Mein Freund Norbert

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ThomasStefan

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Mein Freund Norbert


Es gibt Freundschaften - vielleicht kann man sie sogar kleine Liebesbeziehungen nennen - die einseitig verlaufen und dennoch erfüllend sind, gelegentlich ein bisschen glücklich machen. Leider hat die Corona-Zeit an vielen Beziehungen genagt, einige wurden zerstört oder lösten sich einfach auf. So wie auch die zu Norbert.

Das erste Mal traf ich ihn, als ich im Hallenbad an der Kasse stand, besser gesagt, ich nahm ihn erstmals wahr. Denn ich sah ihn nicht, sondern hörte nur ein seltsames Pfeifen, hoch und schrill, dann auch die normale Stimme eines Mannes, beides immer im Wechsel, als unterhielte sich ein Mensch mit einem Vogel. Die Laute kamen aus dem Umkleidebereich. Die Damen an der Kasse beachteten diese seltsame Akustik nicht weiter, es schien für sie etwas Natürliches zu sein. Eine von ihnen blickte auf, erkannte meine Ratlosigkeit und sagte nur: „Das ist Norbert.“

Als Ursprung der seltsamen Laute entpuppte sich ein schlanker Mann, fast ein-Meter-neunzig groß. Und obwohl er schon an die 40 Jahre alt schien, hatte er ein faltenloses glattes Gesicht mit dem unschuldigen Blick, den in der Regel nur kleine Kinder haben. Schnell nahm er jeden, der ihm begegnete, für sich ein und man musste unwillkürlich lächeln. Seine Mutter soll ihn fast täglich zum Schwimmen gebracht haben, wie ich im Nachhinein erfuhr. Er kam allein klar, zog sich problemlos um und duschte und stand dann im gut hüfthohen Wasser des Spaßbeckens, kerzengerade und wie selbstverständlich trug er eine Badekappe. Er erinnerte mich etwas an die Boje in Menschengestalt, wie man sie im Hamburger Hafen nahe den Landungsbrücken sehen kann.

Langsam und vorsichtig bewegte er sich durchs Wasser, schwamm aber nicht, sondern schritt hindurch. Er vermied es, irgendwo Anstoß zu nehmen. Dann und wann stieß er wohlig klingende Laute aus, Zeichen seines Wohlbefindens. Bald kam es mir vor, als hätte ein jeder in der Schwimmhalle ein schützendes Auge auf Norbert. Gern liess man ihm Platz, war immer bereit, ihm beizustehen, was aber niemals erforderlich wurde. Er war unser aller Freund, ohne dass er es bemerkte.

Soweit ich es erlebte, blieb es nicht allein beim Schwimmen, er probierte auch anderes aus. Tapfer schwitzend saß er Backe an Backe mit uns anderen in der Dampfgrotte, die man kostenfrei betreten konnte. Sie war als ein Appetithappen für den großen Saunabereich gedacht. Dabei zog er endlich einmal die Nase kraus, wenn es besonders heiß wurde, genauso, als er sich durch den Wasserkanal treiben ließ und die schnelle Strömung ihn mitriss. An der langen Rutsche habe ich ihn nie gesehen, auch nicht am Sprungturm.

Das letzte Mal begegnete ich ihm 2019, kurz vor Ausbruch der Pandemie. An diesem Tag war es wie immer: Norbert stakste durch das Wasser, gurrte und pfiff, fühlte sich wohl. Im hinteren Bereich des Beckens hatte der Schwimmbadbetreiber eine Neuerung zu bieten: Futuristisch anmutende, metallene Fahrräder waren am Beckenboden so installiert worden, dass Sattel und Lenker gerade noch von der Wasseroberfläche bedeckt wurden. Soeben hatte ein Schnupperkurs für diese teure Attraktivität begonnen, ein Trainer gab Anweisungen und eine Gruppe Interessierter mühte sich mit der ungewohnten sportlichen Herausforderung: Fahren wie auf einem Hometrainer, aber gegen den Widerstand des Wassers. Manch einer der Badegäste schaute interessiert von weitem zu. Auch Norbert nahm diese neue Tätigkeit im Nassen wahr, fixierte mit starrem Blick die sich abstrampelnden Fahrradfahrer. Langsam näherte er sich in seiner typischen, staksigen Fortbewegungsart der Sportgruppe, als schliche er sich heran. Ich folgte, um ihm eventuell beizustehen, denn ich ahnte, was er vorhatte. Bedächtig nahm er auf einem freien Fahrrad Platz und suchte die Pedalen. Mir schien, als hielten viele in der Schwimmhalle die Luft an. Ich hob meine Hand und wollte dem Trainer schon etwas zurufen, aber der lächelte nur, winkte ab: „Alles gut, er war gestern auch schon dabei.“
Norbert strampelte eine Weile mit, bald hatte er genug und widmete sich anderem.

In der Corona-Zeit war das Bad lange geschlossen, später unter Auflagen wieder geöffnet. Zuerst durften nur Gruppen bei strenger Beachtung von Hygieneregel das Bad benutzen, ziemlich spät lockerte man die Vorschriften. Inzwischen ist alles wie zuvor, das Schwimmbad wird wieder gut besucht. Nur Norbert kommt nicht mehr. Wie ich erfuhr, lebt er nach dem Tod seiner Mutter jetzt in einem Heim vor den Toren der Stadt. Er wurde nur noch wenige Male von einem Betreuer zum Schwimmen gebracht, inzwischen ist es damit auch vorbei. Nachdem ich einen der Übungsleiter nach Norbert und seinem Verbleib gefragt habe, kann ich sagen: Er fehlt nicht nur mir.
 
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texxxter

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Eine sehr anrührende Geschichte. Ich verstehe nur nicht, wieso Norbert nach dem Tod seiner Mutter in ein Heim musste. Ist er geistig irgendwie behindert oder psychisch instabil?` Das geht aus dem Text nicht so ganz hervor. Trotzdem eine super Geschichte!
 
Ich mag den Text. Im fünften Absatz fehlt zwischen Backe Backe ein Wort, vermute ich. Wir haben alle den ein oder anderen Norbert in unserer Umgebung, und ich bin der Ansicht, wir brauchen sie dringend. Sie machen uns weicher.
 

ThomasStefan

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Hallo texxxter, hallo Stachelbeermond! Danke für eure Zustimmung. Das fehlende "an" habe ich ergänzt, danke fürs genaue Lesen. Wieder mal eine Geschichte aus dem echten Leben.
Schönen Tag! Thomas
 



 
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