Mein Leben als Ich-Erzähler

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Ralf Langer

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Sinn – Leben- Lyrik

Manchmal schlägt ein blauer Schmetterling mit den Flügeln und die Welt gerät aus den Fugen.
Meisstens aber passiert nichts.
Das Leben hält für den Einzelnen mehr spurlose Begegnungen bereit als folgenschwere Ereignisse.
Das ist die Kausalität des Lebens:
Aus A folgt nicht B. Etwas beginnt und etwas endet. Dann beginnt etwas Neues;
wir nennen es B.
Der Wunsch das Leben zu verketten, treibt den Menschen dazu an Ereignissen so lange herumzuzerren, sie zu dehnen, zu biegen, bis aus vielem Zugefallenem eine eigene Geschichte wird.
Es bleibt ein ausgedachtes Etwas.
Die Vergangenheit ist nicht mehr als ein verführerischer Traum, der uns daran glauben lassen will, das es neben der reinen Existenz auch eine erzählbare Geschichte der Existenz gibt.
So ist die Vergangenheit das Einzige, das wir ohne uns zu erinnern, täglich ändern .


Was ist meine Kunst – ein Versuch.

Der Weg in die Lyrik.

Gibt es so etwas, oder ist schon der Versuch zu klären, wie es dazu kam, dass ich mich heute der Lyrik verpflichtet fühle, ein Gedichtetes an sich.
Die Vergangenheit ist ja wie Wachs zwischen den Händen. Da sind Erinnerungen an Ereignisse. Am besten wäre sie einfach aufzulisten, aber daraus entwickelte sich ja keine Geschichte, kein Ganzes.
Also schlage ich Brücken, besser ich baue sie, von einem Ereignis A zu einem Ereignis B. Die Brücke ist dann Kausalität. Obschon sie bildlich gesehen etwas in der Luft überquert, ist sie für die eigene Vita der eigentliche Grund.
Und Gründe brauchen wir. Was wären wir, wenn alles was geschehen ist rein phänomenal wäre?
Wenn wir uns nur einredeten, das die Dinge des Lebensalltags sozusagen zwingend zu dem führten was wir heute sind ?

Ich blicke zurück und sehe einen Jungen von fünfzehn Jahren. Er ist ein geselliger Typ. Akne zeichnet sein spätpubertäres Gesicht Der Junge spielt Handball, liest Perry Rhodan, geht in einen Bibelkurs, und schaut mittlerweise interessiert, aber planlos, jungen Mädchen hinterher.
Es ist eine Deutschstunde, wahrscheinlich um 1983, der Name der Deutschlehrerin ist nicht mehr geläufig. Die Gesichter der Klassenkameraden sind mit der Zeit verschwunden.
Alles ist im nicht mehr greifbaren meines Gehirns entschwunden.

Dann lesen wir Gottfried Benn. Verlorenes Ich.

Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, was sie aber zweifelsfrei tut, haben wir vorher von der Hülsthoff die Judenbuche und im Nachgang romantische Gedichte von Eichendorff gelesen.
Ich weiß es nicht mehr, aber wenn es so gewesen sein sollte, würde es Sinn machen.

Das eigentliche Ereignis geschieht nicht im Sinne einer Tat, Was geschieht geschieht in mir.
Es ist nicht visuell. Es ist ein Ereignis des Geistes, oder dessen was ich „Ich“ nennen möchte.

Ich komme aus keinem lyrischen Hause. Das Kunstverständnis meiner Eltern war nicht existent.
Ich würde gerne behaupten an einer Wohnzimmerwand hing der berühmte röhrende Hirsch. Aber das tat er nicht. Wir hatten keine Bilder im Hause, abgesehen von einem Foto meiner früh verstorbene Schwester, war nichts an das ich mich erinnere.

Vater, Jahrgang 31, gelernter Schlosser, dann über den zweiten Bildungsweg Techniker Fachrichtung Maschinenbau, und im Alter von vierzig Jahren noch eine Prüfung zum Meister abgelegt.
Mutter, Jahrgang 32, gelernt Fleischereifachverkäuferin, dann Hausfrau und Mutter.

Gemeinsame Hobbys? Auch hier müßte ich raten oder lügen. Ich lass es bleiben.
Handarbeiten würde ich zumindest als Hobby meiner Mutter zugestehen. Aber, in den sechziger und siebziger Jahren wurde über all noch viel genäht und geschneidert, weil es billiger war. Vielleicht war es also kein Hobby, sondern eher eine Notwendigkeit.

Zumindest erinnere ich, das mein Vater gerne Erich von Däniken las, und einiges an eigenen Gedanken dazu entwickelte. Am liebsten in seiner Stammkneipe, die auf halbem Fußweg von seiner Arbeit zu uns nach Hause lag.
Wenn ich meinen inneren Blick durch unser Wohnzimmer schweifen lasse, sehe ich im Regal neben dem ewigen Krimskrams; eine Bambi aus Holz, ein paarVasen, und weiterem Gedöne, das nur als Staubfänger diente, dann sehe ich dort circa zwanzig Bücher. Einbände gefasst in Schweinsleder, Relikte aus der Teilnahme an einem Bücherclub. Zwei Titel fallen mir ein:
„Eisen“ und , „Uran“
Nur wegen der Titel, die meinen Vater wohl fasziniert hatten, sind sie dort - und ungelesen ins Regal zum Vergessen gestellt worden.

Das war mein lyrisches Umfeld.
Und dann kam Benn:

Und ab hier begänne ich mir meinen eigenen Werdegang zusammenzureimen. Hier begänne der Versuch mir einen Big Bang einzureden. Einen eigenen Schöpfungsmythos, der mich geradewegs an diesen Schreibtisch führt, an dem ich im Moment sitze, und über mein Leben nachdenke.
Ah, wie verführerisch!

Aber ich lasse das. Nur das Innere lebt. Und dieses Innere wurde damals berührt. Ich denke es spürte sich an wie Verwunderung. Und damit war Neugier da, und ich kaufte mir nicht viel später einen Gedichtband Benns, der all seine veröffentlichten Gedichte enthielt.

Es waren etwa 250 Stück. Aber nur ganz wenige von Ihnen sprachen mit mir:
„Kleine Aster“ zum Beispiel, „Mutter“, „Gang durch die Krebsbaracke“ und natürlich „Verlorenes Ich“. Das allermeiste hatte mir damals aber noch nichts zu sagen.
Dann passierte Nichts. Natürlich ist das falsch, etwas geschieht immer: Ich hatte eine erste Freundin, ich verließ den Bibelkreis, fuhr in den Skiurlaub,verletzte mich schwer beim Handball.

Aber erst kurz vor dem Abitur geschah mir etwas weiteres, was mich an diesem Schreibtisch sitzen lässt. Es gab in der Schule eine Projektwoche, und innerhalb dieser Projektwoche gab es ein Seminar zum Thema „kreatives Schreiben“.
Ich erinnere mich an kein Detail, müsste wieder zusammnreimen, was ich erneut nicht tue.
Aber zum Abschluss der Projektwoche gab es eine „öffentliche“ Lesung im Musikzimmer der Schule. Und hier las ich meines ersten Prosatext. Das war wahrscheinlich 1984.
Ich sehe mich noch sehr genau neben dem Piano sitzen, sehe heute noch die Gesichter der
Anwesenden, ihre höflich gespielte Neugier, und ich höre mich diesen Text mit leicht zitternde Stimme lesen.
Das alles ist ganz da. Es steht wie greifbares neben mir.
Dann Applaus. Eine Stimme forderte mich auf den Text noch einmal zu lesen,was ich aber nicht tat.
Und als ich das Musikzimmer verließ, hielt mich ein Lehrer auf und fragte ob ich diesen Text selber geschrieben hätte.

Ich möchte heute glauben, das er es nicht glauben konnte, weil der Text wohl sehr erwachsen Klang. Aber das könnte schon wieder eine Einbildung von mir sein.
Es waren ein paar Zeilen die mit dem berühmten Satz:

„Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin“ … „dann kommt der Krieg zu dir“,
die also mit diesem Satz in einer Variante spielten.

Von diesem Tag an habe ich so etwas wie ein literarisches Tagebuch geführt, habe damit begonnen selbst Texte zu verfassen, die längst im Dunkel einer Mülltonne verschwunden sind.
Dann geschah wieder Nichts. Nichts heißt ich machte Abitur, machte Zivildienst, fing ein Studium an, beendete es vorzeitig, und so weiter. Alles nur Einzelstücke im Leben. Nichts was ich mit dem heutigen Tag in Verbindung bringen kann.

Irgendwann in den frühen Neunziger Jahren lernte ich Michael Klaus kennen. Gelsenkirchener. Schriftsteller.

Er hatte als Lehrer gearbeitet, und hatte sich in eine seiner Schülerinnen verliebt. Sie war damals schon achtzehn. Alles erlaubt. Er musste die Schule dennoch verlassen. Und er wurde Schriftsteller. Mittlerweile verstorben. Ich möchte behaupten er war ein Freund. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er es genauso beschreiben würde.
Nichtsdestotrotz: Plötzlich kannte ich jemanden, einen Lebenden, einen Gelsenkirchner zu dem, der Schriftsteller war. Jemanden der mit Müh und Not, aber immerhin , seinen Lebensunterhalt mit seiner Kunst verdiente. Und jemanden der, als er von mir erfahren hatte, das ich „auch schriebe“, darauf bestand Texte von mir zu lesen.

Das war das letzte Mal, das ich mich schämte für das was ich so „im Geheimen“ tat. Er nahm mir die Scham. Ich erinnere nicht mehr wie, oder ob es überhaupt ein „wie“gab.
Aber ich schrieb jetzt in der Öffentlichkeit, nicht mehr nur spät Abends allein Zuhause. Ich begann zu notieren, vorzuformulieren, mich zu hinterfragen, zu verwerfen, und die Dinge um mich herum auf eine speziellere Art wahrzunehmen.
Ich weiß gar nicht zu sagen wie, und daran hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert.

Vielleicht könnte man sagen, während viele Menschen nur „sehen“, also empirisch wahrnehmen, begann ich zu „schauen“. Kann man das verstehen?
Nun, ich verstehe es.
Im Rückblick möchte ich meinen in diesem Zeitraum, trat die Lyrik, die schon geöffnete Tür in mein Leben, vollends auf.
Im übrigen kann ich nicht behaupten das mich Michael Klaus im eigentlichen Sinne ermunterte zu schreiben, oder das er mir gar half. Auch er war Monist, ein hermetisches Wesen, wenn es um „seine“ Kunst ging.
Es scheint da keine aufklärerischen Prozesse zu geben. Der Künstler schöpft nur aus sich selbst.
Ich wünschte mir er hätte gesagt: „Du musst deine Sprache finden“, oder etwas ähnlich rituell geheimnisvolles, aber das hat er nie getan.
Aber wir haben viel über die Einsamkeit, das „alleine Sein“ in der Kunst, und über das Glück an sich, das dieser Prozess dem Schreibenden vermittelt, gesprochen.

Immerhin, zusätzlich hat sich eine Veränderung im Umfeld meines Bekanntenkreises ergeben. Durch Michael lernt ich Glasmeier kennen, durch Glasmeier öffnete sich die Tür zum Kulturamt der Stadt Gelsenkirchen. Und dadurch lernte ich auf Vernissagen, auf die ich plötzlich offiziell eingeladen, wurde viele Gelsenkirchener Künstler kennen.

Hier begriff ich die Kulturwelt ist nicht deckungsgleich mit der Welt der Kunst. Ganz im Gegenteil, sie berühren sich kaum. Es sind die Künstler die diesen Kulturraum betreten, und wieder verlassen. Sie sind nicht Teil, sie sind nur wie Schilder auf einer Straße. Sie geben der Kultur einen Namen, sie sind aber nicht der Name.
 

Ralf Langer

Mitglied
Liebe Lesenden,
dies ist der erste Teil, ein Versuch meinem Leben im autobiogrphischen Sinne eine erzählbare Geschichte an Heim zustellen.
Lg
Ralf
 

revilo

Mitglied
Und wann kommt der Versuch, dem 14. Tabellenplatz zu entfliehen? Ist das nicht auch autobiografisch? Schön, dass Du wieder hier bist! Ich habe im Moment keine Muße das zu lesen, werde aber gerne darauf zurückkommen.Herzliche Grüße von Oliver
 

revilo

Mitglied
Der Text inspiriert mich, über meinen Weg in die oder zur Lyrik nachzudenken … Nur so viel: Ich bin in einer Familie groß geworden, in der es unmöglich war, Büchern aus dem Weg zu gehen … Und an die Umstände meines selbst geschriebenen Gedichts kann ich mich noch gut erinnern.......
 
G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Bei Deinem Text fällt mir "German Angst" ein...gerne gelesen....
Herzlichst Sue
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo Oli,
ja die "Wege" sind so vielfältig wie die Summe der Menschen.
Schließlich geht es zumindest mir darum, mir selber bewußt zu werden, warum das Leben "Heute" ist wie es ist.
Gibt es tatsächlich diesen "gewählten Weg", oder ist das alles nur Konstruktion?
Ich glaube Max Frisch hat mal geschreiben, ich glaube es war in "Mein Name sei Gantenbein"

" Ein Mann macht Erfahrungen, und jetzt sucht er die Geschichte zu den Erfahrungen"
(so oder ähnlich)
Lg
Ralf
 

revilo

Mitglied
Hallo Ralf, das Buch habe ich in meiner Jugendzeit gelesen … Ich habe allerdings kaum noch Erinnerungen … Das Zitat ist stark … Ich bin mehr Bauch-als Kopfmensch und versuche mir so das Leben zu erschließen … Ich mag Kunst und Kultur sehr, bewege mich aber nicht in diesen Kreisen, weil es dort häufig sehr aufgesetzt zugeht … Aber ohne Literatur, Kunst und Schreiben geht es bei mir nicht … Und im Gegensatz zu Dir hatte ich ein Elternhaus, in dem Bücher ein wichtiges Gut waren und ich hatte immer vollen Zugang zu Bücherei meines Vaters … Da durfte ich auch ungeniert als Bubi mit roten Ohren die Erotik-Ecke frequentierten … Aber es geht ja hier nicht um mich, sondern um Dich … Ganz kurz zu meinem 1. Gedicht: Über Ostern war ich mit einer christlichen Jugendgruppe in einer Freizeit … In dem Gottesdienst sollte es über unser persönliches Leid gehen … Mit einem Partner sollten wir dann unsere persönliche Leidensgeschichte besprechen, diese auf einen zuvor gebastelten Würfel schreiben … Aus den Würfeln der Teilnehmer wurde dann der Altar des Leidens gebaut und wir feierten daran einen Gottesdienst … Der Text, den ich auf den Würfel schrieb, war mein 1. Gedicht … Ich kann mich nicht mehr an dessen Inhalt erinnern, wohl aber an die Umstände, unter denen es zustande kam … Dies nur so am Rande … Herzliche Grüße von einem, der sich gestern vor dem Fernseher hoffnungsvoll das Trikot angezogen hat, aber enttäuscht wurde …
 



 
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