„Mein Lied“ - Aus den Jugendschriften (Frühwerk)

Mein Lied


Die alte Frau stinkt.
Sie kommt an mein Bett und zieht mir die Decke bis zum Hals.
Dann streicht sie meine Haare aus dem Gesicht und küsst meine Stirn. So, als wäre ich ein Kind.
Ich bin kein Kind mehr.
Ich bin dreizehn und bemitleide mich ein bisschen.
Mir fällt auf, dass sie kein Gebiss trägt. Außerdem fault sie aus dem Mund.
Ich sage: „Gute Nacht.“

Am Morgen um halb sieben ist es kalt.
Es ist halb sieben, sagt die alte Frau.
Mmh-mmh sage ich. Mehr will ich nicht sagen: Ich habe noch keine Stimme. Ich krächze.
Aufstehen will ich auch nicht.
Vorsichtig taste ich mich mit meiner Zehe unter der Decke hervor.
Ich merke, das Fenster ist auf.
Im Bad dann wasche ich mich kalt. Eine Spinne krabbelt schnell von mir fort, flüchtet an die Decke.
Ich merke, ich muss aufs Klo.
Der alte Mann hat wieder danebengemacht: Es stinkt. Der Klodeckel ist auch schmutzig.
Ich gehe in die Küche, wo ich meine Hände wasche und Teewasser aufsetze.
Ein Insekt verschwindet in der Mauerritze.
Draußen ist es noch dunkel.
Ich trinke meinen Tee und bemitleide mich ein bisschen.
Dann gehe ich in die Schule.




Geschrieben irgendwann in den 90-ern (undatiert)
 



 
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