caspAr
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Eine Faust kracht in mein Gesicht, wieder und wieder. “Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“, schreit einer meiner Peiniger und als ich tatsächlich aufblicke, sehe ich sein hassverzerrtes Gesicht. Wimmernd liege ich auf dem Boden und um mich herum sammelt sich eine Traube von zwanzig Faschos. Ich bin 14 Jahre alt. Unsicher und scheu saß ich noch fünf Minuten zuvor auf einem unbequemen Stuhl, dessen Lack sichtbar abgeblättert war und der bereits einige Jahre und etliche Menschen erlebt hatte. Der Hermannsgarten in Weißenfels war eine uralte Kneipe mit Saal und beherbergte zu meinen Zeiten als Grundschüler noch die Schulspeisung. An jenem Tag, da ich erneut in der alten Kneipe saß, war ich augenscheinlich gereift und erwartete den ersten Discobesuch meines Lebens. Thomas, mein bester Freund, bei dem ich übernachtet hatte, saß neben mir. Unsere Eltern wussten nichts von unserem Vorhaben. Ich solle bloß keine Disco oder Ähnliches aufsuchen, hatte mir meine Mutter tags zuvor mit auf den Weg gegeben. Vielleicht ahnte sie, dass dort ein Schlägertrupp auf uns wartete.
Für den Hermannsgarten war das Wort „Disco“ völlig irreführend. Es war eine runtergerockte Kneipe, die über einen etwas größeren Raum, einen Saal, verfügte. So wie es bei fast allen Discos der Fall war, die ich Anfang der Neunziger in Sachsen-Anhalt aufgesucht hatte. Hier herrschte meist ein extremer Männerüberschuss, mindestens die Hälfte von ihnen waren Faschos, die sich jeden vorknöpften, der in ihr Beuteschema passte, und das waren im Prinzip alle. Wenn es niemanden gab, den man attackieren konnte, haute man sich eben irgendwann rotzbesoffen gegenseitig aufs Maul.
Deutschland war seit knapp zwei Jahren wiedervereint, zumindest auf dem Papier. Innerhalb dieser Zeit hatte sich ein komplettes Land aufgelöst, dessen Bürger jedoch nicht verschwunden waren. Sie trotzten allen Widrigkeiten, mehr oder weniger und in der im Osten beheimateten Gesellschaft hatten sich Szenen breitgemacht, die vorher undenkbar gewesen waren: In Lichtgeschwindigkeit hatte sich das Gebiet vom antifaschistischen Arbeiter- und Bauernstaat zu einer Tummelwiese rechtsextremer Schlägergangs entwickelt. Es war irre, doch all das wusste ich damals nicht. Abgesehen von der Scheidung meiner Eltern und dem Zusammenbruch der DDR, war mein bisheriges Leben ohne große Katastrophen verlaufen. Bis zu diesem Abend im Jahr 1991. Ich glaube, es war in den Sommerferien und ich erinnere mich lediglich daran, dass die regennassen Straßen, wie schwarzer Speck glänzten.
Draußen ein vermeintlicher Sommer und innen, im Flackerlicht der Disco, Nazis. In der Ecke im Hermannsgarten, auf jenem Stuhl, fühle ich mich unsicher und fremd. Der Raum vor mir ist dunkel, nur erhellt durch ein paar Discolichter. Trotzdem fühle mich allseits beobachtet, werde es sicherlich auch. Jemand löst sich mir gegenüber aus einer Menschengruppe und kommt auf mich zu. Klein, stämmig. Je näher er kommt, desto mehr erkenne ich seine Uniformierung. Bomberjacke, billig, beim Vietnamesen auf dem Markt geklaut. Das Gesicht alltäglich, die Haare blond, zum Scheitel gekämmt, Seiten kurzrasiert. Jetzt steht er vor mir und ich habe bereits totale Panik. „Biste rechts oder links?!“, brüllt er mich über die wummernde Musik an. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Was für eine Frage. Als ob meine Antwort irgendetwas an den darauffolgenden Ereignissen hätte ändern können. Heute weiß ich, dass sogar die Reinkarnation Hitlers dort hätte sitzen können; mein Schicksal, unser Schicksal, war schon besiegelt. Thomas hat mit mir diese Szene durchlebt. Hat erlebt, wie ich aufstand und alles andere als heldenhaft mit bebender Stimme sagte: "Ich...ich bin neutral." Wem wäre es gelungen, diesen Typen mit einem Faustschlag niederzustrecken? Seinen Gesinnungsgenossen vielleicht. Uns verblieb nur die Rolle der Opfer.
Die Zeit zwischen der Szene im Inneren der Kneipe und den Ereignissen draußen ist mir völlig entfallen, wie ausgelöscht. Meine Erinnerung setzt erst wieder draußen auf der Straße ein: Orangenfarbene Lichtzelte der Straßenlaternen im Nieselregen. Ich renne, Thomas jagt vor mir die Straße hinunter und hinter mir sind aus einem Fascho auf einmal zwanzig geworden. Die Meute hetzt uns johlend durch die Nacht. Ich war nie sportlich, in meiner Jugend schon gar nicht und das wurde mir jetzt zum Verhängnis. Denn obwohl nackte Panik mich beherrschte und mich nach vorn, weg von der Gefahr trieb, kam ich einfach nicht vom Fleck. Ja, es war wie in einem Albtraum. Ich renne und renne, doch nichts passiert. Ich scheine zu schweben. Leider war dies kein Traum und der Abstand zwischen der Meute und mir verringerte sich rapide. Thomas blickte sich um, sah, dass ich zurückfiel, blieb stehen und wartete. Ja, er wartete auf mich. Das habe ich ihm nie vergessen. Thomas opferte sich für mich, denn er wäre locker entkommen.
Um die Ecke, in der Beuditzstraße, dort wo früher die Bäckerei Bobolowski war, hatten sie uns. Und doch kann ich mich nur an Ausschnitte erinnern, Einzelheiten sind wie weggewischt. Über dreißig Jahre ist dies her, aber diese wenigen Bilder sind so klar gezeichnet, als wären sie gestern passiert.
“Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon mehrere Faustschläge und ein paar Tritte ins Gesicht kassiert und krümmte mich in dem Hauseingang der Bäckerei zusammen. Sekundenbruchteile vorher hatte ich in meiner Angst noch überlegt, durch die Glasscheibe der Ladenfassade zu springen. Aus einer irren Hoffnung heraus glaubte ich, das würde dem Ganzen ein Ende bereiten. Ich habe es Gott sei Dank sein lassen, hätte es wahrscheinlich dann wirklich nicht überlebt. Irgendwie rappelte ich mich auf und taumelte auf die Straße, auf der mir ein Taxi entgegenkam. Ich rannte darauf zu, wedelte mit den Armen, glaubte wirklich es würde anhalten und den gesamten Spuk beenden, doch es wich scharf aus und düste davon. Erneut wurde ich zu Boden gestreckt, jemand sprang auf meinem Kopf. Ich stöhnte, „Oh Gott“ und „Mama“. Dann gingen die Lichter aus.
Szenenwechsel. Ich bin wieder bei Bewusstsein. Was in den letzten Minuten passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich merke nur, dass ich wieder renne, Thomas ist jetzt neben mir. Wir beiden hasten die Kleine Deichstraße hoch und biegen dann wie automatisiert in den Haupteingang des alten Poliklinikgeländes ein. Wir kennen die Gegend, doch denken überhaupt nicht mehr bewusst. Ich befinde mich in einem Zustand des reflexartigen Handelns.
Nachdem wir an den Gebäuden vorbeigerannt sind, brechen wir im Stockduster durch das Unterholz. Wie im Wahn klimme ich mit Thomas den Hang zur Lutherkirche hinauf. Wir springen über meterhohe Hindernisse, überwinden Zäune wie Federn. Mein Körper befindet sich im absoluten Ausnahmezustand. Ich bebe vor Adrenalin, habe den legendären Tunnelblick.
Auf dem Gelände der Lutherkirche brechen wir zusammen. In meiner Erinnerung haben Thomas und ich seit dem Ausbruch des Übergriffs keinerlei Wort gewechselt. Jeder war zu hundert Prozent mit sich beschäftigt. Wir ringen nach Atem, versuchen, zu begreifen, was uns gerade widerfährt. Mein Kopf dröhnt, doch ich empfinde kein Schmerzen, die kommen später. Wir schleppen uns zum Zaun, spähen auf die Straße, nichts. Wollen unbedingt nach Hause, zu Thomas, in Sicherheit. Wir hechten über den Zaun, laufen unsicher einige Meter, immer noch die Bedrohung im Nacken. Wo sind sie? Verfolgen sie uns? Wartet der Mob da vorn um die Ecke? Hinter uns ertönt weit entfernt das Motorengeräusch eines Mopeds. Ein ansonsten völlig harmloser Laut, doch dieser reicht aus, dass wir, wie auf Kommando, beide wieder über den Zaun zurück auf das Kirchgelände springe und uns zitternd in den Büschen verkriechen. In atemloser Spannung, die Augen vor Angst geweitet, starren wir auf die Straße. Langsam, fast entschuldigend, rollt das Moped vorüber.
Wie wir es von dem Gelände der Kirche bis zu Thomas in den Kirschweg schafften, weiß ich nicht mehr. Gehetzt in jede dunkle Ecke blickend, völlig hinüber, völlig gebrochen - sicher so. Im nächsten Moment stehe ich bei Thomas im Haus und betrachte mich im Spiegel. Ich erkenne mich nicht wieder. Mein Gesicht ist deformiert, zugeschwollen und die dicksten Pickel meiner Akne sind aufgeplatzt und bluten. Mein linkes Ohr ist auf die Größe einer Apfelsine angeschwollen, mein Nasenbein definitiv gebrochen und mit der Zunge erfühle ich zwei zersplitterte Zähne im Mund. Ich schlucke Blut.
Thomas und ich gehen ins Wohnzimmer. Wir sind im Schockzustand, begreifen gar nicht, was uns passiert ist. Wie automatisiert schalten wir die Glotze an, switchen umher. Während Superman über den Bildschirm flimmert, höre ich mich sagen »Bitte keine Gewaltfilme«. Aus heutiger Sicht erscheint mir das grotesk, doch damals sah ich mich einer Reizüberflutung angesichts der erlebten Geschehnisse gegenüber. Hatte den totalen Overload, wie man neudeutsch sagen würde. Ob wir in dieser Nacht damals schlafen konnten? Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich nur an den nächsten Morgen, als meine Mutter mir daheim die Tür aufmachte. Ich heulte sofort los und fiel ihr in die Arme.
Die körperlichen Verletzungen waren nach zwei Wochen verschwunden, die seelischen blieben und wurden Tag für Tag stärker. Ich hatte Flashbacks, träumte viel von dem Erlebten. Ich wechselte die Straßenseite, wenn mir, in meiner paranoiden Einschätzung, dubiose Gestalten entgegenkamen. Meine Kindheit war endgültig vorüber. Dieses Ereignis hatte innerhalb weniger Minuten so viel genommen und zerstört. Ich wusste nun, die Welt war gefährlich und dass es keinen Grund brauchte, irgendwann und irgendwo, von irgendjemanden totgeschlagen zu werden. Was ich damals als paradox wahrnahm, waren die fehlenden Schmerzen während der Tat. Die Schläge und Tritte in mein Gesicht, die Sprünge auf den Kopf – sie taten, währenddessen sie ausgeführt wurden, nicht weh. Ich war so voller Angst und Adrenalin, dass kein Schmerz existierte. Doch die Geräusche werde ich nie vergessen. Das trockene Auftreffen einer Faust in ein Gesicht, der feste Tritt gegen einen Schädel. Diese Laute haben keinen Raum, kein Echo. Sie sind kurz, dumpf und brutal.
Es kam zu einem Gerichtsprozess, denn wir hatten gleich am nächsten Tag Anzeige gestellt, wussten da bereits, wer genau uns da zusammengeschlagen hatte – Maik, ein stadtbekannter Neonazi, wohnhaft bei seinen Eltern im Südring. Eigentlich wusste von dem Übergriff auf uns am nächsten Morgen die halbe Stadt und zu den körperlichen und psychischen Verletzungen kam nun auch die gesellschaftliche Reaktion hinzu. Ich hatte einen Makel, war Opfer, und obwohl es von Erwachsenen empathische Reaktionen gab, distanzierten sich Gleichaltrige in den kommenden Monaten von mir. Ich war ein lebendes Beispiel für ein Ereignis geworden, was man selbst nie persönlich erfahren wollte, und darum mied man mich zusehends. Maik bin ich sieben Jahre später in meiner ersten Leipziger WG, in der Bornaischen Straße wiederbegegnet. Er saß zu meiner entsetzten Überraschung in der Mitte meines Zimmers mit anderen Konsorten um meine große Glasbong herum auf dem Teppich. Hatte einen weißen Kapuzenpulli mit dem Bärenmarken-Logo vorne drauf an und war voll auf Ecstasy – doch dazu später mehr.
Heute weiß ich, dass Maik auch Opfer war. Der Vater Alkoholiker, kettete ihn oft mit Handschellen an die Wohnzimmerheizung, setzte sich daneben, soff Bier und glotzte Fußball. Aber damals haben Maik und seine Komplizen im mir ein Urgefühl zerschlagen. Nach diesem Abend war ich ein anderer Mensch. Nach diesem Abend lauerte jahrelang hinter jeder Straßenecke für mich eine Gefahr. Und deshalb kann ich Maik nicht verzeihen. So wie ich niemandem verzeihen kann, der andere quält, auch wenn ich weiß, dass viele der Täter vorher ebenso Opfer waren. Mein erstes wirkliches Trauma. 1991 in Weißenfels. Vor nunmehr über dreißig Jahren.
Für den Hermannsgarten war das Wort „Disco“ völlig irreführend. Es war eine runtergerockte Kneipe, die über einen etwas größeren Raum, einen Saal, verfügte. So wie es bei fast allen Discos der Fall war, die ich Anfang der Neunziger in Sachsen-Anhalt aufgesucht hatte. Hier herrschte meist ein extremer Männerüberschuss, mindestens die Hälfte von ihnen waren Faschos, die sich jeden vorknöpften, der in ihr Beuteschema passte, und das waren im Prinzip alle. Wenn es niemanden gab, den man attackieren konnte, haute man sich eben irgendwann rotzbesoffen gegenseitig aufs Maul.
Deutschland war seit knapp zwei Jahren wiedervereint, zumindest auf dem Papier. Innerhalb dieser Zeit hatte sich ein komplettes Land aufgelöst, dessen Bürger jedoch nicht verschwunden waren. Sie trotzten allen Widrigkeiten, mehr oder weniger und in der im Osten beheimateten Gesellschaft hatten sich Szenen breitgemacht, die vorher undenkbar gewesen waren: In Lichtgeschwindigkeit hatte sich das Gebiet vom antifaschistischen Arbeiter- und Bauernstaat zu einer Tummelwiese rechtsextremer Schlägergangs entwickelt. Es war irre, doch all das wusste ich damals nicht. Abgesehen von der Scheidung meiner Eltern und dem Zusammenbruch der DDR, war mein bisheriges Leben ohne große Katastrophen verlaufen. Bis zu diesem Abend im Jahr 1991. Ich glaube, es war in den Sommerferien und ich erinnere mich lediglich daran, dass die regennassen Straßen, wie schwarzer Speck glänzten.
Draußen ein vermeintlicher Sommer und innen, im Flackerlicht der Disco, Nazis. In der Ecke im Hermannsgarten, auf jenem Stuhl, fühle ich mich unsicher und fremd. Der Raum vor mir ist dunkel, nur erhellt durch ein paar Discolichter. Trotzdem fühle mich allseits beobachtet, werde es sicherlich auch. Jemand löst sich mir gegenüber aus einer Menschengruppe und kommt auf mich zu. Klein, stämmig. Je näher er kommt, desto mehr erkenne ich seine Uniformierung. Bomberjacke, billig, beim Vietnamesen auf dem Markt geklaut. Das Gesicht alltäglich, die Haare blond, zum Scheitel gekämmt, Seiten kurzrasiert. Jetzt steht er vor mir und ich habe bereits totale Panik. „Biste rechts oder links?!“, brüllt er mich über die wummernde Musik an. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Was für eine Frage. Als ob meine Antwort irgendetwas an den darauffolgenden Ereignissen hätte ändern können. Heute weiß ich, dass sogar die Reinkarnation Hitlers dort hätte sitzen können; mein Schicksal, unser Schicksal, war schon besiegelt. Thomas hat mit mir diese Szene durchlebt. Hat erlebt, wie ich aufstand und alles andere als heldenhaft mit bebender Stimme sagte: "Ich...ich bin neutral." Wem wäre es gelungen, diesen Typen mit einem Faustschlag niederzustrecken? Seinen Gesinnungsgenossen vielleicht. Uns verblieb nur die Rolle der Opfer.
Die Zeit zwischen der Szene im Inneren der Kneipe und den Ereignissen draußen ist mir völlig entfallen, wie ausgelöscht. Meine Erinnerung setzt erst wieder draußen auf der Straße ein: Orangenfarbene Lichtzelte der Straßenlaternen im Nieselregen. Ich renne, Thomas jagt vor mir die Straße hinunter und hinter mir sind aus einem Fascho auf einmal zwanzig geworden. Die Meute hetzt uns johlend durch die Nacht. Ich war nie sportlich, in meiner Jugend schon gar nicht und das wurde mir jetzt zum Verhängnis. Denn obwohl nackte Panik mich beherrschte und mich nach vorn, weg von der Gefahr trieb, kam ich einfach nicht vom Fleck. Ja, es war wie in einem Albtraum. Ich renne und renne, doch nichts passiert. Ich scheine zu schweben. Leider war dies kein Traum und der Abstand zwischen der Meute und mir verringerte sich rapide. Thomas blickte sich um, sah, dass ich zurückfiel, blieb stehen und wartete. Ja, er wartete auf mich. Das habe ich ihm nie vergessen. Thomas opferte sich für mich, denn er wäre locker entkommen.
Um die Ecke, in der Beuditzstraße, dort wo früher die Bäckerei Bobolowski war, hatten sie uns. Und doch kann ich mich nur an Ausschnitte erinnern, Einzelheiten sind wie weggewischt. Über dreißig Jahre ist dies her, aber diese wenigen Bilder sind so klar gezeichnet, als wären sie gestern passiert.
“Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon mehrere Faustschläge und ein paar Tritte ins Gesicht kassiert und krümmte mich in dem Hauseingang der Bäckerei zusammen. Sekundenbruchteile vorher hatte ich in meiner Angst noch überlegt, durch die Glasscheibe der Ladenfassade zu springen. Aus einer irren Hoffnung heraus glaubte ich, das würde dem Ganzen ein Ende bereiten. Ich habe es Gott sei Dank sein lassen, hätte es wahrscheinlich dann wirklich nicht überlebt. Irgendwie rappelte ich mich auf und taumelte auf die Straße, auf der mir ein Taxi entgegenkam. Ich rannte darauf zu, wedelte mit den Armen, glaubte wirklich es würde anhalten und den gesamten Spuk beenden, doch es wich scharf aus und düste davon. Erneut wurde ich zu Boden gestreckt, jemand sprang auf meinem Kopf. Ich stöhnte, „Oh Gott“ und „Mama“. Dann gingen die Lichter aus.
Szenenwechsel. Ich bin wieder bei Bewusstsein. Was in den letzten Minuten passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich merke nur, dass ich wieder renne, Thomas ist jetzt neben mir. Wir beiden hasten die Kleine Deichstraße hoch und biegen dann wie automatisiert in den Haupteingang des alten Poliklinikgeländes ein. Wir kennen die Gegend, doch denken überhaupt nicht mehr bewusst. Ich befinde mich in einem Zustand des reflexartigen Handelns.
Nachdem wir an den Gebäuden vorbeigerannt sind, brechen wir im Stockduster durch das Unterholz. Wie im Wahn klimme ich mit Thomas den Hang zur Lutherkirche hinauf. Wir springen über meterhohe Hindernisse, überwinden Zäune wie Federn. Mein Körper befindet sich im absoluten Ausnahmezustand. Ich bebe vor Adrenalin, habe den legendären Tunnelblick.
Auf dem Gelände der Lutherkirche brechen wir zusammen. In meiner Erinnerung haben Thomas und ich seit dem Ausbruch des Übergriffs keinerlei Wort gewechselt. Jeder war zu hundert Prozent mit sich beschäftigt. Wir ringen nach Atem, versuchen, zu begreifen, was uns gerade widerfährt. Mein Kopf dröhnt, doch ich empfinde kein Schmerzen, die kommen später. Wir schleppen uns zum Zaun, spähen auf die Straße, nichts. Wollen unbedingt nach Hause, zu Thomas, in Sicherheit. Wir hechten über den Zaun, laufen unsicher einige Meter, immer noch die Bedrohung im Nacken. Wo sind sie? Verfolgen sie uns? Wartet der Mob da vorn um die Ecke? Hinter uns ertönt weit entfernt das Motorengeräusch eines Mopeds. Ein ansonsten völlig harmloser Laut, doch dieser reicht aus, dass wir, wie auf Kommando, beide wieder über den Zaun zurück auf das Kirchgelände springe und uns zitternd in den Büschen verkriechen. In atemloser Spannung, die Augen vor Angst geweitet, starren wir auf die Straße. Langsam, fast entschuldigend, rollt das Moped vorüber.
Wie wir es von dem Gelände der Kirche bis zu Thomas in den Kirschweg schafften, weiß ich nicht mehr. Gehetzt in jede dunkle Ecke blickend, völlig hinüber, völlig gebrochen - sicher so. Im nächsten Moment stehe ich bei Thomas im Haus und betrachte mich im Spiegel. Ich erkenne mich nicht wieder. Mein Gesicht ist deformiert, zugeschwollen und die dicksten Pickel meiner Akne sind aufgeplatzt und bluten. Mein linkes Ohr ist auf die Größe einer Apfelsine angeschwollen, mein Nasenbein definitiv gebrochen und mit der Zunge erfühle ich zwei zersplitterte Zähne im Mund. Ich schlucke Blut.
Thomas und ich gehen ins Wohnzimmer. Wir sind im Schockzustand, begreifen gar nicht, was uns passiert ist. Wie automatisiert schalten wir die Glotze an, switchen umher. Während Superman über den Bildschirm flimmert, höre ich mich sagen »Bitte keine Gewaltfilme«. Aus heutiger Sicht erscheint mir das grotesk, doch damals sah ich mich einer Reizüberflutung angesichts der erlebten Geschehnisse gegenüber. Hatte den totalen Overload, wie man neudeutsch sagen würde. Ob wir in dieser Nacht damals schlafen konnten? Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich nur an den nächsten Morgen, als meine Mutter mir daheim die Tür aufmachte. Ich heulte sofort los und fiel ihr in die Arme.
Die körperlichen Verletzungen waren nach zwei Wochen verschwunden, die seelischen blieben und wurden Tag für Tag stärker. Ich hatte Flashbacks, träumte viel von dem Erlebten. Ich wechselte die Straßenseite, wenn mir, in meiner paranoiden Einschätzung, dubiose Gestalten entgegenkamen. Meine Kindheit war endgültig vorüber. Dieses Ereignis hatte innerhalb weniger Minuten so viel genommen und zerstört. Ich wusste nun, die Welt war gefährlich und dass es keinen Grund brauchte, irgendwann und irgendwo, von irgendjemanden totgeschlagen zu werden. Was ich damals als paradox wahrnahm, waren die fehlenden Schmerzen während der Tat. Die Schläge und Tritte in mein Gesicht, die Sprünge auf den Kopf – sie taten, währenddessen sie ausgeführt wurden, nicht weh. Ich war so voller Angst und Adrenalin, dass kein Schmerz existierte. Doch die Geräusche werde ich nie vergessen. Das trockene Auftreffen einer Faust in ein Gesicht, der feste Tritt gegen einen Schädel. Diese Laute haben keinen Raum, kein Echo. Sie sind kurz, dumpf und brutal.
Es kam zu einem Gerichtsprozess, denn wir hatten gleich am nächsten Tag Anzeige gestellt, wussten da bereits, wer genau uns da zusammengeschlagen hatte – Maik, ein stadtbekannter Neonazi, wohnhaft bei seinen Eltern im Südring. Eigentlich wusste von dem Übergriff auf uns am nächsten Morgen die halbe Stadt und zu den körperlichen und psychischen Verletzungen kam nun auch die gesellschaftliche Reaktion hinzu. Ich hatte einen Makel, war Opfer, und obwohl es von Erwachsenen empathische Reaktionen gab, distanzierten sich Gleichaltrige in den kommenden Monaten von mir. Ich war ein lebendes Beispiel für ein Ereignis geworden, was man selbst nie persönlich erfahren wollte, und darum mied man mich zusehends. Maik bin ich sieben Jahre später in meiner ersten Leipziger WG, in der Bornaischen Straße wiederbegegnet. Er saß zu meiner entsetzten Überraschung in der Mitte meines Zimmers mit anderen Konsorten um meine große Glasbong herum auf dem Teppich. Hatte einen weißen Kapuzenpulli mit dem Bärenmarken-Logo vorne drauf an und war voll auf Ecstasy – doch dazu später mehr.
Heute weiß ich, dass Maik auch Opfer war. Der Vater Alkoholiker, kettete ihn oft mit Handschellen an die Wohnzimmerheizung, setzte sich daneben, soff Bier und glotzte Fußball. Aber damals haben Maik und seine Komplizen im mir ein Urgefühl zerschlagen. Nach diesem Abend war ich ein anderer Mensch. Nach diesem Abend lauerte jahrelang hinter jeder Straßenecke für mich eine Gefahr. Und deshalb kann ich Maik nicht verzeihen. So wie ich niemandem verzeihen kann, der andere quält, auch wenn ich weiß, dass viele der Täter vorher ebenso Opfer waren. Mein erstes wirkliches Trauma. 1991 in Weißenfels. Vor nunmehr über dreißig Jahren.