Meeresstimmen

Tallit

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Meeresstimmen


Stimmen. Sie hörte Stimmen. Ganz deutlich und klar. Doch da war niemand. Keiner der etwas sagte, keiner der nichts sagte, niemand. Die Stimmen waren wohl doch nur in ihrem Kopf. Es war wohl doch gut, dass sie hier war. Es war wohl doch alles richtig.
Loslassen. Das war es doch, was sie hier lernen sollte. Loslassen.
Sie ließ los. Das Glas zerschellte auf dem blanken Boden. Jetzt glänzte er nicht mehr wie geleckt, war nicht mehr steril, nicht mehr trocken, denn der ach so gesunde Traubensaft floss wie Blut, verteilte sich. Schön sah das aus, fand sie. Beruhigend, wie die Flüssigkeit so langsam verlief. Geheimnisvoll neu. Losgelassen.
Schritte. Jetzt hörte sie Schritte. Und das war keine Einbildung. Das war Gemeinheit. Gleich würde jemand hereinkommen und stören. Gleich. Jetzt.
Eine Hand hatte sich geräuschlos um den Türgriff gelegt und diese war sogleich mit einem warnenden Quietschen aufgesprungen. Ihr war schwindelig, sie schloss die Augen. Die Schwester kam herein. Sie tat sehr besorgt, und, was schlimmer war, sie zeigte Mitleid. Und als ob das nicht schon genug wäre, es war gespielt. Sollte die doch sagen, dass es ihr nicht passte, wenn sie bei ihren Flirtversuchen mit dem neuen Praktikanten durch krebskranke alte Damen gestört wurde. Sollte sie doch wegbleiben. Keiner hatte sie eingeladen und hergebeten. Verdammt.
Wie dachte sie eigentlich? War das ein Zeichen ihrer Krankheit? Langweile? Isolation? Selbstschutz?
Sie war eine gute Schauspielerin. Sie wollte jetzt mit niemandem reden. Zuletzt mit diese Schwester. Ihre Augen bebten nicht wie gewohnt, ihr Atem ging langsam wie der einer Schlafenden, ihr Mund war entspannt, leicht geöffnet, so dass die Luft seufzend ein und aus strömte. Wie der letzte Faden, der ihr Leben festhielt wie einen Schmetterling in einem Spinnennetz - nicht lange.
Sie hörte, wie die Schwester einen Lappen holte, einen Besen, einen Eimer. Sie hörte, wie sie ihr Experiment aufwischte und auch nicht einen Hoffnungstropfen zurückließ. Alles war rein. Dann kontrollierte sie noch flüchtig den Tropf, der an ihrem Arm hing, schloss wie zur Bestrafung das gekippte Fenster und verschwand mit einem erwartungsvollen Lächeln in der Tür. Sie spürte es.
Das war es also gewesen ihr Leben. Das war also alles. Na gut. Was konnte sie anderes erwarten. Es war bald vorbei, das wusste sie. Aber zuvor wollte sie noch lauschen, hören. Diese Stimmen, was hatten die geflüstert?
Sie hatte eine ausführlich überlegte strategische Idee vom Sterben. Schon immer gehabt. Sie hatte die Vorstellung, all die schönen Augenblicke, die sie erlebt hatte, würden wiederkehren. Doch sie war enttäuscht. Nichts kam. Keine alten und vergilbten Schwarzweißfilme ihrer Kindheit, keine Erinnerungen, sie hatte wohl schon alles vergessen.
So lag sie da und lauschte auf die Stimmen, die nicht redeten. Sie tastete nach ihrem Kopf, strich über die glatte Haut und vermisste ihre Haare nicht. Sie hatte nichts zu tun und der Tod wollte und wollte nicht kommen.
Wenn weder der Tod kam noch die Erinnerungen, so wollte sie wenigstens etwas erfinden, was statt ihrer bei ihr sein konnte. Und dann kreierte sie sich ihre neue Strategie, das Meer-Prinzip. Es funktionierte ganz einfach. Wie eine Muschel. Es war wie eine Muschel, in die man lauscht, um das Meer rauschen zu hören. Eine Illusion. Eine schöne Illusion.
Rauschen. Sie hörte rauschen. Klar. Man hört immer Rauschen in einer Muschel. Das ist nicht das Blut. Das ist das Meer. Sie lauschte den Wellen, ihrem gleichmäßigen auf und ab. Und sie ließ sich von ihnen treiben. Das war sehr viel einfacher als sterben. Es war sehr viel einfacher als sich zu erinnern. Und es war wunderschön. Sie schaukelte auf den Wellen. Erst auf kleinen, dann auf immer größeren, zuletzt auf einer gewaltigen Riesenwoge. Es war ein gutes Gefühl, das beste, das sie kannte, das verrückteste. Dieses Gefühl, eins mit der Welle zu werden und sich mit ihr zu überschlagen. In die Tiefe zu tauchen. Tiefer und tiefer. Das einzige Licht zu sein. Sicher, denn schlimmer konnte es nicht werden. Schöner auch nicht. Es war die tiefste Stelle, auf die man sinken konnte. Die, von der an es nur noch besser werden konnte. Und gerade als sie diesen Punkt erreichte, schaltete sie mit einem verrenkenden Griff den so unangenehm piependen Ton aus, um zu hören, wie er in immer unregelmäßigeren Abständen kam, wie er langsam aber sicher erstarb. Und sie? Sie lauschte dem Meer.
Stimmen. Sie hörte Stimmen.
 



 
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