Mausoleums Leben

An der Wohnung meiner Großmutter Helga gab es keine Besonderheiten im eigentlichen Sinn. Sie war einer jener seelenlosen Neubauten, die von fantasielosen Büromenschen entworfen worden waren, die für den Staat arbeiteten. Eine Sozialwohnung eben. Oma beklagte sich immer über die viel zu großen Fenster, die sich nur so schwer putzen ließen und über den Balkon, auf den die Sonne viel zu heiß schien. Wenn ich heute an jene Wohnung zurück denke glaube ich, dass sie sich in Wirklichkeit über die Einsamkeit beklagte, die sie gefühlt haben musste, seit mein Opa gestorben war und sie deshalb nun allein in der Zweizimmerwohnung lebte, die sie und Opa erst vor ein paar Monaten gemeinsam bezogen hatten. Das Wohnkonzept hatte sie wohl zum Umzug bewegt, da das Haus über einen Fahrstuhl verfügte.

An jenem einer viel zu großen Fenster wartete Oma immer auf mich, wenn ich von der Grundschule nach Hause kam. Meine Eltern wollten nicht, dass ich als Schlüsselkind aufwuchs. Und da Oma nun in unserer Nachbarschaft lebte, bot es sich an, dass ich nach der Schule zu ihr ging. Ich sah sie schon von weitem. Sie war leicht an ihrer bunten Kittelschürze zu erkennen und an den farbenfrohen T-Shirts, die sie darunter trug. Oma war ein sehr praktischer Mensch, der morgens beim Anziehen keine Zeit darauf verwendete, darüber nachzudenken, ob das Oberteil und die Schürze farblich harmonierten.

Als Kind erwiderte ich ihr Fensterwinken mit Freude. Nun, da aus mir ein Jugendlicher geworden war, fand ich es peinlich. Obwohl ich den Schulweg oft allein nach Hause lief wollte ich nicht, dass man mich meiner Großmutter winken sah und so tat ich es nicht mehr. Da sie ein einfaches Gemüt hatte, glaube ich nicht, dass ihr aufgefallen war, dass ich es mit Absicht tat. Vermutlich dachte sie, dass ich zu sehr in meine Gedankenwelt versunken war, um sie zu bemerken. Es war die Zeit, als die Kids auf dem Schulweg Walkman, später Discman, hörten – trotz der Mahnungen der Eltern, die ihren sonst so unkreativen Verstand dazu nutzten, sich die schlimmsten Verkehrsunfälle aufgrund mangelnder Achtsamkeit ihres Nachwuchses ausmalten. Jedoch ist es meines Wissens nach in unserem Dorf zu keiner Zeit deshalb zu einem Unfall gekommen, weil ein junger Mensch auf dem Schulweg die Kelly Family hörte.

In Omas Wohnung roch es immer fraulich, nach dem Essen, das sie gerade zubereitete und nach Kaffee. Oma hegte eine Abscheu gegen Tee, das „Krankheitsgebräu“, wie sie es nannte. Da ich als Kind jedoch keinen Kaffee trinken dürfte, gab es bei ihr immer ausreichend Krankheitsgebräu, vor allem Hagebuttentee. In späteren Jahren wurde dieser meist durch Orangenlimo ersetzt, die Großmutter zwar ungesund fand; der sie jedoch einen deutlich besseren Geschmack attestierte.

Besonders ärgerte sich Oma darüber, wenn jemand Flecken auf ihrem Teppich hinterließ. Folglich ärgerte sie sich oft über sich selbst. Als Kind ging ich davon aus, dass sie einfach etwas schusselig war und deshalb Kaffee aus ihrer Tasse verschüttete. Wenn ich eine ihrer geliebten Agatha Christie Verfilmungen mit ihr im Fernsehen sah, stellte ich mir vor, dass die Flecken auf dem Teppich nicht von Omas Kaffee stammten, sondern Blut waren. Oma wurde zu meiner Miss Marple. In meiner Fantasie war sie es, die den Mörder ermittelte und nicht Margaret Rutherford.

Als Kind verstand ich nicht, wie ihr plötzlich die Salatschüssel aus der Hand fallen konnte, die sie von der Küche zum Wohnzimmertisch transportieren wollte. Heute weiß ich, dass es ihr die Arthrose in den Fingern zunehmend schwerer machte, Dinge zu greifen und festzuhalten. Ich hörte sie einmal den Satz sagen: „Man sollte sterben, wenn man alt und nutzlos geworden ist. Einschläfern sollten sie einen, so wie sie es mit den Tieren tun. Aber der Mensch hat sich bis ans Ende zu quälen“. An manchen Tagen war es in ihr, unabhängig von der Jahreszeit, eben sehr dunkel. Dann nannte sie ihre Wohnung ihren Sarg, in den sie sich eingesperrt fühlte. Viele der Nachbarn und Freunde waren, wie ihr Mann, bereits gestorben und so verfügte sie über weniger Kontakte als früher.

Ihren Humor war ihr aber nicht gänzlich abhandengekommen, sie hatte ihn nur manchmal verlegt, so wie sie ihre Brille verlegte. Eines Tages bekam sie einen Rollator, den sie ihren „Mercedes“ nannte. Jetzt verschüttete sie weder Dinge noch ließ sie sie fallen, da sie den „Mercedes“ als eine Art Tablett verwendete, um Lebensmittel und Getränke von der Küche ins Wohnzimmer zu befördern.

Als Jugendlicher nimmt man die Wirklichkeit anders wahr als Kind, vielleicht erschreckte mich jener „Mercedes“ deshalb jedes Mal so sehr, wenn ich Omas Wohnung betrat. Sie hatte ihn im Wohnzimmer „geparkt“, direkt vor dem großen Fenster, dass sie nun gar nicht mehr putzen konnte, da sie sich den Gang auf die Leiter nicht mehr zutraute. Als Bub war mir meine Großmutter so stark vorgekommen, in ihren Armen, an ihrem Busen, fühlte ich mich geborgen, vor der Welt beschützt. Wenn ich sie nun zur Begrüßung umarmte, spürte ich ihre Knochen, da wo einst die starke Brust gewesen war. Manchmal beobachtete ich sie dabei, wie sie versuchte, ihre Hände unter den Ärmeln ihres Pullovers zu verstecken, damit ich ihre von der Arthrose geschwollenen Finger nicht bemerkte.

Schließlich bekam ich einen Schlüssel zu ihrer Wohnung, da sich die neuen Nachbarn, ein junges Ehepaar mit Nachwuchs, über die geräuschvolle Klingel beschwerten, die angeblich ständig den kleinen Johannes aufweckte (mein Vater hatte die ursprüngliche Klingel durch einen Klingeltonverstärker modernisiert).

Während der Sommerzeit bekam den Auftrag, jeden zweiten Morgen Omas Geranien zu gießen, da sie sich nicht mehr auf den Balkon traute. Die Stufe, die sie dafür überqueren musste, machte ihr Angst. Die fantasielosen Menschen, die Omas Wohnkomplex gestaltet hatten, besaßen wohl nicht einmal genug Vorstellungsvermögen um sich auszumalen, dass die Bewohner ihres Einheitsbreis Individuen waren, die möglicherweise nicht nur einen Aufzug benötigten, sondern auch ein Wohnen ohne Stolperfallen. An jenem Mittwoch fand ich Oma dann schnurstracks auf dem Balkon liegen, unter ihr das grüne Etwas, das einen Kunstrasen darstellen sollte, die kleine rote Gießkanne lag ca. zwei Meter neben ihr. Oma sagte immer, dass man Blumen nicht in der Mittagshitze gießen dürfe. Vermutlich hatte sie deshalb die Geranien selbst bewässern wollen, statt auf den Enkel zu warten, der keine Lust hatte, in den Ferien so früh aufzustehen. Seit jenem Tag mache ich mir Vorwürfe, dass es meine Schuld ist, dass Oma nun im Rollstuhl sitzt und statt in ihrer Neubauwohnung im Altenheim lebt.
 



 
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