Meine Schultüte

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flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Meine Schultüte

Schon viele Wochen vorher war sie gekauft worden. Sie wurde auf den Kleiderschrank gestellt, damit ich sie nicht etwa kaputt mache, bevor sie zum Einsatz kommt. Nicht, dass man mich für besonders wild hielt, nein, die Tüte hätte beim Spielen herunter fallen können.
So blickte ich sie nun täglich ebenso bewundernd wie begehrlich an. Bewundernd, weil sie farbenfroh mit Abbildungen von Spielzeug und Schulutensilien bedruckt war, begehrlich, weil ich gehört hatte, dass sie mit Süßigkeiten gefüllt werden wird.
Die größte Menge an Bonbons, die ich bislang sah, war ein viertel Pfund Brustkaramellen gegen Omas Erkältung. Das würde in der riesigen Schultüte hoffnungslos ersaufen.
Ich versuchte, mir vorzustellen, was alles in diese Tüte hineingehen könnte. Zuerst eine große Menge an Maiblättern und Himbeerbonbons. Ja, die waren lecker! Vor meinem geistigen Auge war die Tüte zur Hälfte damit voll. Es passten also bequem noch ein paar Riegel Pfefferminz-Fondant hinein. Die Bonbons hätte ich auf der Straße an irgendwelche Kinder verteilt, in der Hoffnung, Freunde zu gewinnen. Meine Cousine machte es auch immer so. das Fondant hätte ich mit der Familie geteilt.
Ich sah, dass immer noch Platz in der Tüte war. Na, vielleicht bekomme ich ja auch noch ein paar Lutscher? Ich stellte mir den herrlich süß-sauren Geschmack eines Zitronenlutschers vor. Hhhmmm, lecker! Und wie lange es dauert, ehe er aufgelutscht ist!
Zwischen den Lutscherstielen ist noch Platz für einige Rockse. Diese bunten, aus unterschiedlichen Bonbonarten zusammen geschweißte Zylinder waren die Krönung der Bonbonherstellungskunst. Einmal erst hatte ich so ein Kunstwerk im Mund gehabt. Ein beinahe abendfüllendes Erlebnis! Von denen würden nur jene Familienmitglieder abbekommen, die ich wirklich sehr mochte.
Nun hatte ich mich so weit verstiegen, dass ich es wagte, auch noch von einer kleinen Tafel Schokolade zu träumen. Ein Täfelchen ganz für mich allein! Ich schloss die Augen und schmeckte die zart schmelzende Schokolade. Selig faltete ich die Hände vor der Brust. Schokolade war für mich untrennbar mit Weihnachten verbunden. Sogleich hatte ich den mit Lametta reich geschmückten Lichterbaum vor Augen und roch Pfefferkuchenduft. Das Weihnachtslied „Ihr Kinderlein, kommet“ kam mir in den Sinn und ich lächelte, denn jetzt rief die Schule „Ihr Kinderlein, kommet“.
Endlich war der große Tag heran, an dem die Schultüte gefüllt werden sollte. Gespannt stand ich daneben und schaute zu. Auf dem Tisch lag zu meiner Verwunderung ein Stapel Zeitungen. Das erste Blatt wurde genommen, zusammen geknüllt und in die Spitze der Tüte gepresst. Sehr gut, dachte ich, so kann die Spitze nicht so leicht abbrechen. Auch die zweite Zeitung sah ich als nützlich an. Die dritte – na ja, aller guten Dinge sind drei. Bei der vierten zog sich meine Stirn kraus, bei der fünften ballte ich die Fäuste und bei der sechsten bekam ich einen gewaltigen Wutanfall. Ich schrie und tobte und brüllte aus Leibeskräften.
Man verpasste mir eine saftige Maulschelle, damit ich wieder zu mir komme. Heulend und schluchzend verzog ich mich in eine Ecke, während weiterhin nur Zeitungspapier in die Tüte kam.
Nach einer Weile hatte ich mich innerlich gefestigt und trat wieder an den Tisch heran. Inzwischen war eine dünne Schicht Eukalyptus-Bonbons auf den Zeitungen verteilt worden. Ein Fläschchen Liebesperlen verlor sich in der Menge und eine Tafel Vitalade winkte mir zu. Vitalade war ein Schokoladenersatz, der mit Bonbonsplittern versetzt war. Mit diesem Zeug konnte ich mir weder auf der Straße Freunde gewinnen noch in der Familienachtung steigen. Jedoch tröstete mich eine kleine Schachtel Buntstifte, die der Onkel ganz obenauf gelegt hatte. Was soll s? Ich ging doch nicht wegen Bonbons zur Schule, sondern um zu lernen.
Nach der Einschulung tat ich die kostbaren Buntstifte in meinen Ranzen und legte die Süßigkeiten zum allgemeinen Verzehr auf den Tisch. Dabei kam ich mir sehr erwachsen vor.
 
E

Edgar Wibeau

Gast
Hallo, Flammarion!

Ich finde, das ist eine amüsante Kindheitserinnerung aus der Zeit, als Vaters Bart noch rot war. Erinnert im besten Sinne an Schnurre (vielleicht besonders wegen der Maiblätter).

Gruß

Christian
 

sannasohn

Mitglied
hallo,

danke fürs lesen und kommentieren. sollte ich vielleicht extra erwähnen, wie die Maibklätterbonbons aussahen und schmeckten? anscheinend kennst du sie nicht.
üprinx ist die geschichte komplett authentisch.
lg
 
E

Edgar Wibeau

Gast
Maiblätter

Laut Schnurre grün, länglich. Schmeckten sehr sauer, was die Speichelproduktion enorm anregte. Das spielt in einer Geschichte Schnurres eine Rolle: Der Protagonist versucht, eine Wette zu gewinnen, bei der es darum geht, schneller als der Gegner altbackene Brötchen zu verzehren.
Ich hatte übrigens zu keinem Zeitpunkt unterstellen wollen, die "Schultüte" sei abgekupfert. Mich erinnerte nur der Erzählstil angenehm an den Schnurres. Die Maiblätter taten ihr übriges.
Gruß
Christian
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
alles klar,

edgar. ich hatte schon angst, die köstlichen maiblätter wären unbekannt.
der vergleich mit schnurre gefällt mir. hatte ja keine ahnung, auf was du anspielst.
und was den sannasohn angeht: er ist ein armer student, wohnt bei mir in der nähe, hat kein geld fürs internet-cafe, aber ein reges interesse an der lupe. da hab ich ihm erlaubt, von meinem compi ins net zu gehen und seinen account erst tage später gelöscht. passiert mir nich noch maa.
lg
 



 
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