Mary und Robert

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MicM

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,

einen Zugang zu deinem Text habe ich (auch?) erst durch diesen (sehr interessanten!) Austausch und deine Erläuterungen bekommen. Ich verstehe deinen Ansatz, extrem verdichten zu wollen. Den Ansatz und die lakonische Sprache finde ich gut.

Aus meiner Sicht muss bei einer solchen (hohen) Zielsetzung aber auch alles 100% stimmig sein, sonst kippt es ins Gegenteil, was hier aus meiner Sicht (leider) passiert ist. Es sind für mich zu viele Aspekte in der Geschichte, die nur schwer nachvollziehbar sind.

Es beginnt mit den eigentümlichen Eigenschaften der Beiden (aus meiner Sicht ist die Frau übrigens eine vom Leben gelangweilte Misanthropin) und ihre Beziehung zueinander - so etwas gibt es bestimmt, aber ist jedenfalls ein "schwieriger" Plot. Dann ist es sehr sonderbar, dass deren gesamtes Leben von der 1. Klasse bis zum Job exakt chronologisch verläuft (dieselbe Grundschule, dieselbe Klasse im Gymnasium, zeitgleicher Studienbeginn etc.). Dieser zeitliche Ablauf wäre noch plausibel, wenn sie alles zusammen planen würden - haben sie aber nicht. Es passiert "zufällig", dass sie in die gleiche Stadt zum Studium gehen.

Beim letzten Punkt finde ich weitere Aspekte wenig nachvollziehbar: der Mann kann sich nichts schöneres vorstellen, als mit der Frau zusammen zu sein; dann sollte er sich doch kümmern, sie fragen, wo sie hin will und ihr (egal wohin) zum Studium hinterherziehen. Hier aber passiert es "zufällig". Das "zufällig" passt auch nicht zur Frau, die doch ihr Leben lang, den Mann ausnutzt - warum spannt sie ihn nicht planmäßig ein, damit er für sie eine Wohnung organisiert, so wie sie es will?

Und warum geht die Frau überhaupt in eine andere Stadt, um dort zu studieren? Studium, andere Stadt - das klingt, als wenn sie irgendwelche Ambitionen im Leben hätte und in der neuen Stadt vielleicht auch etwas erleben möchte. Das passt kaum dazu, dass sie in anderen wichtigen Lebensbereichen völlig wahllos ist.

Bei jedem einzelnen der vorgenannten Punkte kann man sagen: "Kann doch sein!" oder "Ist doch nicht so wichtig!" oder so. In Summe sind es mir aber zu viele Fragezeichen in einem derart kurzen und verdichteten Text. Natürlich können ein paar Fragezeichen, die der Leser sich selbst beantworten muss/kann, einen Text auch spannend machen. Es sollten aber nicht zu viele werden. Wie eingangs gesagt, ohne den Austausch und deine Erläuterungen zum Text hätte er mich ziemlich ratlos zurück gelassen und ich ihn ziemlich schnell wieder vergessen.

Mein Fazit: entweder auf einen Moment (à la Kästner) oder zumindest etwas kürzeren Zeitrahmen beschränken oder eben doch eine längere Geschichte draus machen.

Natürlich ist das mein subjektives Empfinden und soll ein konstruktiver Denkanstoß sein (das muss man derzeit auf LL wohl immer dazu schreiben...). Ich verstehe sehr gut, dass du "experimentieren" wolltest. Viel Spaß dabei weiterhin!

Auf bald,
MicM
 
Hier kämpfen wieder einmal zwei Auffassungen miteinander, die sowohl klassisch wie auch unversöhnlich sind, auf der einen Seite die Partei der "Weglasser", in der Literaturgeschichte Flaubert z.B., und auf der anderen die "Dazutuer", Thomas Wolfe z.B., der sich ausdrücklich zu letzterem Verfahren bekannt hat. Allerdings hat Wolfe nur einen Roman geschaffen, der auch formal rundum geglückt ist ("Schau heimwärts, Engel") und der verdankt seine gelungene Form eben nicht den von Wolfe so gern aufgehäuften Stoffmassen, sondern den Eingriffen seines Lektors in die vom Autor abgelieferte Erstfassung.

Auch mir sind gelegentlich die gleichen Vorwürfe wie jetzt Delfine gemacht worden. Ja, auch ich bin ein Weglasser und gebe zu bedenken, dass Literatur als Kunst Formung von Material bedeutet, gerade auch im Sinne von Auswahl, Beschneidung. Es gibt doch sogar den Fachbegriff der epischen Verkürzung.

Arno Abendschön
 

Silbenstaub

Mitglied
Ich denke auch, dass hier sehr verschiedene Literaturauffassungen und Präferenzen zusammentreffen, wobei ich dazu tendiere, die Pluralität zu akzeptieren.
Zur Verdeutlichung meines Standpunkts will ich kurz ganz konkret skizzieren, wie ich an das Thema herangehen würde:
Ausgangspunkt Hochzeitstag, alle Gäste sind gegangen, Atmosphäre aufbauen, innerer Monolog eines der Protagonisten, dann Dialog der beiden.
Das Ganze in einer sehr reduzierten Sprache.
Also keine Chronologie, keine Vogelflugperspektive, sondern ein Heranzoomen, nichts „dazutun“, sondern verdichten in anderer Weise.
Außerdem möchte ich auf Delfines Kurzprosa „Vielleicht für immer“ hinweisen (ich hoffe, das ist okay so), da geht es um ein ähnliches Thema, die hat m.E. eine andere Qualität.
Gruß in die Runde
Silbenstaub
 
Wow - soviele Antworten bei einem so kurzen Text! Schon alleine das verbuche ich mal als Erfolg :)

Als ich den Text einstellte, war ich übrigens ziemlich überzeugt, dass er beim Leselupe-Publikum durchfallen würde und die erste (schlechte) Bewertung schien das zu bestätigen.

Und jetzt hat sich eine Superdiskussion entwickelt, für die ich allen daran Beteiligten herzlich danken möchte.

Nun zu einigen Anmerkungen:

Hallo MicM,

l
Hallo SilberneDelfine,

einen Zugang zu deinem Text habe ich (auch?) erst durch diesen (sehr interessanten!) Austausch und deine Erläuterungen bekommen. Ich verstehe deinen Ansatz, extrem verdichten zu wollen. Den Ansatz und die lakonische Sprache finde ich gut.

Aus meiner Sicht muss bei einer solchen (hohen) Zielsetzung aber auch alles 100% stimmig sein, sonst kippt es ins Gegenteil, was hier aus meiner Sicht (leider) passiert ist. Es sind für mich zu viele Aspekte in der Geschichte, die nur schwer nachvollziehbar sind.

Es beginnt mit den eigentümlichen Eigenschaften der Beiden (aus meiner Sicht ist die Frau übrigens eine vom Leben gelangweilte Misanthropin) und ihre Beziehung zueinander - so etwas gibt es bestimmt, aber ist jedenfalls ein "schwieriger" Plot. Dann ist es sehr sonderbar, dass deren gesamtes Leben von der 1. Klasse bis zum Job exakt chronologisch verläuft (dieselbe Grundschule, dieselbe Klasse im Gymnasium, zeitgleicher Studienbeginn etc.). Dieser zeitliche Ablauf wäre noch plausibel, wenn sie alles zusammen planen würden - haben sie aber nicht. Es passiert "zufällig", dass sie in die gleiche Stadt zum Studium gehen.

Beim letzten Punkt finde ich weitere Aspekte wenig nachvollziehbar: der Mann kann sich nichts schöneres vorstellen, als mit der Frau zusammen zu sein; dann sollte er sich doch kümmern, sie fragen, wo sie hin will und ihr (egal wohin) zum Studium hinterherziehen. Hier aber passiert es "zufällig". Das "zufällig" passt auch nicht zur Frau, die doch ihr Leben lang, den Mann ausnutzt - warum spannt sie ihn nicht planmäßig ein, damit er für sie eine Wohnung organisiert, so wie sie es will?

Und warum geht die Frau überhaupt in eine andere Stadt, um dort zu studieren? Studium, andere Stadt - das klingt, als wenn sie irgendwelche Ambitionen im Leben hätte und in der neuen Stadt vielleicht auch etwas erleben möchte. Das passt kaum dazu, dass sie in anderen wichtigen Lebensbereichen völlig wahllos ist.

Bei jedem einzelnen der vorgenannten Punkte kann man sagen: "Kann doch sein!" oder "Ist doch nicht so wichtig!" oder so. In Summe sind es mir aber zu viele Fragezeichen in einem derart kurzen und verdichteten Text. Natürlich können ein paar Fragezeichen, die der Leser sich selbst beantworten muss/kann, einen Text auch spannend machen. Es sollten aber nicht zu viele werden. Wie eingangs gesagt, ohne den Austausch und deine Erläuterungen zum Text hätte er mich ziemlich ratlos zurück gelassen und ich ihn ziemlich schnell wieder vergessen.

Mein Fazit: entweder auf einen Moment (à la Kästner) oder zumindest etwas kürzeren Zeitrahmen beschränken oder eben doch eine längere Geschichte draus machen.

Natürlich ist das mein subjektives Empfinden und soll ein konstruktiver Denkanstoß sein (das muss man derzeit auf LL wohl immer dazu schreiben...). Ich verstehe sehr gut, dass du "experimentieren" wolltest. Viel Spaß dabei weiterhin!

Auf bald,
Es ist doch toll, dass man sich aufgrund der Kürze der Geschichte soviele Gedanken über die Protagonisten machen kann. Hätte ich den Lesern alles vorgekaut, könnte man das nicht. Man kann natürlich sagen, das ist Geschmackssache. Ich weiß aber, dass ich nicht mehr so schreiben werde wie du (und auch Silbenstaub) es vorschlagen: mit langen Erklärungen und Hintergründen. Habe ich früher gemacht und da wurde es teilweise auch falsch gefunden *schmunzel*das ist aber nicht der Grund, sondern weil es mir so, wie ich jetzt schreibe, mehr Spaß macht. Selbstverständlich muss das nicht jedem gefallen, damit muss ein Autor leben.
Unter Kurzprosa wollte ich eben keine lange Geschichte einstellen.... Ich lese zurzeit das Buch "Short Shortstorys schreiben" von Roberta Allen. Dort werden verschiedene Formen der Kürzestgeschichte vorgestellt, unter anderem auch die Form, in der die Zeit verdichtet ist, was ich hier ausprobiert habe.

Ich habe übrigens das Gefühl, du und auch Silbenstaub wollt eine völlig andere Geschichte haben. Damit kann ich nicht dienen, denn so wie ihr es anregt, will ich nicht mehr schreiben. Ich bin froh, dass ich dabei bin, mich davon frei zu machen, dem Leser Erklärungen liefern zu müssen.

Zitat:
"Der Mann kann sich nichts Schöneres vorstellen, als mit der Frau zusammen zu sein - dann sollte er sich doch kümmern, sie fragen, wo sie hin will" - Nun, im wahren Leben würde man das vielleicht so machen, aber Geschichten müssen nicht das wahre Leben abbilden.

Übrigens habe ich gar nicht geschrieben, dass die Frau zum Studieren in eine andere Stadt geht, sondern dass Mary und Robert rein zufällig in derselben Stadt zu studieren anfangen... :)

Zitat:
"Das "zufällig" passt auch nicht zur Frau, die doch ihr Leben lang, den Mann ausnutzt - warum spannt sie ihn nicht planmäßig ein, damit er für sie eine Wohnung organisiert, so wie sie es will?"

Vielleicht, weil sie zu faul dafür ist...
Vielleicht, weil sie sich lieber treiben lässt als die Initiative zu ergreifen....


Hallo Silbenstaub,

natürlich ist es okay, wenn du auf einen anderen Text von mir verweist, das freut mich doch :).

LG SilberneDelfine
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
es geht mir nicht um das Vorkauen und Erklären, letztlich ist es dieses Show don´t tell-Ding.
Aber, den eigenen Weg gehen, die eigene Sprache finden, ja, ganz genau, das ist das Entscheidende.
Beitrag zum Frauentag, viele Grüße Silbenstaub
 
Hallo Silbenstaub,

letztlich ist es dieses Show don´t tell-Ding.
Genau das kann man in einer Kürzestgeschichte nicht. Dafür ist kein Platz, deswegen muss man eben manchmal aufs Beschreiben zurückgreifen.

Zeigen statt Beschreiben ist etwas für längere Geschichten.

Viele Grüße zurück zum Frauentag :)

LG SilberneDelfine
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo SilberneDelfine,
zwei Anmerkungen noch:
Ich hatte mich oben 'vertippt' , ich meinte deine Kurzprosa 'Am Ufer' .
Und der gondoliere hatte mal bei den Fingerübungen einen Thread eröffnet 'Die Minisaga' - Kürzestprosa mit 50 Wörtern.
Viele Grüße
Silbenstaub
 
Habe den Text nochmals sorgfältig gelesen und auch die Diskussion überflogen. Ich gestehe freimütig, dass ich meinen ersten Eindruck revidieren muss.

Was bei der ersten Lektüre eine gewisse Art von Genervtsein oder das ärgerliche Gefühl erzeugte, gewissermaßen dem Text auf den Leim gegangen zu sein, das sehe ich nunmehr durchaus als eine besondere Qualität des Textes an.

Doch, dieses beiden sind lebendig und nicht bloß ein literarisches Demonstrationsobjekt (das in einer Schreibschule besser aufgehoben wäre) einer pathologischen Partnerschaft fürs Psychologielehrbuch.
 



 
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