Medien-Stelldichein

xavia

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Ein lauer Spätsommerabend. Simon sitzt in seinem Lieblingslokal auf der Terrasse und freut sich auf den Sonnenuntergang und auf Petra. Mehr auf Petra, eigentlich, denn Sonnenuntergänge hat er hier schon viele erlebt. Es ist ihr drittes Treffen, seit sie sich im Forum »LiebenswerteBücher« begegnet sind, wo Simon sich registriert hat, um interessante Frauen kennenzulernen. Dass sie nun auch noch in derselben Stadt leben, ist eine glückliche Fügung, denn zuerst war ihm Petras klarer Verstand aufgefallen. Und ihr guter Geschmack, denn einige der Bücher, zu denen sie Rezensionen geschrieben hatte – Ostfriesenkrimis, Reisebeschreibungen, sogar ein Buch über Hacker –, hätte er auch gerne mal gelesen. Eines davon, einen Liebesroman, liest er gerade mit seinem neuen E-Book-Lesegerät. Er hat sich bisher Frauen gegenüber immer recht ungeschickt angestellt, aber dieses Mal will er es richtig machen. Da liegt es doch nahe, die einschlägige Fachliteratur zu studieren.

Die ersten beiden Dates sind vielversprechend gewesen. Einmal haben sie eine Wanderung unternommen, ein anderes Mal eine Radtour – beides Petras Vorschläge –, heute ist sein Vorschlag dran und er will damit ihre Beziehung mehr in Richtung Romantik steuern. Es schwebt ihm eine andere Form von Erschöpfung vor als bei den vorigen Unternehmungen. Petra ist eine ungemein attraktive Frau. Sie übertrifft seine eher bescheidenen Erwartungen dermaßen, dass er beim ersten Date Mühe gehabt hat, überhaupt ein Wort herauszubekommen.

Date – was für ein Unwort! Wie sagt man das in Deutsch? Gibt es überhaupt ein deutsches Wort dafür? Treffen oder Verabredung sind zu neutral, Rendezvous ist auch nicht besser als Date … Stelldichein? Mit dem Wort Stelldichein könnte er bei Petra sicher nicht punkten. Höchstens bei Knut, dem Freund seiner Schwester. Das fehlt ihm noch, dass Karen und Knut hier auftauchen, wenn Petra da ist. Dieser Glatzkopf mit den Nazi-Tatoos und den Springerstiefeln war ihm von Anfang an unsympathisch. Karen wirft ihm vor, intolerant zu sein, Knut würde wenigstens eintreten für seine Überzeugungen. – Tut er, Simon, das etwa nicht? Seine Überzeugungen sind nun mal mehr dieselben wie die seiner Mitmenschen, da gibt es nichts zum Eintreten, da kann man harmonisch miteinander leben.

Bisher ist Petra immer zu spät gekommen. Hoffentlich verpasst sie den Sonnenuntergang nicht, das würde alles verderben. Simon sucht eine Textstelle, die er ihr ganz beiläufig vorlesen könnte. Oder lieber ein Gedicht? Er hat auch einen Gedichtband auf dem Gerät. Vielleicht wäre es besser gewesen, eines auswendig zu lernen, statt mehrere vorzulesen, überlegt er. Aber nun ist es dafür zu spät und außerdem ist er durch die Darbietungen seiner Mutter um die Weihnachtszeit traumatisiert. Sie pflegt dann ein Gedicht vorzutragen, bleibt irgendwo hängen und beginnt so oft von neuem, bis ihr endlich der erlösende Zeilenanfang wieder einfällt und sie es bis zur nächsten kritischen Stelle schafft. Nein, Petra ist nicht der Typ Mensch, dem man so etwas zumuten kann, sie ist eher ungeduldig.

Sie hat ihn schon von unten entdeckt und winkt zur Terrasse hoch, ruft seinen Namen und da fährt er aus seinen Gedanken hoch und winkt begeistert zurück. Sie sieht umwerfend aus mit dem taillenlangen schwarzen Haar und ihren hautengen roten Jeans, eilt die Stufen zur Terrasse hoch und umarmt ihn stürmisch. Simon schwebt auf Wolken. Sie duftet ganz dezent nach etwas, das ihn an Zimt erinnert, aber da ist auch ihr eigener Körperduft, der ihm betörend in die Nase steigt. Er fühlt ihr weiches Haar, ahnt die Rundungen ihrer Brüste, bemerkt, wie sein Körper darauf reagiert. Er will sie gar nicht wieder loslassen. Bevor es peinlich wird, entwindet sie sich ihm und läuft ins Lokal, um sich auch ein Getränk zu bestellen.

Dann sitzen sie beisammen, wie er es sich gewünscht hat, reden, sehen einander in die Augen, lachen. Ob er ihre Hand nehmen dürfte? Vielleicht ist noch nicht der richtige Moment gekommen, vielleicht nach einem Gedicht.

»Ich möchte dir mein Lieblingsgedicht vorlesen«, beginnt er und schlägt die markierte Seite des E-Books auf. »Ich habe es zufällig dabei, weil ich vorhin noch gelesen habe.«

Es dämmert schon ein wenig, die Sonne steht aber noch über dem Horizont.

»Bist du sicher, dass du mir das vorlesen darfst?«, fragt Petra.

»Ja, wieso denn nicht?«

»Na, es könnte doch sein, dass in den AGB deines E-Book-Lieferanten steht, dass du den Inhalt des E-Books nicht weitergeben darfst.«

Simon ist irritiert. »Ich darf die Datei nicht im Internet verbreiten. Das ist doch klar, sonst würde sie niemand mehr kaufen.«

»Und darfst du sie mir geben?« Petras Blick hat etwas Lauerndes, das Simon gar nicht gefällt. Er hat sich das alles ganz anders vorgestellt.

»Ich denke nicht. Sie wäre für dich ja auch nutzlos. Auf deinem Reader würde die Verschlüsselung nicht passen, da könntest du das nicht lesen«, sagt er zögernd.

»Und wenn du es mir vorliest, und ich es mir merke oder es mit meinem Handy aufzeichne und zu Hause in ein E-Book schreibe oder von einem Spracherkennungs-Tool aufzeichnen lasse? Wie viele der Gedichte darfst du mir denn vorlesen, bis du dich strafbar machst?

»Du nimmst mit dem Handy auf, was wir reden? Wie bist du denn drauf?« Simon beginnt, ärgerlich zu werden und hat keine Lust mehr, vorzulesen. Er nimmt einen großen Schluck Wein, um sich abzukühlen und wünscht sich, er hätte ein Bier bestellt.

»Ich meine ja bloß«, wiegelt Petra ab, »es ist nicht so einfach, die Grenzen zu erkennen.«

»Aber du kennst sie?«

»Eben nicht. Das versuche ich dir ja klarzumachen. Ich habe vorhin die neuen AGB von LiebenswerteBücher gelesen und mich gefragt, was damit jetzt alles möglich ist.«

»LiebenswerteBücher, das Internet-Portal, in dem wir uns über das, was wir gelesen haben, austauschen? Das Portal, in dem wir beide uns kennengelernt haben?«

»Genau das.«

»Und was ist dein Problem damit?«, fragt Simon angriffslustig.

»Sie verlangen künftig unwiderrufliche Rechte an unseren Beiträgen, Namen und Profilbildern.«

»Die brauchen sie doch auch, sonst dürften sie ihre Webseite gar nicht betreiben.« Simon wird ungeduldig und überlegt, wie er elegant das Thema wechseln kann, ohne dass Petra böse wird.

Sie ist jetzt nicht mehr zu bremsen. Ihre Stimme hat einen schrillen Klang angenommen.

»Sie können diese Rechte, so die AGB, ihren so genannten Unterlizenznehmern und Übertragungsempfängern weitergeben! - Ein Übertragungsempfänger, was meinst du wohl, was das ist? - Das kann jeder sein, einer, der die Übertragung empfängt!«

»Das ist mir jetzt zu blöd«, presst Simon, mühsam um Beherrschung ringend, hervor, »ich habe keine Lust auf deine Verschwörungstheorien.« Er klemmt einen Schein unter sein Weinglas und wendet sich ab. Vielleicht hat er sich doch in Petra getäuscht, solche radikalen Ansichten werden durch das tollste Aussehen nicht aufgewogen.

»Sie haben sogar das Recht, deine Rezensionen und deinen Namen irgendwo von irgendwem drucken zu lassen!«, schreit sie ihm hinterher.


§§§​

Zu Hause angekommen, ist Simon immer noch wütend. Die Radtour hat ihn kaum abgekühlt, denn immer wieder hallen Petras abstruse Beschuldigungen in seinem Kopf nach.

»Hallo, Brüderchen!«

»So gut gelaunt, Karen? Das ist ungewohnt«, brummelt Simon und versucht, sich an ihr vorbeizudrängeln. Das fehlt ihm noch, dass nach Petras Verschwörungstheorien jetzt auch noch Karens Deutschtümelei kommt. Aber sie fährt erbarmungslos fort:

»Stell dir nur vor, was Knut mir vorhin berichtet hat! LiebenswerteBücher hat seine AGB geändert. Sie können die Inhalte ihres Forums nun unbegrenzt und unwiderruflich weitergeben. Wenn ich mir so vorstelle, was dort bislang gepostet worden ist, finden wir bestimmt in Zukunft Rezensionen, die wir ihnen für unsere Webseiten und Zeitungen abkaufen können. Mit Namen und Profilbild! Nun bekommen wir auch eine Rezension von deiner neuen Freundin in unsere Zeitung. Vielleicht können wir sogar Postings wie ›Das finde ich auch.‹ kaufen. – Geld ist ja genug da.«
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo xavia,

kommt mir irgendwie bekannt vor, deine Kurzgeschichte.
Ich überleg die ganze Zeit noch ...

Meld mich später zum Text.

LG, Franklyn Francis
 

xavia

Mitglied
Hallo Franklyn Francis, eine frühere Version dieser Kurzgeschichte wurde in das Forum Lupanum verschoben, vielleicht hast du sie dort gelesen.
LG xavia.
 
So, Spaß beiseite, jetzt wird's ernst :)

Petra ist eine ungemein attraktive Frau. Sie übertrifft seine eher bescheidenen Erwartungen dermaßen, dass er beim ersten Date Mühe gehabt hat, überhaupt ein Wort herauszubekommen.
Sie riecht so gut, fühlt sich so gut an.
Attraktiv, riecht gut, fühlt sich gut an.
Hier wurde ich Show, don't tell einbauen.

Wie sagt man das in Deutsch? Gibt es überhaupt ein deutsches Wort dafür? Treffen oder Verabredung sind zu neutral, Rendezvous ist auch nicht besser als Date …
Witzig, ist ja Rendezvous auch nicht gerade Deutsch :)

den Springer-Stiefeln
Ohne Bindestrich

»Und wenn du es mir vorliest, und ich es mir merke oder es mit meinem Handy aufzeichne und zu Hause in ein E-Book schreibe oder von einem Spracherkennungs-Tool aufzeichnen lasse? Wie viele der Gedichte darfst du mir denn vorlesen, bis du dich strafbar machst?
Was für ein abstruser Gedanke.

weitergeben! - ein Übertragungsempfänger, was meinst du wohl, was das ist? - Das kann jeder sein, einer, der die Übertragung empfängt!«
Ein (groß)

Coole Idee, gute Umsetzung.

Schönen Sonntag,
LG, Franklyn Francis
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
@xavia, diese "ausgebaute" Version ist insofern "stimmiger", als man mehr über die beiden Protas erfährt.

Was hältst Du von der Überschrift "Medien-Stelldichein". Es ist ja nicht auch ein "Stelldichein" mit bestimmten Medien - und ihren AGB`s ;)
 

xavia

Mitglied
Hallo, ihr Lieben, da gibt es ja einige Rückmeldung, die mir gar nicht per E-Mail zugegangen ist, deshalb reagiere ich erst jetzt. Vielen Dank, ich freue mich.

Den Titel, den Isbahan vorschlägt, finde ich sehr gut, habe ihn übernommen (oben kann ich ihn nicht ändern, deshalb habe ich ihn in die erste Zeile genommen).

Die Anmerkungen von Franklyn Francis habe ich, so gut ich konnte, umgesetzt. Ja, Rendezvous ist auch nicht deutscher als Date, ich war erstaunt, als ich darüber nachdachte und feststellte, dass wir in unserer Kultur für ein so wichtiges und häufig zelebriertes Ereignis kein Wort mehr haben. »Show, don't tell« werde ich mir zu Herzen nehmen.

Und schließlich freue ich mich über DocSchneiders Einschätzung. Ich finde das auch. Danke für den Anstoß zum erneuten Schreiben.
 
Ja, Rendezvous ist auch nicht deutscher als Date, ich war erstaunt, als ich darüber nachdachte und feststellte, dass wir in unserer Kultur für ein so wichtiges und häufig zelebriertes Ereignis kein Wort mehr haben.
Doch, gibt es, xavia. Du verwendest es sogar im Titel: Stelldichein. ;)

Es wurde halt nur verdrängt. So, wie alle nur noch Meeting sagen anstatt Treffen, Zusammenkunft etc.

LG, Franklyn
 

xavia

Mitglied
Ja, Franklyn, das Wort existiert noch, aber hört es sich nicht seltsam an?
Bei der Gelegenheit fällt mir ein Werbeplakat ein, auf dem »togo« stand. Ich habe hin und her überlegt, was das bedeutet, das Bild sah aus wie Vanille-Eis ohne Eistüte, dann fiel mir auf, dass da, wo die Tüte wäre, etwas wie ein Eckchen Papp-Becher mit drei lackierten Fingernägeln zu sehen war und dann hatte ich es: #togo ist das neu-deutsche Wort für »Kaffee zum Mitnehmen«.
»Ich möchte bitte einen togo, gibt es den auch zum Mitnehmen?«
 
Hallo xavia,

Danke für deine Rückmeldung.

das Wort existiert noch, aber hört es sich nicht seltsam an?
Vielleicht ist "Stelldichein" dem deutschen Wortschatz entwichen, weil es uncool klingt, weil es ja sooo tolle denglische Begriffe gibt. :)

#togo ist das neu-deutsche Wort für »Kaffee zum Mitnehmen«.
»Ich möchte bitte einen togo, gibt es den auch zum Mitnehmen?«
Unglaublich.
Vielleicht sogar noch eine Steigerung: Ich denke da an "Handy", das es im Englischen gar nicht gibt.

Schönen Abend und
LG, Franklyn
 

xavia

Mitglied
Ja, kulturelle Not macht erfinderisch. Die Zeiten, wo »Kindergarten« aus dem Deutschen entnommen worden ist, sind vorbei. Weißt du denn, ob »Handy« sich im Ausland eingebürgert hat?
LG Xavia.
 



 
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