Mary Celeste

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Fabian Hengge

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Der Wind blies kräftig in die Segel, sodass ihr Schiff, die Dei Gratia, an Fahrt gewann. Das herrliche Wetter erwärmte die kalte Seeluft an diesem 4. Dezember des Jahres 1872 zu einer ertragbaren Temperatur. Captain Morehouse stand an der Reling, mit den Händen auf dem Rücken verschränkt. Sein Blick war aufs weite Meer gerichtet, das im Licht der Sonnenstrahlen funkelte.
„Wir liegen auf Kurs, Captain“, sagte Jasper. Der junge Matrose betätigte das Steuerrad, wenige Meter neben ihm. Das hervoragende Wetter weitete ihre Sicht viele Meilen aus. In der Ferne blitzten die Hügel der Azoren auf, eine Inselkette, die sie nördlich umfuhren. Gerne wäre er dort vor Anker gegangen und durch die dichten Wälder spaziert, aber ihr straffer Zeitplan ließ das leider nicht zu.
„Captain! Captain!“, rief einer seiner Männer, der schnaubend herbei gerannt kam. Morehouse beäugte ihn verdutzt und zupfte dabei wie üblich an seinem Vollbart.
„Ein Schiff, es hält direkt auf uns zu“, sprach der Matrose, nachdem er tief Luft geholt hatte.
„Ein Schiff? Konntet ihr den Namen erkennen?“, fragte Morehouse.
„Jawohl, es ist die Mary Celeste.“

Eine Stunde lang beobachtete die Mannschaft das Schiff aus der Ferne. Es machte den Eindruck, es würde nur umher treiben, gelenkt durch Wind und Wellen. Die Segel waren zwar gesetzt, aber die Flagge war nicht gehisst. Bei Kontaktversuche über den Telegrafen erhielten sie keine Antwort und auf dem Deck wurde während ihrer Beobachtungen niemand gesichtet.
„Untypisch für Briggs“, dachte Morehouse. Er kannte den engagierten Captain dieses Schiffes aus ihrer Zeit als Matrosen. Vor seiner Abreise waren sie sich in einer Schenke begegnet. Briggs hatte New York mit der Mary Celeste eine Woche vorher verlassen und hätte längst Portugal erreichen müssen. Wieso also schwimmt es hier scheinbar führerlos auf dem Atlantischen Ozean umher?
Es verging eine weitere Stunde, in der nichts passierte. Morehouse fasste einen Entschluss und schickte ein Teil seiner Mannschaft, unter der Leitung des 1. Offiziers, zum Schiff. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Crew zurückkehrte.
„Ein total nasses Durcheinander!“, waren die ersten Worte des 1. Offiziers, nachdem Morehouse eine ausführliche Schilderung verlangte. Die Decks waren bis hinunter in die Bilge durchnässt, selbst in Briggs Kajüte im hintersten Teil des Schiffes. Ihre Vermutung stellte sich als richtig heraus. Keiner der achtköpfigen Mannschaft oder die beiden Passagiere, die Ehefrau des Captains und ihre zweijährige Tochter, waren aufzufinden. Den Männern fiel auf, dass verschiedene Luken und Türen weit offen standen. Die Schiffsuhr funktionierte nicht mehr und der Kompass schien gewaltsam zerstört.
„Piraten, kein Zweifel“, rief Jasper und stampfte mit seinen Stiefeln verärgert auf.
„Ihr sagtet, die Ladung war intakt?“, fragte Morehouse die Matrosen. Einer davon nickte.
„Wieso sollten Piraten ein Schiff kapern, die Mannschaft entführen, aber das Ethanol im Wert von Tausenden von Dollar zurücklassen? Nein, das waren keine Piraten!“, murmelte der Captain zwischen seinem Vollbart hervor und zupfte nachdenklich daran, während er zum gegenüberliegenden Schiff sah.
Des Weiteren teilten sie ihm mit, dass in der Kombüse Chaos herrschte und der Ofen von seinem Platz gerissen war.
„Was ist mit den Vorräten? Waren sie gezwungen an Land zu gehen, um Proviant zu beschaffen?“, fragte Morehouse ernst und drängte seine Matrosen ihm davon zu berichten. Fehlanzeige, wie sich herausstellte. Die Nahrungs- und Wasservorräte waren ausreichend für Monate. Sie waren sich ebenfalls einig, dass selbst bei einem Landgang nicht die gesamte Crew von Bord gehen würde. Mit einem Kleinkind schon gar nicht.
Das Logbuch, das einer der Männer mit hinüber gebracht hatte, verschaffte ihnen keine Klarheit. Es waren kaum Einträge vorhanden und der letzte war 10 Tage alt. Ein Streit entbrannte zwischen den Matrosen, als Morehouse nach den Rettungsbooten fragte. Die einen waren sich sicher, dass die Anzahl der Boote stimmte, die anderen waren felsenfest davon überzeugt, dass eines fehlte. Erst ein ordentlicher Schluck Rum besänftigte ihre Gemüter, ehe der Streit zu eskalieren drohte.
„Ein Sturm, vielleicht?“, vermutete Jasper erneut. Der junge Matrose mit dem blonden Haarschopf und Sommersprossen auf der Nase, schien der einzige zu sein, der in seinem jugendlichen Eifer einen klaren Kopf behielt. Hungrig nach Abenteuern auf See war er angespornt, das Rätsel zu lösen.
„Womöglich!“, antwortete Morehouse. Ihm war aufgefallen, dass die Segelführung und dessen Befestigungen darauf hindeuteten, dass ein Manöver ruckartig beendet wurde. Vielleicht während eines Seebebens und dem daraus resultierenden hohen Wellengangs. In seinen Jahren als Captain hatte er einen solchen Vorfall bereits miterlebt. Der Rumpf deutete aber auf keinerlei Schäden hin, die das abrupte Verlassen erklärten.
„Niemand, der bei klarem Verstand ist, verlässt während eines Sturms freiwillig das Schiff,“ wandte Morehouse nach diesem Gedankengang ein.
„Ein wahres Geisterschiff!“, keuchte einer der Matrosen hervor und ließ die restliche Mannschaft erschaudern.

Im Logbuch wurde die Position 38°20′N 17°15′W vermerkt. Die Stelle, an der die Dei Gratia das Geisterschiff entdeckte und darauf hin nach Gibraltar brachte, um dem verschwinden genauer auf den Grund zu gehen. Das Mysterium um die Crew der Mary Celeste beschäftigte Captain Morehouse sein restliches Leben. Wieso war niemand an Bord, obwohl die Segel gesetzt waren? Wieso waren die Decks durchnässt und die Kombüse verwüstet? War die Anzahl der Rettungsboote vollständig oder fehlte tatsächlich eines?
Der Vorfall wurde nie aufgeklärt.

*Basiert auf wahren Begebenheiten*
 
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