Masken

lietzensee

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Der Zug fuhr pünktlich ab. "Wir wünschen eine angenehme Fahrt", knackte der Lautsprecher und Karel lehnte sich zurück. Vor ihm auf dem kleinen Tisch lag seine Fahrkarte bereit. Daneben warteten ein Reisebrot und ein Becher Schokoladenpudding als Nachtisch. Alle anderen Plätze im Abteil waren leer. Noch hatte Karel keinen Hunger. Er streckte die Beine und sah aus dem Fenster.
Der Zug nahm Fahrt auf. Gartenhäuser und Strommasten neben dem Gleis begannen zu verschwimmen und Karel überlegte, dass er dafür mal den Begriff "Panoramatisierung der Landschaft" gelesen hatte. Die Geschwindigkeit verwischte, was nah vor dem Fenster war und ließ nur das Panorama in der Ferne erkennbar. So wurde die Welt vor dem Zugfenster geleert. Karel zupfte eine Fussel von seinem Hemd und sah sich im Abteil um.
Ein Mann riss die Tür auf. "Kann ich mich setzen?", rief er, wartete aber keine Antwort ab und setzte sich gleich auf den Platz, der Karel direkt gegenüber lag. Sie schwiegen. Vor dem Fenster rauschte die Landschaft vorbei. Karel musste seine Gefühle sortieren. Es störte ihn, wie raumgreifend der Mann seine Tasche vor den Tisch gestellt hatte. Es störte ihn, dass der Mann nicht gegrüßt hatte. Vor allem aber störte ihn, dass der Mann eine Maske trug. Keine Mund-Nasen-Maske aus der letzten Pandemie, nein, er trug eine richtige Maske, die das ganze Gesicht bedeckte und nur Schlitze für Augen und Mund frei ließ. Sie war aus billiger, weißer Plastik. Eine Weile wusste Karel nicht, was er sagen sollte.
"Ist etwas?", fragte der Mann.
"Sie haben eine Maske auf."
"Ja, das stimmt", der Mann nickte, was sein maskiertes Gesicht noch befremdlicher machte.
Dann sahen sie sich wieder schweigend an. Karel wurde unruhig. Der Mann trug eine Maske. Er konnte ungestört beobachten, während Karel auf Plastik starren musste. So eine Maske verbarg die Mimik, die Bewegung all der kleinen Gesichtsmuskeln die Gefühle öffentlich machten. Sie panoramatisierte ein Gesicht. Vor allem aber versteckte die Maske den Blick der Augen. Worauf man blickte, darauf hatte man es abgesehen. Eine Maske verbarg also die Ziele ihres Trägers. Es war schwer, auf die Maske aus weißer Plastik zu blicken. Karel fühlte sich unangenehm von ihr beobachtet. Er blickte aus dem Fenster. Doch dort sah er nur leere Landschaft und eine Spiegelung der Maske im Fensterglas. Auf den Abteilboden zu blicken, wäre eine Unterwerfung gewesen. Danach hätte er sich wohl kaum mehr getraut, den Blick wieder zu heben. Wenn er doch eins dieser kleinen Elektronik-Dinger gehabt hätte, auf denen die jungen Leute ihren Blick ausruhten.
"Sie sehen unwohl aus", sagte der Fremde und demonstrierte so, dass er Karels Gefühle von dessen nackten Gesicht lesen konnte.
"Es ist die Maske."
"Ich könnte die Maske abnehmen."
"Ja, bitte."
"Aber wollen sie das wirklich?"
Mit dieser Frage hatte Karel nicht gerechnet. Warum sollte er nicht wollen, dass der andere die Maske abnimmt? Lauerte eine Entstellung darunter? Ein bekanntes Gesicht? Es war dies ein weiterer Überlegenheitsbeweis des Maskenträgers. Karel konnte nicht wissen, was sich hinter der Maske verbarg. Er wurde unsicher.
"Vielleicht sollte ich die Maske abnehmen."
Nun klang es wie eine Drohung. So, als täte der Fremde Karel einen Gefallen, solange er die Maske trug. Karel schüttelte den Kopf.
"Nein, wirklich, ich sollte die Maske abnehmen!" Der Fremde beugte sich vor. Die weiße Plastik glotzte. Er legte die Finger an den ungeglätteten Rand und begann zu ziehen, dass die Trageriemchen sich spannten.
"Bitte Nein!", winselte Karel und blickte zu Boden. Lässig ließ der Mann seine Hände sinken. Karel war besiegt. Der Boden des Abteils sah schmutzig aus und erst nach vielen Atemzügen wagte er es, die Augen zumindest bis auf den Tisch zu heben. Wenn er wenigstens eine Sonnenbrille gehabt hätte. Eine Sonnenbrille im Zug zu tragen, wäre natürlich unhöflich gewesen. Aber den Vertrag der gesellschaftlichen Konventionen hatte sein Gegenüber unmissverständlich aufgekündigt. Ob der Fremde ihn noch anstarrte? Er brauchte gar nicht zu starren. Die Maske starrte für ihn.
Während er auf den Tisch blickte, kam ihm der lächerliche Einfall, aus seinem Reisebrot eine Maske zu fertigen. Durch die Zwiebelringe könnte er hindurchblicken. Aber die dünne Butter würde das Brot nie auf seinem Gesicht halten. Eine Maske die abfiel, wäre noch peinlicher als gar keine Maske. Er wollte sich die Augen zuhalten, aber Karel war ja kein kleines Kind.
Als er die Lösung schließlich fand, war sie sehr einfach. Karel zog entschlossen einen Löffel aus seiner Tasche. Würde es halten? Etwas Schokoladenpudding tropfte auf sein weißes Hemd. Doch war die Masse dick und klebrig genug, dass das Meiste an seinem Gesicht haften blieb. Sorgfältig schmierte er den Inhalt des Bechers über Mund, Wangen, Nase und Stirn. Er verwischte seine Züge. Zum Schluss zog er zwei Augenschlitze in die dicke Schicht und blickte triumphierend auf den Fremden. Der sah jetzt nur Pudding. Maske gegen Maske. Es herrschte Waffengleichheit und stumm einander messend, fuhren sie Zug.
Da riss jemand die Tür auf und rief: "Die Fahrkarten bitte!" Karel und der Fremde sahen auf. Es war ein Genuss. Ungeniert konnten sie den Schrecken im Gesicht des Schaffners betrachten. Er aber sah nur Masken.
 



 
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