Meine Höhle!

Breimann

Mitglied
Meine Höhle!
„Das gibt´s doch nicht“, stöhnte Herr Bichel und schüttelte den Kopf. Jeder Platz war belegt! In den Abteilen wuselten Kinder, quengelten Säuglinge, hockten gequält aussehende Erwachsene; Stimmengewirr ertönte aus jedem Abteil; alle Türen standen weit auf.
Er war einfach in der Zugmitte eingestiegen, hatte einen Augenblick gezögert und sich dann für die linke Seite, zum Triebwagen und zur Fahrtrichtung hin, entschieden. Und auch hier, im letzten Wagen des Zuges, waren offenbar alle Abteile besetzt. Sein Koffer dehnte ihm das Handgelenk. Das linke Bein schmerzte, seitdem ihm ein bulliger Mann einen Hartschalenkoffer wuchtig dagegen geschlagen hatte.
Herr Bichel blickte genervt durch das Fenster nach draußen, ein kleiner Bahnhof huschte so schnell vorbei, dass er den Stationsnamen nicht ablesen konnte. Trotzdem wusste er, dass der Zug kurz hinter Bonn war; noch sechs Stunden Fahrt lagen vor ihm. Er hatte sich schon damit abgefunden seinen Koffer als Sitzplatz zu missbrauchen, als sein Blick in das letzte Abteil des Wagens fiel.
Er glaubte an Hirngespinste, an Wunschdenken, an Hitzschlag: Das Abteil war leer - völlig leer; keine Koffer, keine Taschen, die eine zeitweilige Abwesenheit der Reisenden vermuten lassen konnten. Nichts - außer einem kleinen sogenannten Zugbegleiter, der auf einem Sitz lag - war im Abteil zu entdecken. Und es war kein Platz reserviert!
Herr Bichel öffnete die Abteiltür, wuchtete den Koffer mittig auf das linke Gepäckfach. Platz war ja genügend da. Er stellte die Tasche auf den Sitzplatz gegenüber, dann warf er sich mit einem gewaltigen Seufzer auf den Platz am Fenster – mit dem Blick zur Fahrtrichtung. Einen Augenblick lang schloss er die Augen, lächelte glücklich, war mit sich und der Welt zufrieden.
„Mein Abteil! Ich habe ein ganzes Abteil in diesem überfüllten Zug - nur für mich!“
Er zog sein Jackett aus, holte die Tasche näher heran, entnahm ihr die Tageszeitung, einen Apfel, eine Dose Lutschbonbons, eine Tüte mit Kartoffelchips und ein Buch mit heraushängendem Lesezeichen. Das Buch, die Bonbons und den Apfel legte Herr Bichel auf den Sitz am Gang. Auf den Sitz neben sich warf er die Kartoffelchiptüte.
Das Abteil war besetzt! Niemand würde angewidert blicken, wenn er die Füße hoch legte, dachte er, zog sofort die Schuhe aus und warf die Füße auf den Sitz. Herr Bichel betrachtete nachdenklich die braunen Socken, die ihm seine Frau raus gelegt hatte. Am linken Fuß schaute der dicke Zeh heraus.
„Der Nagel müsste geschnitten werden!“, dachte Herr Bichel und betrachtete das Loch genauer; es war ziemlich groß. Er wackelte mit dem Zeh und lächelte ihn an – sorglos und ohne Groll.
„Ich bin alleine, mein dicker Zeh! Guck dir nur dieses herrliche Abteil an.“
Herr Bichel sicherte zur Tür! War da Bewegung auf dem Gang? – Nein! Gott sei Dank!
Er betrachtete die Sitze noch einmal, dann sprang er auf und legte den Apfel auf den Sitz am Gang gegenüber. Jetzt war er zufrieden, lehnte sich genüsslich zurück. Eine herrliche Sache! Mit der Rechten ertastete er die Kartoffelchiptüte, riss sie auf, steckte sich einige Chips zwischen die Zähne und knackte sie mit offenem Mund. Es krachte und knirschte, dass es das Zuggeräusch glatt übertönte.
Herr Bichel hob den Kopf und besah sich die Gepäckablage. Gegenüber war nichts; über ihm ruhte sein großer Koffer mitten auf der Ablage, dehnte sich mächtig aus. Er runzelte die Stirn, stand auf und hob die fast leere Tasche auf die Ablage gegenüber. Noch ein prüfender Blick. Ja, dachte er, jetzt sah das Abteil richtig bewohnt aus.
„Was lese ich zuerst? Buch oder Zeitung? Buch!“
Herr Bichel zog das Buch heran, legte die Zeitung schräg gegenüber auf den Sitz und die Füße wieder hoch.
Er las, schaute hin und wieder aus dem Fenster, knackte seine Kartoffelchips, überlegte, ob er zwischendurch in den Apfel beißen sollte, was er verwarf, weil er ihn lieber auf dem Sitzplatz liegen sah, und schaute regelmäßig zur Abteiltür. Draußen war Ruhe.
Herr Bichel fühlte sich, wie ein prähistorischer Krieger, der in seiner Höhle am Berghang hockt, die Wärme seines Lagerfeuers genießt und ständig sichernd auf Fremde und Feinde achtet. Dies hier war seine Höhle, die er mit niemandem teilen wollte.
Herr Bichel warf sich gerade einige Kartoffelchips in den Mund, als die Tür wuchtig aufgestoßen wurde. Er hob den Kopf und betrachtete den Fremden, der vor seinem Abteil stand und die Lage prüfte. Herr Bichel war in höchstem Alarmzustand, schaute den Feind stirnrunzelnd und kampfbereit an. Er machte sich extra breit, aber das Verhängnis nahm seinen Lauf: der fremde Eindringling ließ die Blicke über die verstreuten Gegenstände schweifen.
„Guten Tag! Ist hier noch was frei?“
„Einer der so fragt“, dachte Herr Bichel, „den kann man nicht mehr abwehren – leider!“ Herr Bichel schob die halb zerkauten Kartoffelchips in die linke Backe, zog die Beine betont langsam vom Sitz, steckte sie in die Schuhe, legte ärgerliche Falten auf und knurrte etwas Unverständliches. Der Fremde trat trotzdem ein und zog zwei prächtige Trollys hinter sich her.
Der Mann war groß, breitschultrig und mittleren Alters; im Gesicht wippte ein langer, gebogener, schwarzer Schnurbart; der Kopf war haarlos.
„Unangenehmer Typ. Mit so was muss man sein Abteil teilen“, dachte Herr Bichel bedauernd und stand auf.
Wortlos zog er die Tasche von der Ablage gegenüber und stellte sie neben seinen Koffer.
Der bärtige Fremde wuchtete seine Trollys hoch und belegte damit nahezu die gesamte Ablage. Dann setzte er sich. Genau gegenüber von Herrn Bichel, auf den freien Fensterplatz, ließ er sich wie selbstverständlich nieder.
„Auch das noch! Konnte der sich nicht am Gang hinhocken?“, dachte Herr Bichel empört. Der Eindringling seufzte laut, legte eine Zeitung neben sich und wollte nun seinen Mitreisenden betrachten.
„Nicht mit mir“, dachte sich Herr Bichel und steckte die Nase in das Buch. Wenn der Mensch sich schon einfach in seinem Abteil breit machte, dann sollte er gefälligst merken, dass er nicht erwünscht war.
Sie saßen still da, lasen, schauten hin und wieder träumerisch aus dem Fenster und blickten abwechselnd – allerdings manchmal auch gleichzeitig – sichernd zur Abteiltür. So verging die Zeit und mit ihr die Gefahr, dass sich weitere Passagiere diesem letzten Abteil nähern würden.
Herr Bichel schielte über seine Buchoberkante, betrachtete den Fremden, der in seiner Zeitung las.
„Sieht doch recht annehmbar aus“, dachte er, legte ein Lächeln um die Augen und hielt dem Mann die Chipstüte hin.
„Mögen sie? Nehmen sie bitte“, sagte er freundlich.
„Danke!“, sagte der Mann und griff sich einige Kartoffelchips.
Sie kauten laut, lasen, lächelten sich hin und wieder an, blickten versonnen auf die vorbeihuschende Landschaft - und sahen immer häufiger zur Abteiltür, an der allerdings keine Bewegung erkennbar war.
„Recht angenehm zu reisen in so einem geräumigen Abteil“, erklärte Herr Bichel und der Mann gegenüber nickte.
„Man sollte nur noch mit Platzkarten verreisen. Aber dann sitzen sie auch oft eingezwängt wie eine Ölsardine in einem Abteil mit schrecklichen Menschen zusammen“
„Man kann sich seine Mitreisenden leider nicht aussuchen!“, stöhnte Herr Bichel und der Mann gegenüber nickte.
Die Abteiltür schlug auf, prallte zurück. Ein grinsender, kahlköpfiger Jüngling, hinter dem sich drei weitere kahlgeschorene Köpfe drängten, baute sich in der Tür auf.
„He! Guckt euch das an! Die zwei Gruftis belegen ein ganzes Abteil! Hereinspaziert! Leute, nehmt Platz!“
Sie lachten grölend, warfen den Apfel, die Dose Lutschbonbons, die Tüte mit den restlichen Kartoffelchips und die Zeitung Herrn Bichel in den Schoß und sich selber mit grunzenden Geräuschen auf die freien Sitzplätze. Sie hatten nur ein Gepäckstück bei sich, eine Stofftasche, gefüllt mit Bierflaschen.
Herr Bichel und sein Gegenüber blickten sich lange an. In Herrn Bichels Gesicht war Resignation und Empörung deutlich ablesbar. Sein Gegenüber zupfte an seinen Bartspitzen und antwortete Herrn Bichel mit ärgerlich gerunzelter Stirn; in seinen Augen war Abscheu unübersehbar. Dann nickten sie sich verständnisvoll zu und seufzten gleichzeitig, bevor sie den Blick zum Fenster wendeten. Sie hatten den Kampf um ihr Abteil soeben verloren.
 
S

schwafelfasel

Gast
Nichts geht über ein leeres Zugabteil!

Ich kann die Gefühle deines Helden ja so gut nachvollziehen.... und ich finde, es liegt gewisse Kunst darin, gerade solche alltäglichen Kleinigkeiten so gut nachvollziehbar zu machen.

Schwafelfasel
 

Breimann

Mitglied
Ich danke dir,

und ist es nicht gerade ein Morphium für uns Autoren, wenn wir selber spüren, dass wir eine Situation, eine Umgebung richtig ins Bild gesetzt haben?
Mir geht es mit deinen Erzählungen ähnlich und ich bin froh, dass es dir ebenfalls Spaß macht.
Liebe Grüße
eduard
 

ferni

Mitglied
ich hätte mal 'ne frage....

....wie lange schreibst du schon kurzgeschichten? finde diese geschichte sehr gut und musste an einen bekannten von mir denken, der auch ab und zu mit dem zug fährt!*g* würde gerne wissen ob's ihm genauso geht, manchmal. :confused: :D
 

Breimann

Mitglied
Ja, sage ich natürlich gerne

liebe(r) ferni.
Ich schreibe seit einem Jahr; vorher war ich als freier Journalist Schreiber diverser Artikel; habe als Informatiker Fachbücher geschrieben und als Hobbyhstoriker viele Fachartikel und ein umfangreiches Buch-
Ich zähle das nur auf, um klar zu machen, dass man nicht plötzlich mit dem Schreiben anfängt und dann perfekt ist.
Ich sammle pausenlos Stoff bei allen täglichen Gelegenheiten. So auch bei der Zugfahrt. Wenn ich eine Fahrt hinter mir habe, dann habe ich oft Stoff für mehrere Geschichten.
Schau die einmal "Randereignis" an, oder "Eine treffliche Unterhaltung".
Alle sind an einem Tag entstanden. Ich wünsche dir viel Freude beim Schreiben.
 



 
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