Mehdi ohne Mehdi

2 Mehdi ohne Mehdi





„Wie ein Schatten bin ich und bin ich nicht“

Dschelal ed-Din Rumi *1207 Balch (Wazirabad)





„Unsere Herkunft, unsere Familiengeschichte, unsere Leidenschaften, unsere Freunde sind wie Spuren im Sand

Wir aber sind der Sand“





















1

Während die anderen von der tonnenschwerwiegenden Nachricht niedergeschlagen rasch Ventile für ihr aus Enttäuschung und Verzweiflung gebrautes Gefühlsgemisch suchten, die von der hektischen Flucht aus dem Klassensaal, wütenden Ausrufen in ihrer Muttersprache, erdrückender Sprachlosigkeit oder unmissverständlichen Tränenausbrüchen reichten, lächelte Mehdi sanftmütig, mit halbgeschlossenen Lidern und einem tiefen, nach innen gerichtetem Blick, den man sonst nur bei einem weisen Greis nach einem langen holprigen Lebensweg beobachten konnte. Mehdi trug mit seinem zuversichtlichen Gesichtsausdruck etwas Kontroverses in den sorgenvollen Raum, dem sich Frau Trudi mit einem diffusen Gefühl aus Ver- und Bewunderung zuwendete, als sie den forschenden Versuch in seinen Augen vorzudringen, wagte. Ungebrochen unverzagt prüfte Mehdi dabei Frau Trudi viel mehr denn sie ihn, da er wusste, dass sie für ihre sieben Schüler ein mütterliches Empfinden entwickelt hatte, wodurch sie nichts als Traurigkeit in der Klasse verströmte, die Mehdi dazu veranlasste auf sie zuzugehen und ihr mit auf die Schulter gelegte Hand den Trost einhauchte, den sie ihm zu schenken gewünscht hätte. „Kein Problem, Frau Trudi! Wir finden eine Lösung!“ Wie ein frischer Duft nach dem Vertrauten drang seine wunderliche Stimmfarbe unverzüglich in die dichten Ausdünstungen aus Furcht und Trauer der anderen Mitschüler ein und warf allen niedergesunkenen Klassenkameraden einen festen Anker aus untrüglicher Zuversicht zu, sodass sich alle an ihm, wie an einem achtarmigen, mystischen Oktopus, festsaugten, der sie an die Wasseroberfläche zurückgeschleuderte, wo sie erleichtert den rettenden tiefen Atemzug nahmen.

Ein von ignoranter Hand gesetzter schwarzer Stempel hatte ihre Perspektiven schonungslos mit der gründlich ergründeten Begründung des Fehlens eines Stempels in ihren Dokumenten zermalmt, welche als ungültig abgeheftet wurden. Ob er, der Stempler, wusste, wo die Heimat der Abgestempelten aus Kabul auf der Weltkarte einzuzeichnen war? Die waren die, die man als Flüchtlinge brandmarkte, dessen verschmiertes Erkennungszeichen auf ihren gebräunten Stirnen für viele nicht mehr zu entziffern war und ein verzerrtes Antlitz hinterließ, das dieses ungute Gefühl mit sich brachte. Ohne den Stempel in den Dokumenten gab es keine weiteren Stempel mehr, die für ihre Zulassung zu den Abschlussprüfungen notwendig gewesen wären. Die gewagten Träume der jungen Überlebenden schwebten in wunderschönen gebrechlichen Seifenblasen in der Klasse umher, bis sie aus dem Fenster hinaus gesogen wurden, in die Höhe aufstiegen und doch unvermeidlich an grauen Fassaden zerschlugen. Zwischen zwei Substantiven stand Genitiv, verlor seine Bedeutung, sowie jedes weitere Wort, das in deutscher Sprache erklang. Leere Worte, die leere Versprechungen erfüllten, gruben im inneren der Jungen ein unsichtbares Nichts, das sie bereits gut kannten, das den Raum verstopfte, sich unaufhaltsam in ihm ausbreitete, spritzend aus allen Fugen drang. Doch erst in der Abwesenheit der Schüler am nächsten Morgen trat es in seine erschreckende Erscheinung. Statt ihrer erwartungsvollen, vernarbten Seelen nahm jetzt die große Leere an den Tischen Platz und starrte Frau Trudi schweigend entgegen, während sie vor Bedrängnis an die Wand gepresst nach Atem rang. Obgleich sie sich in letzter Zeit so oft nach Ruhe gesehnt hatte, stach die Stille voller ausgeschöpfter Hoffnungen in ihre Ohrmuscheln, vor der sie sich mit aufgelegten Händen zu schützen versuchte. Doch die Stille tönte lautlos weiter und verklang erst mit Mehdis unerwartetem Erscheinen, das die verlassene Einöde des einsamen Klassensaals augenblicklich mit blauen Blüten ausschmückte, die den Raum sofort mit großer Freude füllten. Alle unerklärlichen Sinnestäuschungen blendete man jedoch aus, um ihre Entdeckung kommenden Generationen zu überlassen, obgleich das Universum mit seiner Wahrheit jedem jeden Tag entgegenstarrte, aber den meisten doch hinter dem feinen, verwobenen Schleier verborgen blieb. „Hallo, guten Morgen!“, begrüßte sie Mehdi mit der gewohnten ruhevollen Stimmlage, die von solcher Reinheit zeugte, dass keinerlei Zweifel an seiner Fröhlichkeit zu laben wagte. „Die anderen kommen heute nicht, Frau Trudi!“

Während Mehdi und Frau Trudi den Deutschunterricht wiederaufnahmen, erneut Überlegungen zum Kasus anstrengten, drang das liebliche Aroma der blauen Kornblumen in die Leere des Saales, die sich von ihm bis zur Ohnmacht betören ließ, bis sie ganz von ihm ausgefüllt wurde. Ihre Verwunderung über Mehdis Anwesenheit verbergend, stellte Frau Trudi ihm keine der Fragen, die in ihren Gedankenschlössern löchrige Wände hämmerten, aus denen sie unbändig hinauszustoßen drohten: „Was hast du jetzt vor ohne Perspektiven in diesem und auch keinem anderen Land?“, war eine davon und obwohl sie schwieg, konnte Mehdi jedes unausgesprochene, in ihre Mimik gekleidete Wort auf ihrer runzligen Stirn, den zittrigen Blicken ablesen, die ihre stumme Besorgnis nicht zu verbergen fähig waren.

Mehdi war im Jahr 2007 geboren worden, als zweiter Sohn von Amir und Mariam. Als er 12 Jahre alt, verlor er seine Sprache für 814 Tage, 7 Stunden und 3 Sekunden. Nur sehr selten wagte er die lebensgefährliche Reise zurück zu seiner Familie, die nur noch in der verwüsteten Landschaft aus Erinnerungen existierte. Wenn er sich dort hinwagte, versank sein unverwechselbares Lächeln schlagartig wie ein schweres Metall in den trügerisch sanften Wellen des schwarzen Meeres, in dessen unbarmherzigen Klauen er Azad verloren hatte. Sie hatten sich geschworen, ihre Hände auf dem Boot niemals loszulassen und pressten ihre schmächtigen Finger fest zusammen, bis es schmerzte. Sie waren sich sicher, dass ihre liebende Kraft sie zusammenschweißen würde. Doch das Boot kenterte bei stürmischer See und riss die Brüder mit einem heftigen Hieb auseinander, um von wütenden Wellen verschluckt zu werden. Obwohl Mehdi sich ihnen nach langem Kampf ohnmächtig ergeben hatte, hatten sie ihn in letzter Sekunde wieder ausgespuckt. Mehrere Tage seines Lebens nach der Rettung waren bis heute im tiefen, schwarzen Meeresgrund versunken. „Ob sein Bruder ertrunken oder wo andershin verschleppt worden war?“, war eine Frage, die schonungslos in ihm wütete und ihn tief in Bäder aus eigenem Blut stürzte, aus dem seine Seele sich am Haken des einen Fischers rettete, der auch noch mit knöchrigen Skeletten Mitleid hatte. Nur selten wagte er noch die Reise zu seiner Familie, denn der Haken im Gaumen zerriss ihm den Kiefer, den er zum Sprechen brauchte.







Als Frau Trudi, für ihre Lehrtätigkeit flammend, wie ein junges Mädchen in allen ihren Zügen aufblühte, verlor sich Mehdi in der achtsamen Beobachtung ihres erfreulichen Wandels, ohne den grammatischen Ausführungen seiner Lehrerin zu folgen. „Es kommt darauf an, ob das Substantiv männlich oder weiblich ist!“, erklärte sie vor Begeisterung leuchtend und empfing dabei dieses gewohnte aufrichtige Lächeln, dass Mehdi seinem Leben unentwegt zuschulden überzeugt war, während er im Innehalten versank, aus dem immer ein tiefgründiger Gedanke entsprang. „Wenn sie schlafen, wissen Sie da, ob sie männlich oder weiblich sind?“ lautete er, woraufhin sie schwieg und ebenfalls innehielt. Wenn etwas ganz bliebe, so war es das wahre Wesen, verhüllt hinter dem täuschenden Spiel der Sinnlichkeit.



2

Als Mehdi nach dem Unterricht den Saal verließ, versicherte sie sich aus dem Fenster lugend seines Wohlbefindens, dass in der Geschmeidigkeit seines Ganges bei schwungvollem Schwenken seiner vernarbten Arme, gemächlichen Schritten in lockeren Knien, dem aufrechten Blick ausstrahlte. Ihr Körper schien vor Spannung verhärtet, mit gekreuzten Armen suchte sie stets Schutz, ihre Kniegelenke knackten mit jedem Schritt und ihren Kopf bevorzugte sie unnahbar gesenkt zu halten, um sämtlichen sinnlosem Schwatz jeglicher vermeintlichen Gelegenheit zu berauben. Mehdis Körperhaltung wirkte offen und er sprach mit jedem auf dieselbe Art und Weise. Frau Trudi hatte unbewusst stets verschiedene Rollen gespielt. Wusste sie, dass sie Trudi hieß, wenn sie schlief? Und wer war sie, wenn sie nicht die Frau namens Trudi war?

Rasch und unauffällig hatte sie den Pausenhof durchquert, jedoch zerklirrte ihre Erleichterung, durch das penetrante Klopfen gegen die Fensterscheibe, wie Porzellan, erblickte das rotgebrannte Gesicht eines gewissen langjährigen Kollegen, Herr Mark, der mit seinem aufdringlichen Eindringen in den wohlverdienten Feierabend die Dringlichkeit seiner Belange nicht länger zu ignorieren ermöglichte. Durch einen feinen Spalt bat sie um Verständnis für ihre Eile. „Frau Trudi, hören Sie bitte! Es geht um die Flüchtlinge. Die Situation ist unzumutbar.“ Als sie die schwarze Brandmarke mit F mit ihrem glühenden Eisen genau auf sie zu stemmen sah, konnte sie kaum noch ausweichen, sich nur noch mit verschränkten Armen verteidigen, in die sich das Zeichen bis tief unter die Haut einbrannte. Qualmender Arme stieg sie aus dem Wagen, um sich Herrn Mark in gutwilliger Absicht anzunehmen. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, so klang der wohlwollende, abgelassene Dampf, der ihm sanftmütig entgegenströmen sollte. Herrn Marks übertriebene Klagen über die täglichen Verspätungen, die Störungen im Unterricht, die angeblich nur von den Flüchtlingen ausgingen, bildeten jedoch einen kalten Gegenstrom, der ihr eisig und langsam den Rücken hinunterkroch. Verzagend suchte sie in Herr Marks tiefblauen Augen nach dem Anker des Mitgefühls, doch fand sich nur in unruhigen Fluten wieder, die ihm keine klare Sicht ermöglichten.



„Es gab eine ernsthafte Auseinandersetzung mit zwei unserer Jungs aus meiner Klasse wegen den nigelnagelneuen teuren Nikes, die die tragen! …Frau Trudi, also, …wie soll ich sagen, …nehmen Sie es mir nicht übel! ….Die Flüchtlinge sind ja wirklich fast besser gekleidet als unsere Jungs. Die Flüchtlinge bezahlen ja hier keinen Cent an der Privatschule, tragen dann aber Schuhe für über 100 €! Und die machen einfach nur Unruhe in der Klasse…Denken sie bloß nicht, dass ich irgendwas mit Rassismus zu tun habe. Aber wenn man schon hierherkommt, dann soll man sich doch auch benehmen! Denken Sie nicht auch?“ Frau Trudis wohlwollender Ton war mit einem Mal wie ein verletzter Vogel, den Herr Mark mitleidslos abgeschossen hatte, in die Tiefen von C2 gestürzt. Während seiner Anklage stieß er übelriechende Hauche aus Mund und Ohren, welche in feinen brauen Wölkchen sichtbar in die Luft ausgestoßen wurden. An seinem Gewissen nagte das magere Einfühlungsvermögen, verbiss sich das dürre Verantwortungsgefühl für die gravierende Misere der Welt, doch er verwechselte den von den spitzen Zähnen verursachte Schmerz mit seinem fettleibigen Wutkörper gegenüber den problematischen Flüchtlingen, der sich immer gewaltiger aufblähte und alsbald ihre schutzlosen Körper niederwalzen würde. Ein weiterer gefährlicher Panzer, vor dem die Jungs flüchten müssten, was das F auf ihrer Stirn weiterhin rechtfertigte.

„Die Eltern von Jonas und Lorenz haben sich schon mehrfach beschwert über die neuen Zustände hier!“ kochend heiße Tröpfchen verbrühten Trudis frisch gebrandmarkten Arme. „Ich habe ihnen auch schon eine Lösung bis zum nächsten Elternsprechtag am 17. April versprochen! Frau Trudi, ruinieren Sie sich nicht den wunderbaren Ruf ihrer Schule. Das hätte ihr Vater sicher nicht gewollt!“

Mit jedem Wort goss er Öl in die Brandwunden an Trudis Armen, sodass sie abrupt das Gespräch unterbrach und entrüstet mit dem Auto davonsauste. Sofort stürzten Unmengen Regen aus der dichten grauen Wolkendecke, die ihre glühenden Stellen kühlten, die ihr nun stets als Erinnerung für ihren Auftrag dienten. Hinter ihr blieb Herr Mark angewurzelt stehen und erfrischte sein rotgebranntes Gesicht im selben Regen, der auf Mehdis schwarzes Haar, auf die Köpfe der Schüler und Flüchtlinge, auf die Lehrer und Eltern niederfiel.

Die verurteilenden Blicke der meisten Mütter und Väter, die vor ihren fahrenden Statussymbolen auf ihre Kinder warteten, bildeten auf Mehdis äußerer Erscheinungsform eine zähe, undurchdringliche Zementierung, die seine Seele für ihren vom falschen Glanz geblendeten Blick verborgen hielt. Mehdis Betrachtung glich der eines Röntgenstrahls, der es vermochte, alles Oberflächliche zu durchleuchten, um in ihre unsichtbaren Sphären vorzudringen, die ihnen selbst nicht zugänglich waren. Kein Audi konnte hier einfahren, kein anderer Status hatte hier Gültigkeit als der des Menschseins. Während die geplagten Flüchtlinge ausgegrenzt gegen die Steinmauern aus Vorteilen schlugen, führte Mehdis klarer Blick die Eltern in ein Labyrinth aus spiegelnden Wänden, in dem sie ohne Unterscheidungskraft herumirrten. Einer der Väter hieß Carl, der aufgrund seines blonden Haares ebenfalls einen Stempel erhielt, dieses Mal von Yaghoub, einem der Jungs. Dass Carls Großvater aus dem Libanon gewesen war, wusste weder er noch sonst jemand. Muslimische Vorfahren vermutete man nicht in den Venen des blonden Mannes. Wenn man Wasser mischte, so erhielt man Wasser, so viel war nicht klar.





3

Eine weiße Schlange. Ich versuche ihrer Spur zu folgen. Plötzlich bin ich im Haus meiner Großmutter, aber es sieht anders aus. Ich blicke aus dem Fenster und sehe ein weites Kornfeld. Dann erinnere ich mich nicht mehr. Nur durcheinander aufleuchtende Fetzen von Traumbildern. Welch seltsamer Traum.

Weiß sie, dass sie eine Frau ist, wenn sie träumt? Weiß sie, dass sie Trudi heißt? Und wer ist sie ohne den Namen Trudi, ohne die Identifizierung als Frau, als Lehrerin und Direktorin, als Christin, als Europäerin? Es ist bereits 07.15 Uhr und keine Zeit mehr für Kaffee, was sie aus der geliebten Routine reißt. Zum ersten Mal seit Jahren kommt sie zu spät zur Arbeit.



8:18 Uhr, Medhi sitzt pünktlich an seinem Platz und verharrt in der Dunkelheit, die gegen jede Art von Licht resistent zu bleiben scheint. Trudi schaltet die Beleuchtung an, entschuldigt sich für ihre Verspätung und kann trotz des grellen Neonlichtes der Deckenleuchten nichts als eine schummrige menschliche Silhouette an der Schulbank erkennen, die sich zitternd am Schatten festkrallt. Sein Glanz scheint plötzlich ermattet, in seinen Augen tobt ein schwarzes Loch, durch das er weit entfernt in die unendliche Leere eingesogen wird. Sekunden vergehen, Frau Trudi spricht Mehdi an, aber er reagiert nicht. Sie legt ihre Tasche und Unterlagen auf dem Pult ab, hält ihn für müde und wirft einen Blick aus dem aus dem Fenster zum Schulhof. Sekunden vergehen. Sie wendet sich um, begrüßt ihn: „Mehdi! Guten Morgen! Bist du noch müde?“, sie beobachtet ihn, während eine Schulklasse durch den Flur lärmt. Seine schweißigen Hände liegen auf zittrigen Oberschenkeln. Weißes T-Shirt, blaue Jeans, die Nikeschuhe, auf die er so stolz ist, der Rucksack mit der Wasserflasche im Seitenfach ruht auf dem Boden. „Mehdi, ist alles in Ordnung?“, sie nähert sich mit mütterlichem Instinkt behutsam und ruhig. Keine Antwort. Sekunden vergehen. „Mehdi, hörst du mich?“, Frau Trudis Stimme steigert sich zunehmend, sie berührt seine heiß glühenden Hände, verbrennt sich. Sekunden vergehen, keine Antwort. „Mehdi!“, schreit sie und packt ihn an den Schultern. Keine Antwort. Trudis Besorgnis verwandelt sich schlagartig in Panik, sie schüttelt ihn: „Mehdi! Hörst du mich?“ Mehdi schweigt und bewegt sich nicht. Er atmet, sein Herz schlägt. Doch er ist verschwunden. Sekunden vergehen. „Mehdi, Meehdi!“, Trudi weint und schreit, doch sie verliert ihn. Sie verliert ihn in der tiefen Kluft seines dunklen Traumas, dass ihn erblindet in einer trostlosen Wüste fernab seiner Seele aussetzt. Hatte er die Reise zu seiner Familie gewagt und war nicht mehr lebendig zurückgekehrt? Eine Kollegin stürmt in den Raum, nachdem sie Trudis Schreie hört. Minuten vergehen, während Mehdi vor ihren Augen immer tiefer im treibenden glühend heißen Sand versinkt. „Meeehdi, nein“, fleht Trudi. Ein Sandsturm kommt auf und verwüstet den stillen Raum. Sie sieht ihm nach, als sie ihn fortbringen, sie sieht ihm lange nach, doch er ist längst fort.



4

Frau Trudis Blick hatte sich verändert. Die schmerzverzogenen Züge, zusammengekniffenen Augen, in denen keine Freundlichkeit geblinzelt, die verleugnet und nichts preisgegeben hatten, offenbarten eine still vollzogene Verwandlung, die ihrer gesamten Erscheinung einen unsichtbaren Glanz verlieh, das jedem um sie herum hell entgegenstrahlte und ihre ganze Aufmerksamkeit magnetisch auf sich zog. Unentwegt besuchte sie Mehdi in der psychosomatischen Klinik, in die er eingewiesen worden war. Tagsüber schwieg er und starrte in die Leere, nachts schrie er in seinen Träumen immer wieder nach كمك, komak. Mit dem kleinsten Windstoß hätte sich die Hölle aus Asche und Rauch aufgelöst, da sie kein Teil der Wahrheit war. Nur Licht war wahr und sein Schatten ein Trugbild, das von keiner Wahrheit durchdrungen war, sondern nur als Täuschung im Spiel des Lichtes erzeugt wurde, das verlangte, dies zu erkennen. Doch mit seinem verhüllten Blick in die Welt drangen keine mehr Worte zu ihm durch, die mitfühlende Berührung seiner Hand spürte er nicht mehr.

Mehdi schlug sich den Kopf so lange gegen die Wand, bis er ohnmächtig wurde. Besuche waren vorerst nicht mehr möglich.



Herr Mark, der Jahre lang Frau Trudis unerbittliche Verbitterung nach dem Tod ihres Mannes hatte ertragen müssen, umschlang ihr drastischer Wandel wie eine ausgehungerte Anakonda, um jeden vergiftenden Hass aus ihm herauszupressen, den sein Vater ihm in frühsten von blauen Flecken übersäten Kindheitstagen eingebläut hatte. Frau Trudis Glanz von 187 Sonnen beraubte ihn jeder Widerstandsfähigkeit und entzündete ihn ihm, nach all den ohnmächtigen Jahren, eine glühende Hoffnung auf nahgelegene Ufer, an denen er sein Glück doch noch finden könnte. Obgleich er es nie gewagt hatte seine frühen Wunden zu begutachten, erkannte er nun, dass sie in Narben verheilt und schließlich unsichtbar verblasst waren. Nackt und orientierungslos strauchelte er am Ufer und folgte Frau Trudis Lichtflut, die von Weitem aufleuchtete und alle dunklen Wesen um sie herum vertrieb oder zu ihrem eigenen Licht zurückbrachte. Herr Mark beobachte die Flüchtlinge, die über den Schulhof schlenderten und erkannte, dass Frau Trudis Wandel etwas mit ihnen zu tun hatte, nahm den Hörer in die Hand und damit sein Schicksal, während sein schattiges Gesicht von zarten Sonnenstrahlen geblendet wurde, die direkt durch sein Fenster drangen.

An 234 stummen Tagen an denen Mehdi am scharfen Fischerhaken hing, der ihm den Kiefer zerfleischte, suchte Frau Trudi ihn auf und wartete. Unaufhörlich setzte sie sich für die Prüfungsbewilligung ihrer anderen Schüler ein, für die sie eine Bewilligung benötigte, die eine unmögliche Bewilligung voraussetzte, sodass nur noch der Glaube an die Menschlichkeit etwas ausrichten konnte. Es gab keine Antwort, keinen Termin. Zu viele Flüchtlinge, zu wenig Mitarbeiter, hieß es. Trotzdem hatte Frau Trudis leerer Klassensaal sich mit erwärmten Herzen gefüllt, die in Shamsulla, Ali, Dawood, Yaris, Hassan, und Fatih pochten. Es war Mehdis leerer Stuhl, der ihre schmächtigen Finger zusammenschweißte und die sich zu einer mächtigen Faust formten, die fähig war ihren abwesenden Kameraden zu packen und zurückzubringen.



4

Mehdis Körper war von einer unheimlichen Starre erfasst, nur seine Augen voller Sand bewegten sich unruhig von rechts nach links. Über ihm ergossen sich glühend heiße Funken, die schutzlos auf ihn niederfielen. Brodelnde Hitze und Dunkelheit wechselten sich mit ihrem täuschenden Spiel ab. In der brodelnden Hitze zog es Mehdi in eine Schattenwelt, in der flehende Geister aus dem Krieg umherirrten, deren Bitte er nicht verstand. In der Dunkelheit erkannte Mehdi, dass sich der Horizont nach Westen bewegte, wo er im Osten wieder sichtbar wurde. Vollkommene Dunkelheit herrschte auf der Erde nie. Es war nur ein Spiel von Schatten und Licht.

Jeder Schritt nach vorne trug ihn jedoch wieder weit zurück in die Dunkelheit, die ihn an Händen und Beinen mit geschicklichen Schattengewächsen packte, die vor Angst vor dem Licht erzitterten und nur zurückgezogen in ihrer Welt aus Schein existierten. Frau Trudi wühlte im Sandsturm seiner Augen, strich über sein glattes Haar, sandte alle mit Liebe vollgesogenen Worte von ihren Lippen zu seinen Ohren. Hochtraumatisiert hieß es, nicht gesellschaftsfähig, Entlassung undenkbar. 423 stumme Tage in der Wüste und mit jedem weiteren Tag gab ein Gedanke eines Mitmenschen ihn auf.



Die lange Geduldsprobe hielt die Jungs aus dem „Projekt UmF“ Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf einem wackeligen Seil zwischen zwei hohen Türmen fest, auf dem sie bereits so lange verharrten, dass sie sich an die schwindelerregende Höhe und Angst abzustürzen, gewöhnt hatten. Während Shamsulla sie mit Drogen unterdrückte, hielt sie Dawood nachts vom Schlaf ab, Yaghoub schmerzte sie im Magen und allen Gelenken und während Hassan in depressiven Gedankenmalereien versank, verwandelten sie sich bei Ali und Fatih in Aggression. Trudi hatte für ihre Jungs unaufhörlich gekämpft, hatte sich an sämtliche Abfuhren, Unverschämtheiten und persönlichen Beleidigungen gewöhnt. Auf im Kreis angeordneten Stühlen im Saal hatten sie Platz genommen, als ein leises Klopfen unerwartet durch den Raum drang und im ganzen Raum eine Botschaft in einer weltfremden Sprache verbreitete, die nur mit dem unsichtbaren Auge zu entziffern war. Herr Mark trat in den breiten Kreis und wedelte aufgeregt mit leeren Händen auf und ab, wobei ein glasklarer tiefblauer Ozean von tausenden Glanzperlen in seinen Augen aufleuchtete. Während die einen nach der unerwarteten Neuigkeit mit von Glückseligkeit gefüllten Augen verschiedene Ventile für ihren Gemütszustand wählten, der entweder durch das stürmische Verlassen des Saales, unverständliche Ausrufe der Erleichterung, ungläubige Sprachlosigkeit oder unkontrollierte Freudenschreien ausbrach, lächelte Trudi nur mit halbgeschlossenen Lidern und einem tiefen, nach innen gerichtetem Blick, den man sonst nur bei einem weisen Greis nach einem langen holprigen Lebensweg vernehmen konnte. Kurz darauf fielen sich alle in die Arme, wobei die Glückstränen ihrer Schüler auf Frau Trudis und Herrn Marks Schultern tropften, die tief unter ihrer Haut einsickerten, wo sie ihnen für immer „danke“ zuflüstern und niederregnen würden, wenn es in ihren Seelenwüste einmal drohte zu brennen.





5

Mehdi befand sich noch immer inmitten einer kargen Wüste, die sich bis weit in die Unendlichkeit ausbreitete, deren Ende auf einer anderen Ebene lag, die nicht durch die auf physikalische Naturgesetze begrenzte Wissenschaft erklärbar war. Seit langer Zeit drehte er sich immer wieder mit erhobenen Händen und zur Seite geneigten Kopf im Kreis, bis unerwartet ein kräftiger Wassertropfen auf ihn herunterschlug und zwischen seinen Augenbrauen landete. War er ohnmächtig, träumte er, lag er im Koma? Von weit weg sah Mehdi den Film seines eigenen Lebens: Er sah die Gliedmaßen seiner jüngeren Schwester durch die Luft fliegen, als die Bombe in der Nähe seines Hauses niederfiel, wie sie seine Mutter fesselten, wegschleppten und seinen Vater mit einer Kugel vor seinen Augen hinrichteten. Mehdi hörte nichts mehr, er sah nur in Azads verzweifelte Augen, der ihn hinter Trümmern versteckt, herbeiwinkte. Daraufhin liefen sie, sie liefen, sie liefen und liefen immer weiter, begegneten auf der Flucht 1437 Schlägen und 769 Demütigungen. Von weit weg sah er sich selbst und Azad im schwarzen Meer am Angelhaken zappeln und streckte nach Azads Hand aus, die er in den Fluten vergeblich zu fassen versuchte. Mehdi hörte nichts mehr, er fühlte nichts mehr. Er sah seine Vergangenheit auf einem Bildschirm voller kleiner weißer und schwarzer zitternder Punkte, die sich zu einem einzigen grellen Licht formten. Plötzlich sah er wie die Bilder aus seinem Leben lose und durcheinander umherschwebten und immer weiter wegflogen. Plötzlich fühlte er wieder. Er spürte Azad, der nicht mehr Azad war, sondern nur noch das, das einmal in Azads Körper gelebt hatte. Salzige Bäche rannen aus Mehdis Augen, die sich zu einer reißenden Flut formten, die das falsche Gefühl von Schuld aus seiner Seele zu spülen begannen. Und dann konnten sie fliegen, Azad, Mariam, Amir, Ayla und legten ihre Namen und Gestalten ab, um in ihr pures Wesen einzugehen. Der Film war zu Ende.

Eine warme Welle tiefsten Friedens durchfloss Mehdi unverzüglich, als er sah, dass der Tod einen trügerischen Schatten warf, der im übermächtigen Sonnenlicht in Lichtgeschwindigkeit seinen Tod erlitt. Und als der Tod tot war, begann Mehdi sich selbst zu erkennen, während der mächtige Strom in ihm rauschte, der jede letzte Flamme löschte, jede Brandwunde kühlte, jedes Überbleibsel an Leid aus ihm herausspülte. Die Trauer hatte sich vom Leid befreit und war nun glasklare und pure Traurigkeit, die in der Lücke zwischen Jen- und Diesseits stand. Und was zurückblieb war ein freies, glückseliges, friedliches Wesen, das keinen Namen, keine Nationalität, kein Geschlecht, weder Vergangenheit noch Zukunft kannte.



Als Mehdi die Augen öffnete, nahm er das grüne Satt der prächtigen, energiegeladenen Laubbäume vor seinem Fenster, das zuverlässige Tageslicht, dass durch die stolzen Blätter niederfiel wahr, er nahm das Vogelgezwitscher, aufeinander zuströmende Stimmen im Gang wahr, er nahm wahr, wie sein freies Herz fröhlich klopfte, wie ihn die längst vergessene Lebensfreude umarmte und küsste. Nach 514 stummen Tagen spuckte er den Haken aus. Die vor Erstaunen und Freude verstummte Pflegerin, transportierte mit ihrem Blick ihr ganzes Mitgefühl, dass nun in tausenden bunten Blüten durch den Raum flatterte, die jeden Winkel, jeden Fensterrahmen ausschmückten:

„Es ist jetzt ..alles gut…Danke! Eine Frage. Wann kommt Frau Trudi?“



6

„Ja, hallo!“

„Ja, guten Tag, hier ist Herr Dr. Seiler! Frau Trudi, es gibt gute Nachrichten!

Mehdi hat heute wieder gesprochen und er fragt nach ihnen. Könnten sie heute etwas früher kommen?“

„Ich stehe schon vor der Tür.“

Tränen des Glücks fielen in der Wüste nieder und Trudi wusste, dass in der scheinbaren Einöde aus Sand in tiefroten Vulkangesteinen nur ein Tropfen Wasser genügte, um sprießendes grünes Leben hervorzubringen.

Mehdi stand ohne Mehdi wartend an der Tür, lächelte und nahm sie in die Arme.

„Wo warst du nur?“

„Auf der Suche nach meinem wahren Ich!“

Wenn sie schläft,

wer träumt?

Wenn er schläft,

ist es hell oder dunkel?

ist es laut oder leise?

lebendig oder tot?

kalt oder heiß?

Sind es ihr Körper und seine Seele?

Geist?

Der Geist kennt kein Schattenspiel, er ist nicht und ist nicht nicht

Für die Augen glänzt kein Licht auf dem Wasser ohne es

Kein om erklingt ohne es

Keine zärtliche Berührung spürt die Haut ohne es

Süße Düfte bleiben ungeachtet ohne es

Verführerische Früchte unentdeckt ohne es

Aber ohne die fünf ist es

und riecht, spürt, sieht, schmeckt, hört die Ewigkeit
 



 
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