Mein Freund Samson

Es war die Zeit im Winter, in der sich nur wenige von uns aus dem Dorf wagten. Wir Kinder langweilten uns zu dieser Zeit. Es gab zwar immer Dinge wie Holz hacken, beim Kochen helfen oder Eisfischen, die zu erledigen waren, aber die meiste Zeit blieben wir im Warmen. Jetzt gerade saß ich am Fenster, hinter mir prasselte das Feuer im Blechofen und vor mir fielen große Schneeflocken auf eine feste meterhohe Schneedecke. In der Ecke saß unser Hund Samson, ein großer schwarzer Mischlingsrüde, und beobachtete mich aus den Augenwinkeln. Er achtete wie immer darauf, ob ich Anstalten machte, nach draußen zu gehen, oder ob ich mich aufraffen würde, um ihm seine Abendration zu servieren. Vielleicht überprüfte er aber auch kurz, ob es mir gut ging und ich eventuell Hilfe brauchen würde. Als ich seinen Blick erhaschte, konnte ich nicht anders und ging zu ihm hinüber.[ZB1] Er wedelte mit dem Schwanz und gähnte ausgelassen, während ich ihn zu kraulen begann und beruhigend auf ihn einsprach.
Die Türklinke wurde heruntergedrückt und mein Vater trat herein. Er war ein großer Mann mit breiten Schultern und einem gutmütigen Gesicht, welches sich bei meinem Anblick von Samson und mir zu einem Schmunzeln verzog: „Aye Juri. Du verwöhnst Samson. Er ist kein Kuscheltier. Er ist hier, um zu arbeiten.“
Ich schaute meinem Vater in die Augen. Ich wusste, dass er es ernst meint. Dennoch freute er sich über unsere Zweisamkeit und konnte mir gegenüber nicht konsequent sein. Ich grinste, gab Samson einen letzten Kuss und zog mich zurück an meinen Platz am Fenster. Samson sah mir währenddessen vorwurfsvoll hinterher und ließ sich anschließend mit allen Gliedmaßen und einem zufriedenen Seufzer auf den Boden fallen.
Es klopfte an der Tür. Wer konnte das so spät noch sein? Mein Vater rief dem Betroffenen durch die geschlossene Tür zu, dass er oder sie hereinkommen solle. Es war Ivan.
„Hallo Alexander“, Ivan nickte meinem Vater andächtig zu und dieser tat es ihm zur Begrüßung gleich.
Dann wandte sich mein bester Freund Ivan an mich: „Juri! Hast du gehört. Amir hat auf seinem Streifzug frische Tigerspuren gefunden. Er vermutet, dass er in der Nähe ist und bleibt. Er sagt, er ist jung. Sollen wir in den Wald gehen und schauen, was wir finden? Wir können Samson zur Verstärkung mitnehmen.“ Ich war hellauf begeistert und sprang von meinem Platz am Fenster auf.
„Ihr werdet nirgendwo hingehen. Selbst wenn ein Tiger in der Gegend rumschleicht, was ich nicht glaube, ist das erst recht kein Grund, ihm zu folgen“, rief mein Vater von seinem Sessel am Ofen und warf mir einen bösen Blick zu. „Aber ich habe noch nie einen gesehen. Sie sollen wunderschön und furchterregend zugleich sein“, antwortete ich angespannt.
„Und was, wenn er Hunger kriegt und dich auffrisst“, entgegnete mein Vater mit einer natürlichen Dosis an Sarkasmus. Doch ich erkannte an seinem Ton, dass es hier kein Entkommen gab. Ich schaute Ivan entschuldigend an und sagte: „Vielleicht ein andermal.“ Mein bester Freund ließ den Kopf hängen und verschwand schnell mit einem vorsichtigen Blick auf meinen Vater.
Schmollend saß ich mich wieder an meinen Platz am Fenster und schaute dem Schneetreiben zu.
Der nächste Tag brachte noch mehr Schnee und doch konnte ich an meinen Platz nur an eine Sache denken. Der Tiger. Nach den Informationen, die in unserem kleinen Dorf schnell die Runde gemacht hatten, war der Tiger noch jung und sehr abgemagert. Das Wetter erschwerte zusätzlich die Beutesuche. Noch schätzte ihn wohl keiner als Problem ein, aber es gab eine kleine Gruppe von Männern, die seine Spuren untersuchten und beobachteten.
Mein Vater erzählte mir, dass es lange her war, dass ein Tiger sich in die Nähe unseres Dorfes getraut hatte. Doch wir würden wie immer vorsichtig und klug vorgehen. Er verbat mir mich vom Dorf zu entfernen.
Eine Woche war seit dem Erscheinen des Tigers vergangen, als ich mich unten am Fluss aufhielt, um ein Loch ins Eis zu schlagen und eine Weile zu fischen. Es war ein ganzes Stück Arbeit. Doch letztendlich saß ich neben dem Loch und konnte angeln. Samson lag nicht weit entfernt angeleint an einem Baumstumpf. Um Die Mittagszeit kam Ivan vorbei und leistete mir Gesellschaft. Er brachte heißen Tee mit.
Wir tranken ihn gemeinsam und schwatzten weiterhin über den Tiger. Es gab nicht viele Neuigkeiten. Er schien sich zwar immer noch in der Gegend aufzuhalten, doch der Suchtrupp hatte seine Fährte verloren.
„Mein Vater sagt, wir können bald wieder in den Wald gehen“, erzählte Ivan munter. Mein bester Freund war ein richtiger Wirbelwind. Er hielt sich gerne in der Natur auf und begleitete seinen Vater bereits auf einigen Jagdtouren. Wenn er erwachsen war, wollte er ebenfalls Jäger werden, um das Dorf zu ernähren. „Dann muss ich endlich nicht mehr zur Schule“, prahlte er und trank erneut einen großen Schluck aus seinem Becher. Er fragte dann oft, ob ich mit ihm zusammen Jäger sein wollte. Ich nickte nur und meinte dann: „Was denn sonst.“ Obwohl ich insgeheim weder wusste, ob ich das wollte, noch konnte. Schließlich war ich nicht einmal im Stande, Samson richtig zu erziehen. Wie sollte ich da je einen Jagdhund abrichten, geschweige denn ein Tier töten.
Als der Tag sich dem Ende neigte, konnte ich einen guten Fang verbuchen und machte mich, nachdem ich mich von Ivan verabschiedet hatte, auf den Rückweg. Samson lief neben mir an der langen Leine. Plötzlich ging durch den riesigen Körper des Hundes ein Ruck. Sein Kamm stellte sich auf und er schnupperte mit weit aufgerissenen Augen. Mir wurde unruhig zumute. Schließlich fing er an zu bellen. „Samson, Aus“, rief ich energisch und versuchte ihn, mich anblicken zu lassen, damit er aufhörte. Ich stellte den Korb mit den Fischen auf den Boden und war einen Moment unachtsam. Beim Abstellen des Korbs, lockerte ich unwillkürlich die Leine. Das war der Moment, den Samson nutzte. Er schnellte nach vorne und riss mir die Leine aus den Fingern. „Verdammt“, fluchte ich, als die schnelle Bewegung der Leine einen Brandstreifen in meiner Handfläche hinterließ.
Ich sah Samson nach. Er war schon auf halben Weg über den zugefrorenen Fluss und die Böschung hoch in den angrenzenden Wald. „Samson, hieeer“, rief ich. Keine Chance.
Ich ließ alles stehen und liegen und rannte ihm, ohne weiter nach zu denken, hinterher. Am Anfang sah ich ihn noch. Immer wieder rief ich seinen Namen. Doch er schien jedwede Erziehung hinter sich vergessen zu haben. Als ich ihn im Dickicht auch nicht mehr sah, folgte ich nur noch seinen Spuren. Sie waren im Schnee gut zu erkennen. Was hat er nur gerochen oder gehört? Vor lauter Anspannung fing ich an zu zittern. Kalt war mir durch die Rennerei nicht mehr. Samson kannte Rehe, Füchse, Wölfe oder anderes Wild. Er jagte sie nicht. Jedenfalls nicht auf diese Entfernung.
Während ich seiner Spur folgte, sah ich nach links. Der Fluss begleitete mich weiterhin. Er führte mich nicht weiter in den Wald hinein, sondern eher näher an das Dorf heran. Was hatte er nur gehört? Ich dachte an den Tiger. Ich dachte an meinen Vater, der mir verboten hatte, in den Wald zu gehen. Ich ignorierte diesen Gedanken. Mein ganzer Fokus lag auf Samson. Ich würde nicht ohne ihn zurück gehen. Ich konnte die Häuser nun auf der anderen Seite des Flusses sehen und stoppte mitten in der Bewegung, als ein Geräusch mein Blut zu Eis gefrieren ließ. Es war ein Winseln, dass niemand hören möchte, der einen Hund liebte. Ich brach durch das Unterholz und da stand er. Er war mindestens vier Mal so groß und schwer wie Samson. Seine Tatzen entsprachen in etwa Samsons ganzer Schnauze und auch seine Fangzähne, die er gebleckt hatte, waren nicht annähernd mit denen des Hundes zu vergleichen, der vor ihm stand und ein Zeichen von sich gab. Ein Zeichen, dass er hier eindeutig unterlegen war. Dass er Angst hatte. Der Tiger fauchte bei unserem Anblick und blieb, wo er war. Unser plötzliches Auftauchen schien ihn überrascht zu haben und war gleichzeitig der einzige Grund, warum er noch nicht angegriffen hatte.
„Samson“, flüsterte ich. Doch dieser war vollkommen außer Kontrolle. Er hatte ihn gefunden. Er hatte ihn gerochen. Wieso war er dann auf ihn zugelaufen?
„Samson, komm zurück“, rief ich ihm etwas lauter zu und er sah mich kurz von der Seite an. Ich sah das Weiße in seinen Augen. Die großen schwarzen Augen sahen in die meinen. „Nein, komm zurück“, rief ich ihm zu. Doch er begann zu knurren. Normalerweise hätte ich gesagt, dass dieses Knurren angsteinflößend war. Doch die Reaktion, die er aus der gegenüberliegenden Ecke erhielt, war nichts im Vergleich dazu. Wir waren auf den König der Taiga gestoßen. Dem schwarzen Drachen wie ihn manche nannten.
Ich sah erneut auf Samson und rief ihn ein letztes Mal. Mit meinem Ruf unterbrach er sein Knurren und stürzte sich auf den Eindringling.
Später konnte ich nicht mehr genau sagen, was alles passierte. Ich sah Zähne blitzend und hörte die großen Krallen das zarte Fell meines Hundes zerrissen. Mehr nicht. Mein Gehirn verarbeitete die Bilder nicht. Es schützte mich vor den grausamen Bildern. Doch der König des Waldes beendete den ungleichen Kampf schnell und effektiv. An meine Ohren drang ein markerschütterndes Heulen von Samson. Tränen benetzen mein Gesicht. Das Heulen zerriss mein Herz. Ich dachte nur: Ich muss ihm helfen und ich kann nichts machen. Sollte ich weglaufen? Doch ich blieb wo ich war, unfähig mich aus meiner Starre zu befreien.
Das Heulen schwang in ein Winseln, dann in röcheln um und schließlich erschlaffte der Körper meines geliebten Samson‘s. Er hing nun in der Schnauze des Tigers. Blut tropfte auf den zerwühlten Schnee zu den Füßen des Tigers. Dieser warf mir einen letzten Blick zu, schien mich jedoch nicht als Bedrohung wahrzunehmen. In aller Ruhe schleppte er seine Beute aus meinem Sichtfeld.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gestanden hatte. Doch irgendwann packte mich jemand an der Schulter. Die Qualen von Samson hatte man gut in dem Dorf hören können. Mein Vater hielt mich im Arm.


„Du musst ihn mit zur Truppe lassen, Alexander. Wir passen auf ihn auf“, ich hörte Stimmen, doch ließ die Augen geschlossen. Ich realisierte, dass ich auf dem Sofa im Wohnzimmer lag und meinem Vater und Ivans Vater beim Gespräch zuhörte. „Er muss damit abschließen können. Das Biest zu töten, ist das Beste, was er tun kann“, das war Michail, Ivans Vater. „Er ist zu jung und ich halte nichts von eurem Vorhaben. Der Tiger ist weg und das ist auch gut so“, das kam von meinem Vater. „Er wird wiederkommen. Diese Tiere legen lange Strecken zurück, um Beute zu finden und er ist jung. Er hat noch nicht viel Erfahrung. Er wird wiederkommen. Bei uns hat er ja leicht Beute gefunden“, antwortete Michail.
Mit geschlossenen Augen lag ich da. Drei Tage waren vergangen. Seitdem lag ich auf diesem Sofa. Dieses Sofa, das nach Samson roch. Ich wollte so lange hierbleiben, bis der Geruch nicht mehr da war. Wenn er verschwand…, ich konnte den Satz nicht zu Ende bringen.
Doch das Gespräch interessierte mich. Ich hatte bereits davon gehört, dass der Suchtrupp nun vergrößert worden war und darauf aus war, den Tiger zu stellen und zu töten. Es ging natürlich nicht nur um Samson. Vielmehr trieb sie die Frage an, wen das Untier das nächste Mal fressen würde.
„Glaub mir. Sobald diese Tiere einmal auf den Geschmack gekommen sind…“, er führte seinen Satz nicht zu Ende. „Ist mir egal. Ich verbiete es ihm“, widersprach mein Vater. Ich hatte gehört, dass sich mein Vater dem Trupp nicht angeschlossen hatte. Er redete sich raus, indem er vorgab, auf mich aufpassen zu wollen, doch ich glaubte insgeheim, war er gegen die Tötung des Tieres. Ich konnte in seinen Augen sehen, dass auch er Samson vermisste. Dennoch hatte er seine Prinzipien.
Doch von denen wollte ich jetzt nichts hören. Ich wollte dem Trupp beitreten. Ich wollte Gerechtigkeit für Samson. Ich wollte diesem Monster Schmerzen zufügen, wie er es auch bei Samson getan hatte. Ich konnte es immer noch hören, sein Gejaule. Ich hielt mir die Ohren zu, um das Jaulen aus meinen Gedanken zu verjagen.
„Er ist wach. Ich glaube du gehst jetzt besser Michail“, der Ton meines Vaters ließ keinen Widerspruch zu und so verließ Michail uns und warf mir einen missmutigen Blick zu. Er hält mich sicher für schwach, weil ich hier auf dem Sofa rumsitze, dachte ich bekümmert und wich dem fragenden Blick meines Vaters aus. „Ich möchte nicht reden“, sagte ich und drehte ihm den Rücken zu.
Am nächsten Tag hatte ich meinen Platz wieder am Fenster eingenommen. Es fiel kein Schnee mehr. Das Wetter war besser geworden. „Ich gehe kurz raus“, erklärte mein Vater im Vorbeigehen. Vermutlich wollte er zu meiner Oma, um ihr beim Reparieren ihres Gartenzauns zu helfen. Ich nickte nur und starrte weiterhin nach draußen. Als er weg war, sah ich auf die Tür, die sich soeben hinter ihm geschlossen hatte. In meinem Kopf raste es. Ich hatte soeben etwas in der verschneiten Landschaft gesehen, das mich interessierte. Der Trupp war unterwegs. Ich hatte sie gesehen. Jetzt war meine Chance. Mein Blick verharrte auf der Tür. Sollte ich es für meinen Seelenheil wagen? Michail war der Meinung, dass es eine gute Idee war, um mich von meinem Leid zu befreien. Was war, wenn er Recht hatte? Wie mechanisch stand ich auf, griff nach der Jacke, dem Gewehr, das an der Tür lehnte und verließ die Hütte.
Es war nicht schwer die Truppe zu finden. Sie standen am anderen Flussufer und besprachen ihre Strategie. Michail sah mich kommen und bremste mich sofort ab: „Dein Vater hat es verboten.“ Ich schüttelte den Kopf: „Er hat es sich anders überlegt.“ Michail sah mich misstrauisch an. Dann seufzte er und murmelte: „Na, wenn du das sagst, mein Junge.“ Er holte mich in die Mitte der Jäger und verkündete lautstark: „Heute werden wir nur die bestehenden Fallen überprüfen. Wenn wir ihn gefangen haben sollten, holt ihr bitte den Rest. Ihr macht nichts ohne mich. Ist das klar?“ Ich sah mich um. Die meisten Jäger, die dabei waren, waren schon älter. Nur Ivan und ich waren praktisch noch Kinder in ihren Augen.
„Die Fallen sind weit verstreut. Geht bitte immer zu zweit“, erklärte Michail. „Juri, du gehst am besten mit Ivan. Er ist von Anfang an dabei gewesen und kann dir die Fallen zeigen“, teilte mich Michail meinem Freund zu.
„Na dann los“, sagte Ivan und knuffte mir in die Seite. Ich hatte ihn seit dem Tag, an dem Samsons seinen Tod gefunden hatte, nicht mehr gesehen. Ich wusste nicht genau, was er über mich dachte. Doch in seinen Wundwinkeln sah ich ein verstecktes Lächeln. Er war wohl froh, mich außerhalb meiner Hütte zu sehen. Ich folgte ihm mit geschultertem Gewehr in den Wald. Mein Herz klopfte wild. Wir hatten die westliche Route übernommen und das bedeutete, dass es uns nah an den Ort des Geschehens heranführte.
Wir überprüften zwei Schlingen. Der Schnee war noch unberührt und wir mussten feststellen, dass hier schon lange nichts größeres mehr als ein Hase vorbeigekommen war.
„Na komm. Es gibt noch eine Schlinge, die wir überprüfen müssen. Sie ist da oben auf dem Hügel“, er deutete auf den schneebedeckten Berg vor uns. Ich sah ihn zweifelnd an: „Da oben soll sich ein Tiger hoch wagen?“ Der Berg stieg sehr steil an. Ivan nickte nur und begann den Aufstieg.
Rutschend und ächzend erreichten wir die Spitze des Berges und Ivan ließ mich zum Stehen kommen, indem er seinen linken Arm ausstreckte und mich so am Weitergehen hinderte. „Da vorne ist die Schlinge“, flüsterte er. Ich fragte mich, warum er flüsterte. Doch dann hörte ich es. Große Tatzen brachen durchs Unterholz. Da kam etwas auf uns zu.
„Komm her. Hier herauf“, bedeutete mir Ivan. Wir kletterten auf einen nahgelegenen Baum, der durch tiefhängende Äste das perfekte Versteck war, um die Ankunft des Tigers abzuwarten.
Es dauerte nicht lange bis wir sahen, was wir vorher gehört hatten. Ich hielt den Atem an. Da war er wieder. Es war definitiv derselbe Tiger. Nie könnte ich diese Augen vergessen, die Statur, die riesigen Tatzen, sowie seine dolchartigen Zähne. Doch tatsächlich konnte ich wenig von dem Tier sehen, dass Samson umgebracht hatte. Seine Tatzen waren im Schnee versunken und auch seine Zähne zeigte er uns nicht. Er schien fast friedlich wie eine Hauskatze durchs Unterholz zu wackeln. Er sah sich ständig um und schnupperte immer wieder. Wenn er uns roch, würde er sicherlich flüchten. Während ich dem König des Waldes dabei zuschaute, wie er sich langsam der Schlinge näherte, spürte ich, wie in mir der Wunsch aufkam, ihn selbst mit dem Gewehr zu erschießen. Wir waren in der besten Position. Er wusste nicht, dass wir da waren. Er war zwar weit entfernt, dennoch war er in Schussnähe.
Ich griff nach dem Gewehr. Doch Ivan packte mich und schüttelte nur den Kopf. Er ruckte mit dem Kopf zur Schlinge und bedeutete mir stumm zu warten. Der sanfte anmutige Gang des Tigers zwang ihn langsam voran zu kommen. Er war nicht in Eile. Die Minuten verstrichen und ich konnte es kaum ertragen, dem Monster, das meinen Samson gefressen hatte, dabei zuzusehen, wie er seelenruhig durch den Wald ging, als wäre nichts geschehen. Er kam uns langsam näher und sein Blick sah immer häufiger in unsere Richtung. Seine gelben Augen richteten sich auf uns, oder dort, wo er anscheinend vermutete, uns zu sehen. Ich sah ihm direkt in die Augen. Diese Katzenaugen. Die bösen Augen. Die Augen, die entschieden hatten, Samson zu töten.
Doch plötzlich sah ich darin etwas anderes: Scheu und Unsicherheit. Ich runzelte die Stirn. In mir meldete sich etwas. Ein Gefühl. Ich verband es mit Samson. Dieses Gefühl der Zuneigung. Des Gefühls des Beschützens. War dies nicht ein Tier wie Samson. Hatte es nicht einfach nur reagiert, um zu überleben? Ich sah mir seinen Körper nochmal genauer an. Ich musste feststellen, dass ich seine Rippen auf die Entfernung erkennen konnte. Er hatte Hunger. Er kämpfte ums Überleben. Die Situation des Tigers richtig einschätzend, zerriss es mir das Herz. Er hatte aus der Not heraus gehandelt. Genau wie Samson mich hatte beschützen wollen, so hatte der Tiger Samson aus Instinkt getötet. Er hatte leichte Beute gesehen. Es war nicht seine Schuld. Was brachte es ihn umzubringen?
Alles in mir sprach sich für das Überleben des Tigers aus. Es war falsch, dachte ich und mit einem Schmunzeln schimpfte ich mit mir: Du wirst nie ein guter Jäger werden.
Kurzerhand hob ich das Gewehr und bevor mich Ivan davon abhalten konnte, feuerte ich einen Schuss in die Luft. Ein Ruck ging durch das Tier und mit einem Wimperschlag war er verschwunden. Ivan sah mich kurz an und sprang vom Baum herunter. Er sah sich um, ob er noch etwas von dem Tier sehen konnte. Dann richtete sich seine Wut gegen mich. „Warum hast du das getan? Wir hatten ihn fast!“, schrie er. Ich zuckte mit den Schultern. Ivans Gesicht wurde rot vor Wut. Meine Ruhe schien ihn nur wütender zu machen. Ohne Vorwarnung holte er aus und schlug mir ins Gesicht. Die Wucht des Schlags traf mich so unvorbereitet, dass ich in den Schnee fiel. Ivan stand über mir und spuckte mir entgegen: „Mein Vater hatte Recht. Du bist ein Schwächling.“ Eine Weile verharrten wir so und ich sah ihn einfach nur an.
Dann mit einem letzten Blick auf meinen besten Freund, raffte ich mich auf und rannte den Hügel hinunter und zurück zum Dorf. Ich rannte, wie ich noch nie in meinem Leben gerannt war. Jetzt wusste ich des Rätsels Lösung. Ich hatte meinen Ausweg für uns und unser Dorf gefunden. Ich wusste, wo ich hinmusste. Zum Haus meiner Lehrerin. Angekommen, klopfte ich mit beiden Händen gegen die Tür. Frau Iwanov öffnete und sah mich überrascht an. Ich japste und versuchte genug Atem zu bekommen, um etwas zu sagen. „Frau Iwanov. Ich brauche ihre Hilfe“, keuchte ich ernst.

Es hatte wieder angefangen zu schneien. Ich saß an meinem üblichen Platz am Fenster und sah dem Schnee beim Fallen zu. Ich hörte Motorgeräusche und wenige Minuten später kamen mein Vater und eine Frau durch die Tür. Ich sah auf. Mein Vater sah mich ernst an, doch die Frau lächelte mir sanft zu. Sie war zur Hilfe gekommen. Ihr Name war, soweit ich mich erinnere, Angela.
Angela griff nach einem Stuhl und setzte sich mir gegenüber, sodass mir der Blick nach draußen versperrt wurde.
„Juri, wie geht’s dir?“
„Gut“, nuschelte ich, sah sie aber nicht an.
„Wir haben ihn, weißt du? Alles wird gut. Niemand wird ihm etwas zu leide tun“, sie wartete auf meine Reaktion. Als keine kam, fragte sie: „Was ist los? Freust du dich denn gar nicht?“
Eine Weile schwieg ich. Dann überwand ich meinen Stolz und sagte: „Ich denke Ivan und Michail sind sehr wütend auf mich.“
Ich hörte Schritte und ein kurzes Brummen von meinem Vater. Doch Angela hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. „Hör mal, Juri. Mach dir keine Sorgen. Sie werden sich schon beruhigen. Du solltest stolz auf dich sein. Du hast ein wehrloses Tier vor dem Tod gerettet“, sagte sie mit ruhiger Stimme.
Ich sah sie an: „Wehrlos.“ Es war keine Frage. Nur eine Sache, die ich selbst noch nicht entschieden hatte. Anscheinend ging Angela ein Licht auf, denn sie sagte:
„Ah ich weiß, wo der Schuh drückt. Also wenn du dich fragst, ob du das Richtige getan hast, dann kann ich dies mit einem klaren Ja beantworten. Der Tiger“, sie zögerte, schmunzelte und fragte, „ich glaube du hattest ihm einen Namen gegeben, oder?“
„Samson“, kam es kaum merklich von mir.
„Ja, richtig Samson. Tiere wie Samson kommen den Menschen immer näher. An diesem Ort war es die fehlende Mutter, der ihn in die Nähe der Menschen trieb. An anderen Orten ist es das fehlende Zuhause und damit die fehlende Nahrung. Samson dann aber aus Angst zu töten, ist verständlich aber falsch“, erklärte sie.
„Wieso“, fragte ich.
„Weil er wichtig für den Kreislauf des Waldes ist. Wenn ein so großes Raubtier aus dem Wald verschwindet, weil es ausstirbt oder ausgerottet wird, haben wir bald ganz andere Probleme. Das Wild wird bspw. Überhand nehmen und eine Kettenreaktion auslösen. Der Wald ist ein empfindliches System. Entfernst du ein wichtiges Element, bricht alles in sich zusammen. Verstehst du?“
Ich nickte.

„Möchtest du ihn ein letztes Mal sehen, bevor wir fahren“, fragte sie. Ich nickte. Während wir nach draußen gingen, erklärte sie mir, dass er in eine Auffangstation kommt und dort aufgepäppelt wird. Nach einer gewissen Zeit kommt er in ein Auswilderungsprogramm, damit er irgendwann wieder für sich selbst sorgen kann. Der Truck in dem Samson lag, war gänzlich in Metall verkleidet. Nur zwei kleine Fenster auf der oberen Seite konnten Aufschluss auf den Inhalt geben. Mithilfe einer Leiter gelangte ich zum Fenster und schaute hinein. Unten auf dem Boden des Lasters lag er. Er war betäubt worden. Es sah so aus, als ob er friedlich schlafen würde.
„Mach´s gut Samson. Ich wünsche dir ein tolles Leben. Bitte töte in Zukunft nur noch Rehe, okay?“, flüsterte ich und stieg die Leiter hinab.
 



 
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