeheitert, wie wir beiden auch. Sie tanzte, zum Rhythmus der Musik, alleine für sich durch den Korridor, das Glas in der Hand. Plötzlich stand sie am Tisch.

Der lange, nackte Arm, die ausgestreckte Hand, mit den rot lackierten Fingernägeln, wies auf mich. „Höre zu, Freund des Hauses“, sagte sie in melodramatischer Form, trank einen Schluck und lachte dabei in sich hinein.
„Wir werden heute, hier an dieser Stelle eine Wette vereinbaren, eine Wette, hast du verstanden, eine Wette, die es einzuhalten gilt. Ich wette, dass ich es schaffe, dich binnen eines Jahres in mein Bett zu bekommen. Der Verlierer blecht eine Flasche Chivas, ist das akzeptiert?“

Ich war verblüfft, wusste zuerst nicht, was ich sagen sollte, dann fasste ich mich, sah zu Schmitz herüber. Er schaute gleichmütig drein, schien überhaupt nicht empört zu sein. „Marlene, höre zu, du bist sehr attraktiv, wirklich sehr reizvoll und verführerisch, aber Schmitz ist mein Freund, also glaube ich nicht, dass du die Wette gewinnst.“ „Wir werden sehen“, sagte sie, drehte sich dabei langsam im Kreis, im Gesicht dieses siegessichere Lächeln.

*

Ich hatte mich vom Teppichboden erhoben und ging in den Flur, um meine Jacke zu holen. Marlene war ebenfalls aufgestanden. „Bleib, bitte bleib, geh nicht.“ „Marlene, ich muss, ich kann nicht bleiben, verstehe das bitte.“ „Weißt du eigentlich, was ich alles anstelle, um nicht alleine zu bleiben?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich stelle mich nachts an unserer Haustüre unter die Straßenlaterne und spreche fremde Männer an, die auf dem Nachhauseweg sind. Ich bitte sie bei mir zu bleiben, bei mir zu übernachten.“ Mir blieb der Mund offenstehen. „Was machst du, das glaub ich doch nicht.“ Sie schaut nach unten auf ihre Hände, die sie wie im Gebet gefaltet hatte. „Aber ja, manches Mal gelingt es mir.“

Ich stehe da, sehe sie an, ich fasse es nicht. Ich folge ihr wieder zurück ins Zimmer. So ließ ich auch die nächste Stunde verstreichen. Wir spielten Mensch-ärgere-dich-nicht. Sie hatte sich beruhigt. Als ich ihr erneut sagte, dass ich gehen müsse, lächelte sie mich an. „Entschuldige bitte, ich bin ein törichtes Mädchen, mach dir keine Sorgen, ich gehe jetzt zu Bett.“

*

Schmitz betrat die Kneipe in seiner unnachahmlichen Art, mit dem souveränen, fast arroganten Lächeln auf den Lippen und dem leicht wiegenden Gang. Seine Augen streiften dabei alle Leute am Tresen und sortierten sie nach Bekanntheitsgrad.

Die einen bekamen einen Handschlag, die anderen ein kurzes Nicken. Er sah mich am Tisch sitzen, sein Lächeln wurde breiter und er steuerte sofort auf mich zu. „Na, alles klar?“ Mit den Skatkarten in der Hand und meiner Pfeife im Mund nickte ich ihm zu, ohne etwas zu sagen. Ich musste meine Stiche nachrechnen, es würde verdammt knapp werden, aber es gelang mir, ich bekam den Kreuzsolo durch.

Schmitz übersah locker unser Spiel und erzählte allen, die es hören oder nicht hören wollten, die wichtigsten Ereignisse des Tages. Das Spiel verlor an Dynamik. In seiner unikalen Art, mit Charme und Witz, die Leute für das zu interessieren, was ihm tagsüber in seinem Job passiert war, schafft er es letztendlich, dass wir für den Moment die Karten fallen ließen, ohne es zu bedauern, und dabei auf seinen Bericht hörten. Einer der Jungs orderte, mit einer gehobenen Hand, eine neue Runde. „Schmitz, lass uns reden“, sagte ich und schmiss die Karten hin. „Leute, ich setzte aus.“ Einer der Jungs übernahm sofort meinen Platz.

Wir saßen an einem der Nebentische: „Schmitz, damit das klar ist, ich bin gestern nach Hause gegangen, ich bin nicht geblieben.“ Er sah mich an und lächelte. „Ich weiß, mein Junge, Du würdest eine solche Situation niemals ausnutzen, ich kenne Dich.“

„Marlene hat mir gestern Sachen erzählt, ich bin heute noch fassungslos.“ Schmitz schaute mich an, er schien ganz gefasst zu sein. „Ja, ich ahne es, aber was Du noch gar nicht weißt, Marlene lebt in ihrer eigenen Welt. Sie hat mit vielen meiner Freunde und Bekannten gepennt, verstehst Du und sie macht kein Hehl daraus. Sie sammelt sie, wie man Pokale sammelt, beim Sport.“ Ich schaute hinüber zu den Skatspielern und ihren Kibitzen. „Und was ist mit denen?“ Schmitz schaute nicht einmal hoch. „Nein, nicht alle.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Weißt du, sie hat mir einmal unter Lachen gesagt, sie sei wie eine alte barocke Geige, eine Guaneri oder Stradivari, die dürfe man nicht in eine Vitrine stellen für die Nachwelt, auf der muss man spielen, sonst gingen sie kaputt.“ Ich sah ihn an, suchte in seinem Gesicht nach einer Regung, wie Traurigkeit oder Resignation, aber nichts dergleichen. „Sieh mal, Sex wird doch überschätzt, so wichtig ist er nicht. Ob eine Frau mit Dir schläft oder nicht, ist nicht wichtig, wenn sie Dich nicht mehr in ihrem Kopf hat, dann ist es vorbei.“ Ich versuchte das zu verstehen, was mir aber nicht gelang. „Und Du liebst sie trotzdem?“ „Aber natürlich liebe ich sie, was für eine Frage.“

*

Jetzt ist fast ein Jahr vergangen. Schmitz und ich haben zusammen ein Appartement gemietet. Marlene hatte sich vor einigen Wochen von ihm getrennt. Sie hat jetzt einen anderen, einen festen Freund. Ich schüttelte den Kopf, als ich das hörte. Da waren die beiden elf Jahre verlobt gewesen, ein Jahr verheiratet, jetzt getrennt.

Ich hatte die linke Seite der Wohnung genommen, sie war kleiner, aber sie reichte meiner Freundin und mir. Schmitz hatte ja noch die Küche in seinem Teil. Er konnte kochen, ich nicht. Man durfte sich nicht wundern, wenn man nachts zur Toilette wollte. Da ging die Türe auf und ein nackter Mädchenhintern flitzte aus dem Bad über den Korridor und verschwand in Schmitz Wohnbereich.

Manches Mal dachte ich noch an Marlene, sie war aber auch ein heißer Feger. Eines war mir klar, sollte ich sie wiedertreffen, ich schmunzelte bei dem Gedanken, dann würde ich sie an unsere Wette erinnern. Marlene war mir da noch etwas schuldig – so oder so.
 
Zuletzt bearbeitet:

lexor

Mitglied
Hallo Nubes

Sehr interessante Geschichte, die Handlung, die Beschreibungen und auch der Dialog sind sehr speziell, geben einem ein ganz bestimmtes Gefühl. Ich kann mir vorstellen, dass Marlene eben dieses Gefühl in dem Protagonisten ausgelöst hat.

LG
Lexor
 



 
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