"Meine" Geschichte

„Meine“ Geschichte


Rainer Zufall hatte mich Meister Orataro genannt.
Es war an einem Freitag, den dreizehnten – wie konnte es auch anders, wenn das Schicksal zuschlägt - , dem 13. August 1965. Da saß ich in einem Flugzeug, das plötzlich technische Probleme bekam und abzustürzen drohte. Und als schon beinahe alles zu spät war, da erfasste mich ein unglaublicher Lichtstrahl und riss mich aus diesem Flugzeug, das nur Sekunden später auf dem sturmdurchwühlten Ozean aufschlug, in drei Teile zerbrach und unterging. Es wurde nie gefunden.

Meister Orataro hatte mir das Leben gerettet. Aber ich hatte keine Ahnung, was mich nun erwarten würde. Denn wie ich heute weiß, implantierte er mir einige Module, die mir die Möglichkeit gaben, mich mit diesem Lichtstrahl, der mich einst gerettet hatte, auf die Erde zu teleportieren und natürlich auch wieder zurück in sein Labor, wie ich bald entdeckte. Der andere Effekt dieser Module verhinderte, dass ich alterte. Mein Körper verharrte im Status meiner damals vierundzwanzig Jahre. Und all diese Module unterdrückten meine Gefühle, ich war quasi eine Maschine mit einem allerdings einwandfrei arbeitenden menschlichen Gehirn.
Er, der Meister, war der letzte Überlebende einer außerirdischen Rasse, wie er mir erklärte. Er sagte, er habe einen Planeten gefunden, auf dem er einen Neustart seiner Rasse initiieren wolle. Dafür benötigte er ein beliebiges humanoides Wesen, männlich – das hatte er in mir gefunden – , um es entsprechend auszurüsten, damit es ihm möglichst ähnlich sein würde, und einige weibliche der gleichen Spezies, um ihnen die Erbanlagen seiner Spezies, den Azyza, einpflanzen zu können. Er selbst war nicht mehr in der Lage, die Begattung durchzuführen, denn sein Fortpflanzungsmodul konnte schon vor sehr, sehr langer Zeit mangels notwendiger Ersatzteile nicht mehr rekonfiguriert werden.
Ich sollte dies an seiner Stelle tun! Er war absolut davon überzeugt, dass es funktionieren müsse.
Er schickte mich immer wieder zur Erde, doch ich fand mich nicht so zurecht, wie ich es als Mensch gewohnt war. Und das wurde mit den Jahren und der Entwicklung auf der Erde eher schlimmer. Doch das ließ ich ihn nicht sehen. Seine Anforderungen an diese weiblichen Wesen waren allerdings auch sehr übertrieben scharf umrissen. Die Damen sollten jung sein, aufrichtig im Charakter und vor allen Dingen rothaarig, richtig leuchtend rot!
Ich glaubte bald eher, dass sie vor allen Dingen dumm, naiv und leichtgläubig sein müssten, denn ich hatte den Verdacht, dass er sie ebenfalls mit Modulen ausstatten wollte, die eine Rückkehr zur Erde schwerlich hätten ermöglichen können, wenn sie wieder ihr eigenes Leben hätten führen sollen. Mir ging es da nicht anders. Ich war nicht in der Lage, ein ganz normales Leben auf der Erde zu leben. Ich musste täglich an eine Maschine angeschlossen werden, die meine Module mit neuer Energie auflud.

Über fünfzig Erdenjahre irrte ich durch Stadt und Land und fand kein Mädchen, das Meister Orataro gut genug war, seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Es war schon sehr bizarr, immer hatte er eine winzige Kleinigkeit, die ihm nicht passte, nur eine winzige Kleinigkeit. Aber ebenso erstaunlich, wie diese Haarspalterei, war seine grenzenlose Geduld. Offenbar war es doch nicht so eilig, sondern absolut perfekt sollte es am Ende sein.

In den letzten drei Monaten bedrängte mich Meister Orataro jedoch immer mehr. Offenbar hatte er neue Kenntnisse erlangt, wie er sein Ziel erreichen könne, in möglichst kurzer Zeit eine Vielzahl neuer Individuen zu erschaffen, die seine Rasse wieder zu blühendem Leben erheben sollten.
Ich hatte in dieser gleichen Zeit allerdings ebenfalls neue Erkenntnisse erlangt, was meine Person betraf. Ich hatte ein Mädchen kennengelernt. Es war am Ende eines sehr langen Aufenthalts auf der Erde. Meine Module schienen nur noch auf Sparflamme zu agieren. Ich befürchtete schon, sollte nur eines dieser Module ganz ausfallen, nicht mehr selbstständig in Lage zu sein, den Rückweg anzutreten.
Aber weit gefehlt. Das Modul, das meine Gefühle blockierte, verlor seine letzte Energie. Und plötzlich sah ich das Mädchen mit ganz anderen Augen. Sie hatte verdammt lange rote Locken, war zweiundzwanzig Jahre alt und war gerne mit mir zusammen, wie sie mir schon nach dem dritten Zusammentreffen gestand. Und sie war wirklich wunderschön!
Hey, dachte ich, das sind doch Gefühle, die mich zu einem solchen Gedanken treiben! Gefühle, jubelte ich innerlich, echte Gefühle!
In den folgenden Wochen blieb ich sehr bewusst lange auf der Erde, um diesen Energieverlust dieses Moduls zu erzwingen, was dazu führte, dass es auch immer weniger stark aufgeladen wurde. Ich provozierte es ganz bewusst. Der Tag musste kommen, an dem ich meine Gefühle in Worte fassen wollte.

Meister Orataro ließ langsam Ungeduld erkennen. Und er hatte offenbar meine Unachtsamkeiten bemerkt, die mich wieder ein wenig menschlich werden ließen. Aber ich verschwieg ihm, dass ich das perfekte Mädchen gefunden hatte.
Als ich am 13. August 2021, dem Jahrestag meiner für mich mittlerweile als zweifelhaft angesehenen Rettung, von einem erneut sehr langen Aufenthalt auf der Erde zurück in das Labor des Meisters kam, war er nicht da. Aber ich fand eindeutige Hinweise, dass er sein Schicksal offenbar auf andere Weise selbst in die Hand zu nehmen gedachte. Es war mir in all den Jahren nie gestattet, in die Räume hinter dem Labor zu schauen. Doch jetzt trieb mich die Neugier. Und dort fand ich zwölf Druckluftkammern, die mit einer Apparatur verbunden waren, die wiederum mit dem Kopfende und den Schellen verkabelt war, mit denen man einen Menschen auf dieser Liege hätte fixieren können!
Ich versteckte mich in dieser Folterkammer, als die ich diesen Raum nun ansah, und wartete auf seine Rückkehr. Auf diesen Druckluftkammern erkannte ich ein Schild, auf dem ein Name stand: Rudolf Schulte AG.
Diese Dinger stammen von der Erde, ging mir auf. Im nächsten Augenblick erhellte ein Lichtstrahl den Raum. Meister Orataro erschien und mit ihm eine Frau mit feuerroten Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Und diese Frau war vollkommen nackt!
Da ich meine Module noch nicht aufgeladen hatte, spürte ich eine gewisse Erregung, denn diese Frau hatte eine unfassbar perfekt geformte Figur. Aber sie wehrte sich gegen den harten Griff des Meisters. Trotzdem gelang es ihm mühelos, sie auf der Liege zu fixieren, wie ich schon geahnt hatte.
„Livia da Vulva! Du bist das perfekte Vorbild für meine neuen Mütter meiner Rasse!“, rief er in heller Euphorie, fixierte zum Abschluß auch ihren Kopf und schaltete die Apparatur ein, die diese Frau in den Tiefschlaf versetzte.
Ich konnte nicht fassen, was sich vor meinen Augen ereignete. In den Druckluftkammern materialisierten sich zwölf exakte Kopien dieser Frau. Es war einfach unglaublich. Was wollte der Meister damit erreichen?

Ich kehrte unverzüglich zur Erde zurück, als Meister Orataro sich zur Ruhe begeben hatte. Ich suchte „mein“ Mädchen auf.
„Oh, Rainer“, war sie überrascht, aber wohl nicht abgeneigt.
„Carmina! Ich... Ich muss mich erklären, ich...“, stammelte ich.
„Du musst mir nichts erklären, Rainer. Seit fast drei Monaten treffen wir uns immer wieder. Und ich sagte Dir auch, dass mir diese Treffen nicht unangenehm sind. Ich mag Dich. Du bist ein ganz lieber Kerl.“
„Ich...“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich auf die liebenswerteste Art und Weise, die es nur geben konnte, denn sie küsste mich direkt auf den Mund und nahm mich in die Arme.

„Rainer Zufall!“, rief der Meister nach mir. „Wo steckst Du?“
Sofort trennte ich mich von Carmina, bat um Vergebung für meinen unvermittelten Aufbruch und versprach, sobald als möglich zurück zu ihr zu kommen.
„Rainer Zufall!“, wurde seine Stimme etwas gröber.
„Ja, Meister, hier bin ich“, eilte ich zu ihm.
Sofort strahlte er wieder. „Sieh Dir das an“, bat er mich das erste Mal offiziell in diesen bis dato geheimen Raum.
„Was ist das hier?“, fragte ich scheinheilig.
„Das ist der Beginn eines neuen Zeitalters der Azyza, mein Freund.“
„Ich soll diese Klone jetzt begatten? Es sind doch offenbar Klone dieser Frau, die da auf der Liege schläft. Richtig?“
„Richtig!“, war das Jubeln in seiner Stimme unüberhörbar.
„Wer ist sie?“, hakte ich nach, obwohl er ihren Namen schon genannt hatte, als ich heimlich mit in diesem Raum war, als er die Prozedur gestartet hatte.
„Sie ist ein Traum, nicht wahr?“, offenbarte er Gefühle.
„Meister, Ihr seid nicht gesund. Eines Eurer Module scheint einen Defekt zu haben“, reklamierte ich.
„Ich habe eine Methode entwickeln können, die Dich entlastet, Rainer. Du musst sie nicht begatten. Ich werde sie zur Erde bringen. Dort werden sie das bekommen, was nötig ist.“
„Muss ich mir Sorgen machen – wenn ich zu diesem Gefühl fähig wäre...“, lächelte ich etwas gequält.
„Alles wird gut. Livia da Vulva wird die Liebesgöttin meiner Spezies“, surrte der Meister.
Ich machte mir Sorgen. Das war nicht gut, was er mir hier offenbart hatte. Ich musste Carmina davon erzählen. Ich musste ihr noch so vieles von mir erzählen...

Carmina lachte schon fast höhnisch, als ich die Namen nannte. Die junge Dame, die Meister Orataro auserwählt hatte, war eine alte Schulfreundin von Carmina, war immer ein sehr wildes Ding und hatte nach dem Abitur eine eher zweifelhafte Karriere als Pornosternchen gemacht. Und Rudolf Schulte war ein rücksichtsloser Geschäftsmann in der Rüstungsindustrie.
Ich konnte erahnen, welch zwielichtiges Geschäft mein Meister da wohl in die Wege geleitet haben mochte. Und ich wusste, das muss ich verhindern. Sofort verabschiedete ich mich erneut von Carmina, ohne ihr meine Liebe zu gestehen. Aber war das überhaupt noch nötig? Sie hatte mich geküsst, mich damit beim ersten ernsthaften Versuch daran gehindert. Nun hatte ich ihr grob erklärt, welche Sorgen mich gerade umtrieben. Da war zu wenig Raum für Gefühle, denn ich hatte ein wenig die Vermutung, dass sie meine Geschichte, die zugegebenermaßen recht phantastisch klingen mochte, gar nicht recht hatte glauben wollen. Beim nächsten Mal erzähle ich ihr alles, wirklich alles, nahm ich mir vor und verschwand vor ihren Augen.
„Rainer Zufall, schön, dass Du wieder da bist. Wir werden jetzt eine kleine Reise machen. Zur Erde.“
„Aber Meister“, empörte ich mich.
„Ich werde Dich nur zu einem Ort begleiten, selbst aber sofort zurück hierher kommen.“
„Wozu das alles?“
„Das muss Dich nicht stören. Tue einfach, was ich Dir befehle!“
„Diese Frau entspricht in absolut keiner Weise, Euren so edelmütigen Vorgaben, nach denen ich mich hatte richten sollen, um geeignete Menschenfrauen zu finden. Diese Frau ist eine...“
„Sei still! Sie ist perfekt! Oh, Rainer, ich habe erkannt, was diese Menschenmänner wünschen. Sie werden mit großer Begeisterung meinen Wünschen Folge leisten.“
„Das ist nicht richtig, Meister“, klagte ich, aber es war vergebens.
„So!“, rief er. „Los geht es!“
Der Lichtstrahl teleportierte mich und Meister Orataro direkt in das Konferenzzimmer der Firma Rudolf Schulte AG. Der Firmenchef hatte seine zehn besten Kunden eingeladen und ihnen eine wahrlich erregende Überraschung versprochen.
„Orataro!“, begrüßte Schulte die plötzlich erscheinenden Gäste aus dem All.
„Rudi“, antwortete mein Meister, und ich starrte ihn entsetzt an. „Das ist mein Schüler. Er wird den Transfer überwachen. Ich muss zurück in mein Labor, um ihn zu starten.“
Und schon verschwand Meister Orataro wieder.
Wenige Augenblicke später materialisierten mitten auf dem riesigen ovalen Tisch, um den die elf Geschäftsleute saßen, elf Kopien der begehrten Dame namens Livia da Vulva, nur bekleidet mit schneeweißer Spitzenunterwäsche und einem kurzen roten, durchsichtigen Umhang.
„Meine Herren, haben Sie keine Scheu. Wir sind hier unter uns. Ihre Frauen werden niemals etwas davon erfahren, denn diese reizenden Wesen sind nicht von dieser Welt. Und dennoch werden sie all Ihre Begierden befriedigen, die jetzt gewiss in Ihnen aufkeimen werden. Greifen Sie nur zu!“, forderte Schulte und half seinem Exemplar galant von Tisch herunter.

Oh, mein Gott, dachte ich voller Entsetzen. Das konnte doch nicht wahr sein. Als Schulte dann auch noch erwähnte, dass Meister Orataro umfangreiche Geschäfte mit allen Anwesenden versprochen hatte, wenn sie ihm diese Gefälligkeit, der sie gerade gewahr werden sollten, zu seiner Zufriedenheit erfüllen würden, platzte mir der Kragen. Sofort begab ich mich zurück in das Labor, zog mich in meinen eigenen Raum zurück, während Meister Orataro wieder in seiner Schreckenskammer weitere Klone dieser Frau entstehen ließ, und versuchte die Konfiguration der Rückführungsprozedur zu manipulieren.

Nach einer Stunde trafen wir uns im Labor.
„Wie viele wollt Ihr noch davon produzieren, Meister? Das ist nicht richtig!“
„Rudi wird jeden Tag eine neue Konferenz ansetzen. Mit immer neuen Männern. Die Klone sind so programmiert, dass sie immer zwei Kinder erzeugen, ein männliches und ein weibliches Exemplar.“
„Oh, Meister, ich sehe fürchterliche Gefahren auf Euch zukommen.“
„Initiiere die Rückführung der ersten Exemplare in drei Stunden. So ist es mit Rudi vereinbart. Bis dahin sind die nächsten zwölf Klone fertig. Dann kannst Du diese Frau wieder zurück auf die Erde bringen.“
Dann sah den letzten schon fertigen Klon neben der Apparatur sitzen.
„Die ist für Dich, Rainer“, summte der Meister fröhlich.
„Oh, nein!“, wehrte ich ab. „Dieses Teufelsding will ich nicht haben.“
„Dann muss ich eben sehen, dass ich mein Fortpflanzungsmodul wieder in Gang bekomme“, antwortete er trotzig.
Mach das mal, dachte ich verächtlich, gar nichts wirst Du.

Die Zeit der Rückführung rückte näher. Ich hatte die Anlage kalibriert und - sicher sehr zum Unmut meines Meisters - unabänderbar manipuliert. Was mir ein wenig Unbehagen bereitete, war das Ansinnen des Meisters, mich zusammen mit der nackten Frau selbst zur Erde schicken zu wollen. Aber dieses Risiko musste ich jetzt eingehen.
Ich hatte zwar gehofft, dass meine Befürchtungen unnötig seien, aber er teleportierte mich mit ihr tatsächlich in dieses Konferenzzimmer der Firma Schulte. Im nächsten Moment entmaterialisierten sich die Klone, ob sie nun gerade in Gebrauch waren oder nicht. Das Geschrei war groß, doch es wich sofort dem Erstaunen, nun die echte Livia da Vulva in lustvoller Weise begrüßen zu können.
Die jedoch wehrte sich mit Händen und Füßen, denn sie hatte keine Ahnung, was ihr gerade widerfahren war. Schützend nahm ich sie daher in meine Obhut und sprang sehr zur Überraschung aller Anwesenden durch das geschlossene Fenster, ohne es dabei jedoch zu zerbrechen. Livia schrie wie eine wilde Furie, doch als wir, aus dem zwölften Stockwerk kommend, sicher auf der Straße vor dem Gebäude angelangt waren, verfiel sie in Schockstarre. Unverzüglich machte ich mich auf den Weg zu Carmina.

„Rainer Zufall!!!“, hörte ich meinen Meister schreien, als die elf Klone, die als solche nun, da sie in der Atmosphäre zu unförmigen Klumpen geschmolzen waren, gar nicht mehr zu erkennen waren, wie Meteoriten im Labor und in diesem geheimen Raum einschlugen und alles zerstörten, was dort für diese Kreaturen gesorgt hatte. Mein Weg zurück dürfte damit für alle Zeit verwehrt sein, musste ich annehmen, war aber auch sicher, dass er mich nicht mehr würde finden können, weil ich auch für die Lichtstrahlanlage eine Selbstzerstörung initiiert hatte.

„Carmina, ich liebe Dich“, begrüßte ich sie, bevor wieder irgendetwas dazwischen kommen würde.
Freudestrahlend fiel sie mir um den Hals und küsste mich. „Ich liebe Dich auch, Rainer.“
„Und ich verspreche Dir, ich werde nie wieder einfach so verschwinden. Nie wieder!“
 



 
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