Maskerade

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Maribu

Mitglied
Maskerade

"Ich habe Ihnen was Besonderes mitgebracht", sagte Frau Aslan und drückte es Herrn Heitmann in die Hand.
"Eine Maske?" Er lachte. "Was soll ich denn damit, wo ich jetzt so selten rausgehe?! Und anstecken kann man
sich selbst ja nicht!"
"Wer weiß das schon? Die sogenannten Experten behaupten einmal das und einmal dies! Und ein Kollege
sagt am nächsten Tag genau das Gegenteil! Deshalb kann man nicht vorsichtig genug sein!
Sie lüftten doch die Wohnung. Vielleicht kommt das Virus durchs Fenster geflogen?"
Herr Heitmann schmunzelte und legte die Maske auf den Tisch. "Das Fernsehen hat ja schon viele selbstgebastelte
gezeigt. Weiße, schwarze, grell-bunte und sogar furchterregende Zombie-Masken. Aber ihre mit den sorgfältig
vernähten schwarz-rot-gold-Streifen, unsere Deutschlandflagge, ist originell!"
Frau Aslan lächelte. "Das Lob werde ich gleich an meinen Mann weitergeben. Es war seine Idee."
"Grüßen Sie ihn von mir, aber nehmen Sie sie bitte wieder mit für jemanden, der sie wirklich benötigt!
Ich bin mit meinen neunundachtzig Jahren schon weit über das Verfalldatum!" Er machte eine Pause.
"Nein, das nehme ich zurück, das klingt zynisch! Ich bin ja froh, dass es mir noch so gut geht und ich
die Statistik ein wenig beeinflussen kann! - Aber bevor ich auf andere angewiesen sein muss, möchte ich,
dass es vorbei ist. Und dann ist es mir egal, ob mich ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall oder dieses seltsame
Virus dahinrafft!"
Frau Aslan schmunzelte, als würde er fortwährend komische Dinge von sich geben.
"In einer Hinsicht bin ich froh," begann er nachdenklich. "Es wäre eine Katastrophe, wenn Regine diese
Zeit , die manche unwirklich wie einen Hollywoodfilm empfinden, miterleben müsste.
Unsere Generation , die im Zweiten Weltkrieg mitleiden musste, nimmt sie vielleicht gelassener hin.
Meine Frau war aber immer wegen ihres
Asthmas so ängstlich, dass sie an einer Bronchitis oder
an einer Lungenentzündung sterben könnte."
"Ja, und dann ist es ganz anders gekommen! Das Schicksal hat anders entschieden."
Sie sah ihn ernst, fast traurig, an.
"Dabei hatte ich ihr geraten, das Fahrrad stehen zu lassen!" Herr Heitmann schaute seine
Nachbarin an, als wolle er damit sagen, alles getan zu haben, um keine Schuldzuweisung
von ihr zu bekommen.
"Aber Sie hatten keinen Grund!" widersprach sie. "Im Gegenteil: Irene war fit und ging zweimal
in der Woche mit mir in den Sportverein. Außerdem war die Schuldfrage doch eindeutig!"
"Schuldfrage, Schuldfrage", wiederholte er, plötzlich wütend werdend, "ist die noch wichtig,
wenn ein Mensch unwiederbringlich tot ist?!"
Sie schwieg und er brauchte einen kleinen Moment, um sich zu beruhigen.
"Nach der Beerdigung habe ich mich mit dem Fernfahrer getroffen. Die Verabredung auf
einem Rastplatz ging von ihm aus. Ohne große Begrüßung drückte er mir eine Flasche
tschechisches Bier in die Hand, die er einfach aus seiner Ladung herausnahm und sagte dann:
'Ich habe Ihre Frau beim Rechtsabbiegen nicht gesehen.' Er hielt inne, trank einen Schluck Bier
und betrachtete mich mit seinen braunen, dunkel umränderten Augen.
Mir fehlten die Worte für eine Antwort. Ich drückte die Flasche immer fester, hatte das Gefühl,
dass sie zerplatzen würde, und unterdrückte den Reflex, sie ihm über den Schädel zu schlagen.
Er sah mich an, als könne er Gedanken lesen und sagte leise: 'Es war wirklich so! Ich schwöre es!'
Spontan reichte ich ihm die Hand, schleuderte die Flasche in ein Gebüsch und ging.
Frau Aslan war nicht in der Lage, darauf zu antworten. Sie wollte sowieso gehen, blieb in der
Tür stehen, wischte sich über die Augen und sagte: "Freitag bringe ich Ihnen wieder Kartoffeln mit."
Er hatte das Gefühl, bald zu platzen und öffnete das Wohnzimmerfenster.
Obwohl er nicht mehr so gut hörte, hatte er immer Spaß an den Spielen der Kinder gehabt und
erfreute sich an ihrer Lebendigkeit und ihrem unbekümmerten Lachen.
Die Spielgeräte wirkten jetzt wie Skulpturen. In der Sandkiste "badete" eine Schar Spatzen.
Ihr Schilpen konnte er nicht hören, aber das Geräusch des im Winde flatternden rot-weißen
Plastikbandes. Plötzlich stieg etwas in ihm auf und er schrie: "Scheißvirus! Und dann gab man dir
noch - wie zum Hohn - diesen schönen Mädchennamen Corona!"
Anfang April war es auf der Westseite noch recht kühl. Trotzdem stützte er sich weiter auf die
Ellbogen, schaute hinaus und überlegte, warum er Frau Aslan seine Gefühle preisgegeben hatte.
Er wusste ja auch einiges von ihr. Außerdem kümmerte sie sich uneigennützig um ihn.
Die Spatzen in der Sandkiste waren verschwunden. Eine Krähe war dort am Suchen, unterbrach
es manchmal und fing an zu Krächzen. Er meinte, dass sie dabei immer den Kopf hinunter und
herauf bewegte.
Ihm fiel ein, dass sie vor ein paar Jahren am Heiligabend mit einem Suppentopf herüberkam.
'Die müssen Sie unbedingt probieren!', hatte sie gesagt. 'Wir kennen Weihnachten ja nicht, aber
an unserem Opferfest ist es eine Tradition. Ich habe sie nach einem Rezept meiner Großmutter gekocht.'
Außerdem hatte sie für Irene ein Tafel Schokolade und für ihn ein Marzipanschwein mitgebracht.
Und wie als Entschuldigung gesagt: 'Sie haben ja keine Kinder, die Ihnen etwas schenken können.'
Seine Frau und er waren sehr beschämt. Sie machten sich den ganzen Abend Vorwürfe, warum
sie nicht darauf gekommen waren, ihr auch eine Freude zu machen, obwohl Weihnachten für sie
ja keine Bedeutung hatte.
Als er allein war, bot sie sich an, für ihn Essen zu kochen. Das lehnte er aber ab, da er mit einfachen
Gerichten keine Probleme hatte und auch befürchtete, mit ihrem Mann in Konflikt zu kommen.
Den sah er nur gelegentlich, wenn sie sich im Treppenhaus begegneten. Er war ziemlich wortkarg
und deshalb blieb es bei einem Gruß.
Bis vor zwei Jahren hatten sie einen kleinen Laden, eine Änderungsschneiderei.
Die Tochter hatte einen Landsmann geheiratet und war mit ihm in die Türkei gegangen.
Der Sohn hatte in Freiburg studiert und sich in eine Kommilitonin verliebt. Jetzt freuten sich seine
Eltern auf das kommende Enkelkind.
Obwohl das Mittagessen reichhaltig war, verspürte er Appetit auf Kuchen. Kaffee hatte er noch
im Haus. Seit zwei Wochen stellte der Fahrer seine Bestellung auf der Fußmatte ab, klingelte
und lief die Treppe hinunter. Freitags, kurz vor zwölf, legte er das Geld für fünf Tage in einem
Umschlag vor die Tür. Am Wochenende kochte er selber.
Er hörte seinen Magen knurren und schloss das Fenster. Der kurze Weg zum Bäcker war doch wohl
für ihn erlaubt und auch kein Problem!
Er legte sich die Maske an. Das Gummiband war ein bißchen knapp und spannte hinter den Ohren.
Das Luftholen durch den Papierfilter, durch den gerade die Nase passte, war anstrengend, fast
beklemmend. Er atmete durch den Mund.
Im Schlafzimmer wechselte er die Hose und zog die Daunenjacke über. Am Schrankspiegel schlich
er vorbei, ohne hineinzusehen. Er befüchtete, dass er diesen 'albernen Kram' herunterreißen würde.
Das wollte er Frau Aslan aber nicht antun, wo sie sich wieder soviel Sorgen gemacht hatte.
Als er die Treppe hinunterging, schmunzelte er über das, was ihm gerade eingefallen war.
Wenn er spöttisch angesehen oder belacht werden würde, wollte er antworten:
"Haben Sie denn noch nichts von der Lockerung gehört? Endlich wieder Fußball!
Das abgesagte Spiel findet doch statt! Deutschland gegen Schweden wird am 29. April
aus dem Dortmunder Stadion übertragen."
 

tobys

Mitglied
Szene aus dem Leben. Könnte sich bei einigen Opas so abspielen.
Danke, dass die Nachbarschaft so gut und nationalitätsübergreifend funktioniert.

Die Maske als Ausdruck des Trägers/der Trägerin?
Vielleicht wäre es besser, die letzte Szene tatsächlich stattfinden zu lassen und nicht nur als Überlegung? Er ruft dann dem Nachbarn am gegenüberliegenden Balkon zu?

PS: oben steht "Regine" -> "Irene"?
 
G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
Eine Krähe war dort am Suchen, unterbrach
es manchmal und fing an zu Krächzen. Er meinte, dass sie dabei immer den Kopf hinunter und
herauf bewegte.
Ihm fiel ein, dass sie vor ein paar Jahren am Heiligabend mit einem Suppentopf herüberkam.
'Die müssen Sie unbedingt probieren!', hatte sie gesagt.
Hallo Maribu,
hier würde ich schreiben: Ihm fiel ein, dass Frau Aslan vor ein paar Jahren... (der Krähe, des Artikels wegen).

Die Spatzen in der Sandkiste waren verschwunden. Eine Krähe war dort am Suchen, unterbrach
es manchmal und fing an zu Krächzen.
Kleine Anmerkung: ... und fing an zu krächzen. (also Kleinschreibung)

Jedenfalls eine gern gelesene Erzählung!

LG,
Keram
 

Maribu

Mitglied
Hallo tobys
danke für Deine Aufmerksamkeit!
Dein Tipp mit dem "Balkon" wäre auch eine gute Möglichkeit gewesen.
Sie soll Regine heißen, "Irene" ist vertippt oder ich hatte an eine
andere Frau gedacht?!
Leider kann ich nichts ändern, sehe keinen Hinweis von der Leselupe.
Frohe Ostern ! Maribu
 

Maribu

Mitglied
Hallo Keram,

danke für Deine Bewertung und Aufmerksamkeit!
Wie ich schon unserem Schreibkollegen(in) tobys geschrieben habe,
finde ich keinen Hinweis auf Änderungsmöglichkeiten seitens der leselupe.
Oder habe ich Tomaten auf den Augen?
Frohe Ostertage! (Trotz des Scheißvirus, wie Herr Heitmann sagt)
Maribu
 
G

Gelöschtes Mitglied 19299

Gast
Hallo Maribu,

du kannst deine Geschichte hier aufs nächste Kommentarfeld kopieren und entsprechend verändern.
Frag anschließend den Forenredakteur, ob er die alte Version rausnimmt, mit Link zum aktualisierten Text.
Hat bei mir prima funktioniert.

Dir auch noch frohe Ostertage!
Keram
 



 
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