Master Tom hegt Zweifel

Hans Dotterich

Mitglied
Master Tom hegt Zweifel

Aus dem Heiligen Evangelium von Hans D.

„….ja, Sir, ich habe Ihre Frage verstanden, Sir. Wenn es so ist, dann wäre das ungeheuerlich. Bitte glauben Sie mir, Sir. Ich weiß nichts davon, ich würde es Ihnen sagen. Es ist ganz und gar ausgeschlossen, Sir… Natürlich, das ist ja auch meine tiefste Überzeugung. Ich kann mir nichts Größeres vorstellen, Sir. Seien Sie versichert! Ich stehe mit größtem Eifer und Enthusiasmus zu Ihnen, Sir, daran dürfen Sie nicht zweifeln. Es ist aber un...un...möglich, Sir. Glauben Sie mir! … Ich verstehe, dass Sie mir nicht glauben, Sir. Ich selbst kann es kaum glauben…. Ja, Sir, nein, niemals würde ich das wagen, einen solchen Verrat! Oder Ihren Befehl zu missachten. Nie, niemals...so etwas könnte ich nicht tun, Sir, und ginge es um mein Leben. Selbst wenn ich wollte, Sir…. Bitte, bitte …. Wir befinden uns in einer besonderen Lage, Sir. Ich appelliere an Ihre Geduld und an Ihr Vertrauen. Nie würde ich wagen, Sie zu enttäuschen, Sir…. bitte glauben Sie mir, nie und nimmer würde ich das wagen! Ich schwöre Ihnen, Sir, dass ich unserer Sache in vollster Loyalität diene, ihm und niemand anderem. Unbedingt, uneingeschränkt…, Sir, bitte...“

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Tom schritt in der Vorhalle auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Es war riskant gewesen, bei Tag hierher zu kommen, hier hinein. Der wütenden Meute da draußen zu entkommen war einfach: wenn‘s eng wird, kurz stehenbleiben und die ein oder zwei, die der Meute voran rennen, mit der Schwertspitze niederstechen. Dann bleibt der Rest instinktiv auf Abstand. Wie man das macht, dass wusste ein ehemaliger Prätorianer. Aber was, wenn die kaiserliche Garde ihn hier aufgelauert hätte ? Er wäre ihr unentrinnbar in die Arme gelaufen. Tom schreckte dieser Gedanke nicht, er kannte den Tod.

Er dachte kühl nach, kam aber keinen Schritt weiter, konnte sich keinen Reim machen. Er musste es um jeden Preis wissen. Er blieb stehen und schaute in den Garderobenspiegel. Der Spiegel zitterte. Er zitterte nicht, er vibrierte. Nein, Eruptionen tobten in ihm. Nicht im Glas, nicht im Holz. Doch, auch. Schon, auch im Ebenholz, auch im Kristall, auch im Licht!

Das Licht, wenn man in einen Spiegel schaut, ist es, das man sieht, nicht den Spiegel. Man sieht das Licht. Das Licht bebte! Nein, das ist nicht richtig. Licht ist nur eine Erscheinungsform, die Inkarnation eines Prinzips. Was bebte, war das Prinzip! Ja, das Prinzip, aus dem das Licht gemacht ist, es selbst bebte. Ein Prinzip ist ein Allgemeinsatz. Eine Abstraktion aus Phänomenen, aus vielen verschiedenen Phänomenen. Es sind nicht Phänomene, die beben, nicht hier. Obwohl, sie bebten auch. Aber sie bebten, weil das Prinzip bebte. Das Prinzip bebte, weil der Geist bebte.

Das Prinzip ist eine Ausgeburt des Geistes. Ist es das ? Doch! Wenn ein Geist bebt, dann bebt auch das Prinzip, das er ersinnt. Und dann beben auch alle Phänomene, die das Prinzip repräsentieren. Und dann beben die Gegenstände, ein Spiegel, zum Beispiel.

Worin äußert es sich, wenn der Geist bebt ? In allem, das er schuf? Natürlich. Aber es bebt noch mehr. Es bebt auch das, was jenseits von dem ist, das er tatsächlich geschaffen hat. Auch alles, was er geschaffen haben könnte, auch das bebt, selbst da es nicht existiert. Das Beben jenseits des Geschaffenen, das war es, ja, da lag das Epizentrum. Es lag, ganz eindeutig, in der Negation. In der Negation der Schöpfung. In der Negation dessen, was der Geist geschaffen hat und schaffen wollte.

Es war dunkel geworden. Das Bild im Spiegel war nur noch eine schwarze Silhouette. Unmerklich hatte sich das Gesicht im Spiegel gewandelt, zu einer Maske. Alles Licht war aus der Vorhalle verschwunden. Von drinnen aus der Halle hörte er Getuschel. Eine Stimme klang dumpf durch die fest verrammelte Eingangspforte. Karim, in Rüstung und mit einem schweren Krummsäbel am Gürtel, wachte davor mit verschränkten starken Armen, die Augen nach innen gekehrt, stumm, versteinert.

Es klopfte von innen an die Pforte. Karim nahm einen großen Schlüssel von seinem Gürtel und steckte ihn in das schwere Schloß, dass auf die Tür genietet war. Die Pforte knarrte, der Schlüssel drehte sich. Ein Riegel schob sich zur Seite. Eine kleine Tür, die in der schweren Pforte eingelassen war, öffnete sich einen Spalt weit. Licht schien nach außen. Eine wohlbekannte Silhouette winkte Tom zu.

„Tom, ich wusste, dass Sie kommen würden. Kommen Sie nur herein. Bitte! Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir sind hier unter Freunden. Wie geht es Ihnen ? Ich hoffe, man hat Sie nicht zu sehr belästigt, als ich fort war.“

Tom war sich nicht sicher, ob das, was er hörte, wahr sein konnte. Es schien unmöglich. Gedemütigt, gemartert und gekreuzigt hatte man ihn auf dem Berg vor der Stadt. Tot sei er. Auferstehen wolle er, hat er angekündigt. Gesetzt, es wäre so, was will er dann hier, in diesem dunklen verlassenen Keller ? Wie kam er hier hinein, durch welches Schlupfloch ? War er der, der er zu sein schien ? Wenn jemand tot ist, und wenn er dann wieder lebt, ist es dann noch derselbe Mann ? War er überhaupt jemals der gewesen, der er zu sein behauptete ? Tom trat ein.

„Ich muss für meinen etwas theatralischen Auftritt hier und vergangene Woche um Verzeihung bitten“, sagte das Gesicht, nun keine Silhouette mehr, „Wie bei allen anderen auch muss ich mich bei Ihnen, Tom, entschuldigen. Sie staunen ? Keinesfalls wollte ich Sie mit meiner kleinen Demonstration in Verlegenheit bringen. Sie haben das Menschen Mögliche für unser aller Sicherheit getan, besser als Sie kann das keiner. Aber gerade darum gefiel es mir, das zu tun was ich tat. Sie wissen ja, unsereins hat eine Marotte für wirkungsvolle Effekte und hat den stetigen Drang, das Unbeschreibliche getan sehen zu wollen. Das wussten Sie nicht ? Doch, doch, ich sehe es Ihnen an. Ihr Gesicht müssten Sie jetzt im Spiegel sehen, Tom. Sehr gut, ich wette, Sie haben es extra so hart arrangiert, extra für mich, dass die Szene auch glaubwürdig herüberkommt. Ich bin beeindruckt. Aus Ihnen wird einmal etwas Besonderes, Tom, das weiß ich, ein Heiliger bestimmt. Das Zeug dazu haben Sie, hundertprozent.“

Er nahm Tom sanft am Arm, wies in Richtung des großen Holztisches in der Mitte des Raumes, der hell erleuchtet war. Rundherum kauerten gebückte graue Gestalten auf niedrigen Hockern, im Halbdunkel, die auf den Fußboden starrten. In ihren Gesichtern las Tom nichts mehr von dem, das er dort einst erkannte, als sie alle viele Jahre gemeinsam durch das Land zogen, bald in zerfallenen Bergdörfern hausten, oder sich in brütenden Städten verstecken mussten. Als sie sich auf mancher Flucht durch enge Gassen oder über steile Felsen gegenseitig den Rücken freihielten, aber auch als sie sich in den fruchtbaren Weindörfern am Fluss im Feiern, Trinken und Schlemmen gegenseitig zu übertreffen versuchten. Sie waren ihm nun fremd.

Zwei bequeme Sessel standen in der Mitte des Raumes, direkt am Tisch. Auf dem Tisch standen ein paar Gläser, ein Wasserkrug, einige Flaschen, und Dutzende von brennenden Kerzen. Sein Gastgeber blickte Tom freundlich an. Ab und zu schweifte sein Blick über die kauernde Schar. Tom folgte dem Blick, als wären die Augen des Gesichts seine eigenen. Die beiden nahmen auf den Sesseln Platz. Er lehnte sich zurück, sah Tom tief in die Augen. Tom vermochte kaum, den Blick zu erwidern, aber konnte auch nicht von ihm ablassen. Der gütige Blick, das jungenhafte, helle Gesicht, das freundliche, lebhafte Lächeln. Man musste es mögen, das unversehens auch spöttisch daherkommen konnte. Es übte dieselbe unbestimmte, aber eindringliche Macht aus wie früher. Kurzes Schweigen, eine tiefe Stille legte sich über den Raum.

„Ich bin Ihnen allen eine Erklärung schuldig,“ sagte das junge Gesicht, „Es ist wenige Tage her, dass wir uns verabschiedet haben, meine Freunde. Und doch ist seitdem viel geschehen. Glauben Sie mir, dass auch ich keinen Spaß bei der Sache hatte. Nein, ganz gewiss nicht. Das Geschehene ist eine Notwendigkeit, eine Notwendigkeit von gewaltiger Dimension. Die Uhren wurden neu gestellt. Das Unterste zu Oberst gekehrt. Sie brauchen keine Angst zu haben. Es ist nun vorbei. Erledigt. Die Pflicht ist getan. Auch Sie, meine Herrn, haben Ihre Pflicht erfüllt, ja, um das Vielfache erfüllt. Ich bin stolz auf Sie, auf jeden Einzelnen von Ihnen. Ich bin Ihnen zu höchstem Dank verpflichtet. Es war mir eine Ehre, mit Ihnen zusammen diese einzigartige Pflicht vollbringen zu dürfen. Vergessen Sie das Unerfreuliche, das in den letzten Tagen geschehen ist. Es spielt keine Rolle mehr, es ist bedeutungslos. Sie werden es bald verstehen und in einem ganz anderen Licht sehen. Denken Sie nun auch an sich selbst. Glänzende Aufgaben warten auf Sie. Trinken wir darauf ein Glas, und auf den erfolgreichen Abschluss der Operation!“

Durch eine Seitentür betrat eine kleine schwarze Frau in einem dunklen, dünnen Leinenkittel den Raum. Ihre pechschwarzen Haare hatte sie zu einem langen, feinen Zopf geflochten. Sie trug ein großes Silbertablett auf dem Arm. Auf dem Tablett standen dreizehn Trinkhörner. Die kleine Frau ging zuerst zum Tisch. Der junge Mann und Tom bedienten sich. Die Frau machte die Runde um den Tisch herum, zwischen den Hockern hindurch. Dann stellte sie das Tablett auf dem Tisch ab und verließ den Raum lautlos. Tom fixierte ihren Schritt. Ein Trinkhorn stand noch auf dem Tablett. „Der Doktor kann heute leider nicht bei uns sein.“, sagte der junge Mann, „Ich habe am Morgen sein Lazarett besucht und die vielen Verwundeten. Es ist für ihn im Moment unmöglich zu kommen. Aber auch er ist in Sicherheit, soll ich Ihnen ausrichten. Wir müssen uns um unseren lieben Freund und Kameraden keine Sorgen machen.“

Tom wusste, dass der Doktor tot war. Mausetot. In einem trockenen Brunnen fünfzig Fuß unter Dreck und Geröll begraben. Dass er nicht hier hereinspazieren würde, als kopflose Leiche, dafür hatte er selbst gesorgt. Und es war saubere Arbeit, kühl und präzise getan. Auch er, Tom, liebte es, das Unbeschreibliche getan, kühl und präzise getan zu sehen.

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Auch Tom hatte den Doktor in seinem Versteck besucht, das niemand außer dem Doktor und ihm, Tom, kannte. Das war vor ein paar Tagen, gleich nachdem der junge Mann von der Garde verhaftet worden war. Tom bedauerte, dass er in Getsemani nicht dabei gewesen ist. Das war sein Fehler, ein unverzeihlicher Fehler. Wenn Tom dabei gewesen wäre, es wäre nichts passiert. Man hatte ihn unter einem Vorwand abgeschüttelt und fortgeschickt. Gelinkt! Dort schon ahnte er in seinem Innersten, dass Verschwörer am Werk waren, einer oder mehrere, doch sein Misstrauen schlug nicht sogleich an. Nun blieb ihm nichts mehr übrig zu tun, als ihn oder sie zu stellen. Das war er sich schuldig.

Der Doktor war leicht zu knacken. Er war nicht koscher, das war er nie. Als er und Karim ihn im Versteck aufsuchten, taten sie es mit freundschaftlichem Gehabe, brachten eine Flasche Schnaps mit, scharfen Apfelschnaps aus Galiläa, den auch der Doktor für die beste Medizin hielt. Keinen Anlass zu Misstrauen gab Master Tom. Aber er hatte sofort gespürt, dass der Doktor etwas verschwieg.

„Karim, Du solltest vielleicht doch das Rauchen aufgeben, das geht nämlich arg auf die Lunge, wie der Doktor sagt“, sagte Tom zu seinem Assistenten, als der zwei dicke Wassereimer keuchend die enge Treppe hinunter in die Katakomben zum Verhörfass schleppte und dort hineinschüttete.
„Ja, Master Tom, Sir, das sagt auch meine Frau, ich weiß das, es ist nicht gut“, entgegnete Karim, „aber ich denke mir, Ertrinken geht noch mehr auf die Lunge. Und vom Rauchen kann man wenigstens nicht ertrinken.“
„Aber Karim“, sagte Tom in gespielter Empörung, „wir lassen doch niemanden ertrinken!“

Zwei Stunden später lag der Doktor bewußtlos im halbleeren Fass. Die beiden saßen matt und klitschnass auf den Treppenstufen. Tom hatte dankend eine Zigarette in den Mund genommen, die Karim ihm anbot. Gesichter wie auf einem Holzschnitt von Käthe Kollwitz. Dunkel war‘s in dem Katakomben. Wer während des Verhörs nur in die gleißende Karbidfackel geblickt hatte, die Tom seinem Gesprächspartner nach jedem Tauchbad zur Trocknung der Pupillen offerierte, der würde kaum die Enden der Glimmstengel wahrnehmen können.

Tom hatte den Doktor zur Rede gestellt. Karim hielt den Strick, und Tom notierte jedes Wort des Doktors. Stundenlang.
"Same procedure as everytime, Sir?"
"Same procedure!"
So hatte der Heilige Thomas, Schutzpatron der Zimmerleute und Fassküfer, den vielleicht etwas weniger heiligen Judas, Schutzpatron der Ausgestoßenen, der Huren und Zuhälter, an einem Vormittag gleich fünfzehn Mal getauft. Doktor Judas Iskariot. Ein guter Arzt, gewiss, ein Menschenfreund. Und doch ein schwacher Mensch, ein Verräter. Im Grunde tat er Tom leid, der verstand, dass so eine Sache nie und nimmer auf dem Mist des guten Doktors gewachsen sein konnte, dass dieser bloß ein Spielzeug war, dem man etwas in die Schuhe schieben wollte. Nein, dazu war er nicht der Richtige. Eine klare Sache.

Das Urteil hat Karim mit dem Krummsäbel vollstreckt. Nach Recht und alter Tradition. Nun galt es, sich mit den Mittätern des Doktors zu befassen. Mittäter, die Tom nun im Saal vor sich sah und mit Blicken prüfte. Jeden einzelnen hier im Saal würde er sich vorknöpfen, einen nach dem anderen. In aller Ruhe und mit Sorgfalt.

Tom kniff die Augen zusammen. Es will schon etwas heißen, wenn einer von diesen hier ihn, Master Tom, mit Erfolg zu linken wagte! Tom hatte die Ansage verstanden und den Wettstreit akzeptiert. Er würde Licht in die Sache bringen. Auch mit dem jungen Mann musste er reden. Aber nicht hier, sondern unter vier Augen musste er ihn sprechen. Wer er war, das herausfinden war nun seine Pflicht. Was er war.
 
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aliceg

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Hallo Hans,
hast du hier eine Bibelübertragung in einen Ritterroman versucht??
Kein ganz einfaches Unterfangen, das viel Konzentration beim Lesen herausfordert!
lg aliceg
 

Hans Dotterich

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Danke an euch beide für die Kommentare.

Mit der Formatierung muss ich noch ein wenig arbeiten.
Meine Idee war, das Evangelium mit ein wenig Kolonialstil-Couleur ein wenig aufzuhübschen. Ob Römer, Kreuzzüge, Britisch-Palästina. Es ist doch im Grunde immer das Gleiche.

Grüße

Hans

P.S. Ich bitte um etwas Geduld, auch für meine Tippfehler. Bin z.Z. mit einen geliehenen Laptopf mit US-Tastatur unterwegs.
 
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Hans Dotterich

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Hallo DocSchneider,

Habe den Text jetzt in kürzere, thematisch zusammenpassende Abschnitte unterteilt und denke, er ist nun leichter lesbar.

Danke für die Anregung,

Hans
 



 
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