Martina

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GerRey

Mitglied
Ich erwachte dadurch, dass mir etwas gegen das Gesicht schlug. Im Raum war es dunkel. Ich hörte das tiefe Atmen eines Menschen neben mir. Auch lag ich nicht auf meiner Bettseite an der Wand, sondern daneben am Fenster, und die Hand, die mich berührt hatte, war eine zarte Hand - eine weibliche Hand. Und dann fiel es mir wieder ein. Ich war am Abend zuvor bei Harry gewesen.
Harry hatte ein mehr berüchtigtes als berühmtes Lokal in der Innenstadt, in das ich zwar nicht mehr so oft kam wie früher, als ich noch am Theater arbeitete. Aber ich kannte Harry, seit er sein Lokal eröffnet hatte. Das war irgendwann in der zweiten Hälfte der Siebziger gewesen. Ich war damals sehr viel in der Innenstadt unterwegs, weil dort viele Lokale leicht zu Fuß erreichbar waren, und passte es einmal irgendwo stimmungsmäßig nicht, erreichte man binnen weniger Minuten das nächste, bis man dorthin gelangte, wo es einem beliebte, die Zeit zu verbringen, die Unterhaltung und die Drinks zu genießen.
Bei Harry war es nicht so sehr die Musik, die zum Verweilen reizte. Daran fand er keinen speziellen Gefallen, und so lief bei ihm, was gerade angesagt war und sich mit der Zeit und Mode laufend änderte. Das Spezielle bei Harry blieb eine Zeitlang, dass es sich um ein altes Gewölbe-Lokal handelte, das weit in die Geschichte der Stadt zurück reichte, mindestens bis zur letzten Türkenbelagerung. Es war mit einem rostroten Schmierputz und allerhand Antiquitäten ausgestattet, die man eher bei einem Trödler oder auf dem Flohmarkt fand. Das machte den Charme aus - das und die Mädchen, meist Studentinnen, die diese leicht düstere Atmosphäre genossen. Spiegel in vergoldeten Barockrahmen, Porträts von Schauspieler-Größen aus dem 19. Jh., die sich in ihrer Rolle als Faust von einem Kulissenmaler großformatig verewigen hatten lassen. Oder ein Mohrenkopf, der den oberen Teil einer Thekensäule schulterte.
Nach ein paar Jahren änderte er - wie bei seinem Musikgeschmack - auch die Farbe des Wandverputzes von Rostrot in "Eierschale", was bei uns längeren Stammgästen fast zum Aufstand und zum Boykott geführt hatte. Tom, der an der britischen Botschaft arbeitete, und ich gingen deshalb eine Zeitlang nicht mehr hin. Damals arbeitete ich bereits im Theater, das ein paar Gassen entfernt liegt. Harry bat mich oft, mit einigen Künstlern und Theaterleuten vorbeizuschauen - aber ohne dem rostroten Verputz hatte das Lokal den Charme verloren, sodass sich mittwochs lediglich noch die Freimaurer bei ihm im Extrazimmer trafen.
Harrys Lokal lag abgelegen in einer engen Gasse, auf der man mit dem Auto nur im vorsichtigen Schritttempo zufahren konnte. Trotzdem gab es in dieser Gasse noch drei weitere Lokale. Und so kam es, dass ich eine Premierenfeier für seine Konkurrenz vermittelte, deren Chefin einige Talente vorweisen konnte, die Harry nicht mit sich brachte. Daran wäre unsere Freundschaft fast zerbrochen, bis ich dann mit dem harten Kern dieser Premierenfeier bei ihm aufkreuzte und wir die Sperrstunde inoffiziell bis sieben Uhr morgens ausdehnten, wobei einer der bekanntesten inländischen Popsänger mit von der Partie war.
Aber diese Zeiten lagen Mitte der Neunziger, und vor ungefähr zwanzig Jahren hörte ich damit auf, mich an Wochenenden nachts herumzutreiben. Und seither kam ich - wie gestern - nur mehr sporadisch zu Harry auf ein paar Drinks. "Die Eierschale", die Musik und das Publikum hatten sich seither immer wieder erneuert. Die Hütte war gesteckt voll; Harry, der sich freute, mich zu sehen, hatte wenig Zeit zum Reden, weil er seine beiden Kellnerinnen unterstützen musste. So fand ich nur ein kleines Plätzchen an der Theke, wo ich gerade mal mein Bierglas abstellen konnte. Ich blickte mich um; die Leute waren mit sich selbst beschäftigt. Jeder schien hinter einer Mauer zu sitzen. Man ging scheinbar nicht mehr aus, um jemanden kennenzulernen. Irgendwie fühlte ich mich in dieser abweisenden Kälte deplatziert, sodass ich beschloss, auszutrinken, auf die Toilette zu gehen und danach abzuhauen … mir etwas Ruhigeres, Angenehmeres zu suchen.
Auf dem Weg zur Toilette kam ich an dem Tisch vorbei, an dessen Wand das lebensgroße Theater-Porträt nach wie vor hing. (Wer wollte sich sonst schon, einen so alten Schinken an die Wand hängen?)
Da saß eine junge Frau mit einem Mann und schien sich zu langweilen, was ich daran zu erkennen glaubte, dass ihre Augen immer wieder suchend abschweiften. Im Näherkommen zwinkerte ich ihr zu, als sich unsere Blicke kreuzten. Da war es in ihren Gesichtszügen, als sei ihr plötzlich eine Idee gekommen. Sie streckte ihren Arm aus und zeigte auf mich.
"Der gefällt mir, mit dem möchte ich noch etwas trinken", rief sie. Ihr Begleiter drehte sich nach mir um und stand auf. Nicht schon wieder “Rock 'n' Roll”, dachte ich - aber er war überraschend freundlich.
"Hallo, ich bin der Patrick. Kannst du zu uns an den Tisch kommen? Meine Nachbarin möchte gerne etwas mit dir trinken."
Da ich mich schon auf Handgreiflichkeiten gefasst gemacht hatte, sagte ich stattdessen gerne zu. “Aber erst nach der Toilette …”
Patrick gab mir den Weg frei und versprach, mir inzwischen ein Bier zu bestellen. Als ich dann an den Tisch trat und mich mit den Beiden bekannt machte, sah ich sofort das Leuchten in den Augen der etwa dreißigjährigen, dunkelhaarigen Frau, als sie mich anblickte. Sie hieß Martina. Ich setzte mich zu den Beiden und bekam mein Bier. Schon bald trachtete Martina danach, Patrick loszuwerden.
"Eine Runde, hast du gesagt", meinte Patrick nach einer Weile. "Ich muss morgen früh raus …"
"Dann geh doch", antwortete Martina. "Ich komme auch alleine nach Hause."
Ehrlich gesagt, war ich einigermaßen verblüfft, dass er so schnell von dem Knochen, an dem er die ganze Zeit genagt haben musste, abließ. Er stand auf, verabschiedete sich - und dann war ich plötzlich mit Martina alleine. Sie sei seit einem halben Jahr geschieden und habe einen fünfjährigen Sohn, den ihre Schwester zu sich genommen habe, damit sie diesen Abend mit Patrick ausgehen konnte. Aber der Gute habe sich alsbald als Langweiler entpuppt. Beleidigt hatte er dann gemeint, dass sie sich doch einen anderen suchen sollte. Und nun wäre ich hier.
"Wer sagt dir, dass ich kein Langweiler bin?"
Sie sah mich an, und wieder kam dieses Leuchten in ihre Augen.
"Bisher habe ich noch nichts davon gemerkt."
Ich erzählte ihr, dass ich schreibe, kleine Geschichten, aber auch Briefe - hauptsächlich an Frauen.
"Warum nur an Frauen?"
"Weil es interessanter ist. Ich möchte mich nicht nur über Fußball, Autos oder … unterhalten. Früher, als ich noch Brieffreundinnen über eine Annoncen-Zeitung fand, war das mitunter auch recht geheimnisvoll."
Martinas Neugier war geweckt. Ich erzählte ihr, dass ich einmal mit einer jungen Frau einen Briefwechsel hatte, die mit einem älteren Mann verheiratet war, der sie zu Hause einsperrte, weil er eifersüchtig war. Dabei hätte sie ihm nie Grund dafür gegeben. Nun wollte sie mit mir eine Beziehung auf dem Papier führen, wie sie es sich vorstellte - falls ich damit einverstanden sei.
"Ich musste sie über ihr Postfach anschreiben, das sie sich zu diesem Zweck genommen hatte", sagte ich. Martina wollte wissen, wie es weiterging, was die junge Frau von mir wollte. Wir bestellten noch eine Runde, zwischendurch kam Harry vorbei, schüttelte verwundert den Kopf und mahnte:
"Ganz wie früher!"
Ich grinste zurück.
"Wie hieß denn die Frau - erzähle weiter!", meinte Martina.
"Die Frau hieß Martina", sagte ich.
Da boxte sie mir gegen den Arm.
"Lügner!"
Ich tat wehleidig und meinte, mir den schmerzenden Arm knetend: "Ich lüge nicht. Sie hieß tatsächlich wie du".
"Und wenn ich jetzt Grete hieße …? Dann hätte die Briefschreiberin auch Grete geheißen - nicht wahr? Kannst es ruhig zugeben!"
Ich lachte.
"Was hat denn die Gretel geschrieben, das dir an ihr so gut gefallen hat?"
Ich lachte wieder und sagte: "Dass sie einen Kirsch-förmigen Hintern hat … echt! Habe ich nie zuvor und nie danach je wieder gelesen oder gehört."
Auch Martina lachte und sagte: "Ob ich da mithalten kann?" Dann stand sie auf, drehte sich mit dem Rücken zu mir und ließ ihre Hüften schwingen. Mit einem Blick über ihre Schulter vergewisserte sie sich, ob ich auch hinsah. Dann drehte sie sich wieder um, setzte sich und sah mich abwartend an.
"Na sag schon!"
Ich tat ernst.
"Toll! Echt spitze. Erst jetzt weiß ich, was man sich unter einem Kirsch-förmigen Hintern vorzustellen hat."
Martina lachte. Dann sah sie mir in die Augen.
"Kann ich sonst noch etwas für dich tun?"

Und das tat sie dann auch. Wir fuhren im Taxi zu mir an den Stadtrand und verbrachten die Nacht gemeinsam. Jetzt lag sie neben mir auf dem Rücken und schnarchte leise. Schade, dass ich sie nicht vor dem Licht des Tages und der Wirklichkeit behalten konnte! Dann taste ich mich vorsichtig an ihre offenen Schenkel heran, um noch einige Momente zärtlich von ihr Abschied zu nehmen, ohne sie zu wecken.
Schon bald würde die Sonne heraufsteigen und ins Schlafzimmerfenster reinschauen, dachte ich, während meine Handfläche das kribbelnde Gefühl ihrer stacheligen Härchen im sanften Drüberstreichen genoss.

Feelings:
Rory Gallagher ‎– Live! In Europe
 

Hagen

Mitglied
Hallo GerRay,
diese, Deine Geschichte habe ich gerne gelesen, wobei Erinnerungen für das Langzeitgedächtnis in mir aufgetaucht sind, wie ein pyroklastischer Strom der Gefühle, denn das Mädel, welches ich unter gleichen Umständen kennenlernte, hieß auch Martina.
Mich würde nun interessieren ob bei Dir mehr draus wurde ...

Nun denn, in diesem Sinne, wir sehen uns in der ScheinBAR!
Zudem lesen wir uns weiterhin!
... und bleib' schön fröhlich, gesund und munter, weiterhin negativ getestet und positiv motiviert sowie stets heiteren Gemütes und guten Willens!
Herzlichst
Yours Hagen
__________________________________
Wenn du das Licht am Ende des Tunnels erkennst und diesem zustrebst,
wirst du, nachdem eine Rückkehr unmöglich ist, erkennen,
dass es sich um das Licht eines sich schnell nährenden D-Zugs handelt!

Merke: In Eisenbahntunnels sind keine Notfallbuchten vorgesehen!
 

GerRey

Mitglied
Hallo Hagen!

Ich hoffe, die Eruptionen in dem Feuerstrom waren nicht zu stark!

Martinas gibt es ScheinBAR wie Sand am Meer. Also ich kenne einige - meist robuste Naturen, mit jeweils besonderen Reizen.

Diese Martina - ja, wenn man sie ergründen könnte! - suchte sicherlich nach einer längerfristigen Beziehung. Das ist die Grundlinie: Papa, Mama, Kind, Auto, Haus .... Aber diese wunderbaren Wesen haben auch feinere Linien - spielerische (umsonst putzen sie sich nicht stundenlang und bleiben vor jeder spiegelnden Fläche stehen, um sich fortwährend zu überprüfen). Und da war es wohl Letztere.

Ich für meinen Teil - typisch Zwilling - suche da auch eher nach Abwechslung. Die Rolle Papa, Mama, Kind ... habe ich hinter mir. Ich habe zwar ihre Telefonnummer, aber solange sie mich nicht anruft ... nicht dass ich eitel wäre. Aber das erspart mir möglicherweise Peinlichkeiten. Ich denke, sie ist Frau genug, um das zu spüren.

Schöne Grüße

GerRey
 



 
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