Mayers Mitte

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ackermann

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Mayer saß in der Mitte der Bank. Nein, eigentlich saß er auf der Mitte der Bank. Mayer dachte nach. Auch das war nicht ganz richtig. Denn die eine Gesäßbacke befand sich leicht links von der Mitte und die andere Backe leicht rechts von der Mitte. Mayer kam zu dem Schluss, dass nur sein After direkt auf der Mitte der Bank „saß“, bzw. schwebte.

Ein Schatten fiel auf in und störte seine Kreise. Mayer blickte hoch und höher. Eine staatliche Frau stand vor ihm, und seiner Bank, auf der er mittig saß. Er beantwortete die unausgesprochene Frage in den Augen der Frau: “Bitte, nehmen Sie ruhig Platz.“
„Danke“, sagte die stattliche Frau und setzte sich rechts neben Mayer auf die Bank. „Könnten Sie vielleicht etwas nach links rutschen?“

Mayer löste seinen Blick von der Schönheit der Landschaft. Stattdessen betrachtete er nun nachdenklich die Dame; die rotblonden, halblangen Haare; die modische Hornbrille; das hübsche, herzförmige Gesicht; die weiße Bluse; das Dekolleté. Dann überlegte er, wie lange es gedauert hatte, hier auf dieser Bank seine Mitte zu finden. Er hatte mehrere Fixpunkte in der Landschaft, die sich unter ihm ausbreitete wie ein Ölgemälde, in seine innere Navigation, in sein Koordinatensystem, einbezogen: den Funkmast links, den Windpark rechts, natürlich den Stand der Sonne; und sein Augenmaß. Mayer besaß ein gutes Augenmaß, das ihn selten im Stich ließ. Und all diese Mühen wären mit einem Mal hinfällig wegen einer zweifellos attraktiven Frau, die aus dem Hinterhalt aufgetaucht war und ihn aus seiner Mitte vertreiben wollte? Niemals!

„Nein, es tut mir leid.“, sagte Mayer mit fester Stimme, die keinen Zweifel an der Unabänderlichkeit seiner Entscheidung zuließ.
„Sie sind nicht sehr freundlich.“
„Ich wurde nicht geboren, um freundlich zu sein.“, brummte Mayer und bohrte seinen Blick in das Gesicht der Dame.
„Sie werden schon sehen, was Sie davon haben.“, sagte die rotblonde Dame.

Abrupt stand Mayer auf und gab die Bank frei. Für heute hatte er genug gesehen. Morgen würde er eine neue Mitte finden. „Bitte“, sagte er zu der Dame, lächelte verschmitzt und machte sich auf den Weg zum Parkplatz, der nur wenige Meter vom Schloss entfernt war.
 

Wladimir

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Hallo ackermann,
ich mag deinen Text. Nach dem ersten Absatz befürchtete ich Nabelschau, dann kam der Frauenschatten und dann das innere Ölgemälde - ich bin überrascht. Ich bin voll bei Mayer als er sich nicht von der Mitte lösen will. Ich bin enttäuscht, dass er so eindeutig ist und auf freundlich pfeifft. Aber - interessant. Der letzte Satz gibt ganz viele Infos, die unvorangefühlt kommen. 'Verschmitzt' fällt irgendwie raus, hat eine andere Klangrichtung. Parkplatz? Schloss? Kommt er täglich mit seinem Auto zu einem Schlossparkplatz? Ist das ein Hinweis auf arbeitslose Unbedeutsamkeit? Könnte ich eventuell einen Titel bekommen? ('Arschloch' würde es natürlich weggeben?)
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo ackermann,
Ich sach ma so, dein Text hat was. Interessant mit welchen Gedanken Menschen sich während des Tages beschäftigen.;) Hat der Hinweis auf den Parkplatz, der nur wenige Meter vom Schloss entfernt war, irgendeine wichtige Bedeutung? Wenn nicht, dann würde ich den Satz da enden lassen: lächelte verschmitzt und verschwand. Denn dieser Hinweis auf einen Parkplatz und wo der sich befindet, öffnet wieder eine neue Perspektive und macht das Ende irgenwie kaputt. Denk ich jetzt mal so. ( siehe auch Frage von Wladimir).
Mit Gruß, Ji
 

ackermann

Mitglied
Hallo ackermann,
Ich sach ma so, dein Text hat was. Interessant mit welchen Gedanken Menschen sich während des Tages beschäftigen.;) Hat der Hinweis auf den Parkplatz, der nur wenige Meter vom Schloss entfernt war, irgendeine wichtige Bedeutung? Wenn nicht, dann würde ich den Satz da enden lassen: lächelte verschmitzt und verschwand. Denn dieser Hinweis auf einen Parkplatz und wo der sich befindet, öffnet wieder eine neue Perspektive und macht das Ende irgenwie kaputt. Denk ich jetzt mal so. ( siehe auch Frage von Wladimir).
Mit Gruß, Ji
@Ji Rina, ich wollte damit auf den erhöhten Standort der Bank hinweisen - Schloss und so. Aber wahrscheinlich werde ich das bei Gelegenheit weglassen ;-)
 

anbas

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Moin,

habe die Geschichte gerne gelesen - bis auf den Schluss, der mich nicht überzeugt.

Liebe Grüße

Andreas
 

ackermann

Mitglied
Danke fürs Lesen und Kommentieren. Mir gefällt der Schluss auch nicht so recht. Es sollte eigentlich eine längere Geschichte werden, aber dann ist mit die Luft ausgegangen. Und dann dachte ich allem Anfang wohnt ein Zauber inne :cool:
 



 
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