Mein wahres Ich

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Hera Klit

Mitglied
Mein wahres Ich


Ich erwache morgens in aller Herrgottsfrühe, starte die Kaffeemaschine und trete an den Badspiegel heran. Leider erblicke ich ein recht zerknittertes Gesicht mit einem deutlichen Bartschatten und einer total verwuschelten braunen Kurzhaarfrisur darüber.
Weil ich dies nicht lange ertragen kann, beschließe ich mich schleunigst zu verändern.
Also wasche ich mein Gesicht, das nun gleich etwas frischer wirkt, wobei in mir die Frage auftaucht:, „Bin ich der mit dem zerknautschten, ungewaschenen Gesicht, oder der mit dem frisch gewaschenen?“
Nach dem Zähneputzen rasiere ich mich gründlich, weil ich Haare in meinem Gesicht grundsätzlich nicht ertragen kann, wobei bei mir die Frage auftaucht:
„Lüge ich jetzt? Ist mein eigentliches, echtes Ich nicht vollbärtig, oder zumindest ein Dreitagebarttyp?

Nach dem Duschen style ich meine, aus meinem scheinbar eigenen Kopf sprießenden, kurzen, braunen Haare, die ich regelmäßig töne, so feminin wie ich es nur irgendwie hinbekomme.
Evtl. schon wieder ergraute Schläfen besprühe ich geschickt mit brauner Ansatzfarbe, wobei ich mich echt frage:
„Lüge ich jetzt? Müsste mein echtes Ich nicht eine praktisch gestutzte Herrenkurzhaarfrisur zur Schau tragen?“

Dann ziehe ich meine Augenbrauen mit dem dunkelbrauen Augenbrauenstift nach, ziehe sogar am unteren Augenlid nochmal unverfrorener Weise einen leichten Lidstrich, denn dann werden meine Augen meiner bescheidenen Meinung nach viel ausdrucksstärker. Zusätzlich nutze ich noch etwas getönte Tagescreme und gelegentlich noch einen dezent gefärbten Labello, um die Lippen kussechter zu machen.
Natürlich befallen mich bei meinem törichten Tun gehörige Zweifel und ich frage mich:
„Ist mein echtes Ichgesicht nicht das, welches nur mit Kernseife und Waschlappen abgewischt gehört und ungeschönt der Menschheit zu präsentieren ist?
Nun ziehe ich Klamotten an, die ich als mindestens androgyn bezeichnen möchte und
gehe hinaus ans helle Tageslicht, um der Welt die Stirn zu bieten, dabei stets hoffend irgendwo, im Discounter oder in einem Straßencafé, dem Richtigen zu begegnen, der solche Zwischenwesen wie ich es glaube jetzt zu sein anziehend findet.

Manchmal reicht mir das alles nicht und dann gebe ich meiner Sehnsucht so feminin wie möglich und so anziehend wie möglich auf Männer zu wirken, total nach und dann schminke ich mich extrem, setzte eine Perücke, die für Frauen gedacht ist auf, ziehe Nylonstrümpfe an und High Heels und ein ganz kurzes Kleidchen mit einem winzigen Slip darunter. Womöglich lackiere ich mir sogar noch die Nägel und dann fotografiere ich mich mit Selbstauslöser in den putzigsten, Stellungen und Positionen und versuche ein absolut begehrenswertes lebenslustiges Ding zu verkörpern.
Die best gelungensten dieser Bilder lade ich dann in einschlägigen Foren hoch und freue mich dann tierisch, wenn Männer, die ich ansprechend finde, diese dann ansprechend finden.
Aber irgendeine Stimme in mir ruft dabei: „Stopp, das bist du doch gar nicht, das ist doch nicht dein wahres Ich, auch wenn es dir noch so viel Freude bereitet?“
Dann frage ich(wer immer das dann ist) diese Stimme: „Ja, wer bin ich dann?“

Keine Antwort! Vielleicht können Expert*Innen beantworten, welche
der Verkleidungen, die ich seit dem Aufstehen übergestreift habe, die meines wahren Ichs ist?“
Oder war ich nur ich, als ich unrasiert und zerknittert und verwuschelt im Bett herumlag?
Manchmal meine ich, ich habe gar kein wahres Ich.
 
Zuletzt bearbeitet:

Johnson

Mitglied
Ich glaube, dass jede eindeutige sexuelle Zuschreibung eine Fehldeutung ist.
LGBT sind der Widerspruch zwischen typisch männlich und typisch weiblich.
 



 
Oben Unten