Es wird uns gegeben haben. Es hat uns gegeben, denn wir leben in der Vergangenheit. Es gibt uns, aber nur in der Zukunft. In Zukunft wird es uns geben. Das wirkliche Leben läuft uns immer ein Stück voraus, solange die Zeit besteht.
Ständig sitzen wir vor diesem Kühlschrank, dessen brennendes oder nichtbrennendes Licht uns so lange wurmt, bis wir ein Loch in seine Tür bohren und das Innere nach außen dringt. Wie bohrt man Löcher in Zeit ?
Wir brauchen Zeit, um zu glauben, was wir glauben - zu fühlen, wahrzunehmen. Ob drei Zehntelsekunden oder eine Ewigkeit, das spielt keine Rolle. Weiter weg von der Wirklichkeit kann keiner sein, als da, wo sie nicht ist. Oder bilden diese Nullkommadrei ein Fenster, um aufs Reale schauen ?
Es ist keine Zeit für ein Nichtleben, alles viel zu schön und grausam und interessant. Ich habe eine Diagnose. So lange geforscht und nun endlich. "Scheiße" denke ich, etwas heilbareres wäre mir lieber gewesen. Immerhin stirbt es sich nicht direkt daran. Gut in Schach zu halten, sagt man. Ich hasse Schach. Seit heute. Mein Körper als Spielbrett. Ich werde mir einen Lügendoktor suchen, einen, der mir für Geld erzählt, daß man da ganz viel machen könne. Guter Plan.
Egal, wie es einem geht. Egal, woran man noch hängt. Egal, wo man gerne wäre. Das Leben fragt nicht. Ist einfach da. Groß. Einen Schritt voraus.
"Die Cilly", meine weißhaarige Nachbarin soll es erfahren. Sonst keiner. Wir könnten einen Lebensqualitätswettbewerb starten, denn ihre Chancen sind soeben um Milliarden Prozentpunkte gestiegen. Ich kaufe manchmal für sie ein.
Feine Erbsen und Möhrchen in Blech.
Eine große Dose Tomaten
Einen Kopf Blumenkohl
Zwei Kilo Kartoffeln
Coca Cola
den billigen Sekt, Du weißt schon.
Nur zum Beispiel.
Die leichten Sachen kann sie selber.
Cilly`s Mann steht auf dem Küchenschrank, eingerahmt in Schwarzweiß, so lange ist das her. Er war Tscheche, kam aus einer Obstundgemüsegroßhändlerfamilie. Sein Vater hat den Laden nach Strich und Faden versoffen. Der Krieg dann alle weiteren Überlegungen überflüssig gemacht.
Um nicht ins Nichts zu fallen, stelle ich mir eine Wand mit Rauhputz rechts neben mir vor. Einen neuen Anorak zum daran entlang schrammen. Schöne Erinnerungen bleiben als weiße Streifen am Ärmel haften. Ich hänge ihnen gerne nach.
Diagnosen hatte ich schon einige. Nette, weniger nette und solche, für die man Ärzte in die arrogante Fresse hauen könnte, folgte man dem alten Auge-um-Auge-Prinzip.
Mein Körper hat Besuch, wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten. Borrelia Burgdorferi heißt die Dame, die sich da so wohl fühlt. Ein schöner Name. Die Dame sitzt in meinen Organen, meinen Gelenken, in meinem Gehirn und überall habe ich ihre Anwesenheit schon gebührend bewundern dürfen. Sie stiehlt meine Zeit und ob ich sie dazu eingeladen habe, ist mir schleierhaft. Da ich nun wenigstens ihren Namen kenne, begrüße ich sie erst einmal. Hallo Borrelia.
"Hallo Cilly" presse ich in die blechernen Sprechschlitze. "Dein Sklave ist da !" Ich darf mich Ihren Sklaven nennen und manchmal sage ich auch "Slawe", denn immerhin kam mein Vater aus der Tschechei. Wir haben etwas gemeinsam. Ihre Familie stammt aus Königsberg.
"Moment" antwortet das Sprechblech und das sagt sie immer, egal, welchen Unsinn ich mir ausgedacht habe. Der Summer summt, das kann er richtig gut und ich drücke mit dem Ellenbogen den Türknauf. Eiche ist das, so an die fünfzig Jahre alt, wie ich. Cilly wohnt im Erdgeschoss, auch wenn es bedeutend theatralischer wäre, mit schweren Taschen in den fünften zu ochsen. Wir haben auch so genug Theater. Die Tür steht schon einen Spalt breit offen und das heißt, daß sie schon weiter in ihrem Zeitplan ist. Kaffee kochen. Cilly kocht unschlagbar Kaffee. Mit Filter. Und Liebe. Ihre Wohnung ist fast gar nicht mit Omakitsch und Rustikalgedöns vollgestopft. Eher straight. Bei ihr habe ich zum ersten mal gemerkt, daß die alten Leute von heute irgendwie jünger sind als früher - von mir aus gesehen. Was das wohl bedeutet ?
"Hallo, lieber Markus !" ruft es aus der Küche. Sie hat mich sicher schon vom Fenster aus gesehen, denn da steht sie oft wie angewachsen und lächelt. Daher kenne ich sie. Ein lächelnder Mensch ist selten geworden und wir haben uns bestimmt drei Jahre nur freundlich gegrüßt, wenn ich nach Hause kam. Von meinem Fenster aus sah ich oft, daß sie den Bus vier Blocks weiter nahm, um zum Supermarkt zu fahren. Irgendwann dann der Rollator.
Ich war gerade zurück aus Georgien und hatte mich von Paula getrennt. Es tat weh. Vor allem ihr. Und ich mußte sie trösten. Konnte definitiv eine Oma gebrauchen. Auch wenn sie dafür viel zu jung war. Sie wurde meine Oma, denn sie wußte schon, wie das geht. Zwei Enkel. In Frankfurt. Weit weg.
Auf der geblümten Tischdecke stehen die Seltmanntassen, die ich so mag. In einem Spankorb viel zu viele Scheiben Graubrot. Aufschnitt und Holländerkäse auf Teakholzbrettern. Einen Brotzeitteller bedecken Gurkenstückchen aus dem Familiensparglas, das ich voriges Mal mitgebracht habe. Auf einem anderen sind Tomatenmandalas in Fächerform angeordnet. Gute Butter, Niespulver, Salz.
Eigentlich lebe ich hauptsächlich von Pflanzen und Milch, aber bei Cilly käme ich mir blöd dabei vor, die Wurstplatte zurück zu schieben, die sie mir hinhält. Schließlich sind wir auf Zeitreise. Bestimmt hätte sie Verständnis dafür, aber ich will hier kein Verständnis. Was ich will ? Ein anderer sein. Ihr Enkel, ihr Sohn, egal. Irgendjemand, den sie sich wünscht.
Ich liebe den Moment, wenn sie den Kaffee einschenkt. Sie tut es für mich. Sie müsste das nicht.
Cilly hat die weißesten Echthaare, die man sich vorstellen kann und ich unterstelle ihr, daß sie sie bleicht. Dann lacht sie nur wie ein Glöckchen und einmal habe ich danach sogar ihre Hände auf meinem Haar gefühlt. Und mich garnicht gewehrt.
Heute bin ich nicht nur zu Besuch. Ich bin evakuiert. Man hat eine 10 Tonnen Fliegerbombe auf dem Gelände des Seniorenheims gefunden und zwischen Cillys und meinem Häuserblock verläuft die unsichtbare Grenze, innerhalb derer man heute seine Wohnung solange meiden muß, bis der Zünder des Monsters entschärft ist. Es ist viertel vor vier und eigentlich sollte das Spektakel um drei vorbei sein. Ein kleines Küchenradio plappert leise und singt dann wieder Lieder. Noch nichts neues.
So lange war ich noch nie hier. Langsam gehen mir die üblichen Patterns aus, mit denen ich den braven Enkelsohn mime.
Meine Neuigkeiten liegen mir wie ein Kilo Wurst im Bauch. Ich möchte kotzen. Schreien. Jammern. In der Vergangenheit ein Kind zeugen, das mich unsterblich macht. Wurstkinder gebären. Diese Frau hat den Krieg noch miterlebt und Krankheiten gehören zu ihrem täglich Brot. Wer wieder im Krankenhaus ist oder gestorben erzählt sie mir ganz oft. Ich kenne die Leute nicht. Nie.
"Ist alles in Ordnung ?" Ihr Blick prüft mein Lächeln.
"Der Schinken ist echt lecker. Vom Ohlsen ?" Ich muß meinen Mundwinkeln mehr Aufmerksamkeit schenken. Der Schinken ist immer von Ohlsen.
"Ich meine nicht den Schinken. Du bist so blass heute. "
So etwas hat sie noch nie getan. Ich hasse es, wenn man mir sagt, daß ich Scheiße aussehe. Eigentlich reicht es mir für heute dicke. Gestern habe ich gelesen, daß Wutausbrüche zu den häufigeren Symptomen gehören. Davon hatte ich genug in den letzten Jahren. Die Wurstbombe tritt mich gerade. Ich reibe mir das Gesicht mit den Händen ab. "Wurstausbruch", denke ich.
"So. Besser ?" Das muß reichen. Ein unschuldigeres Unschuldsgesicht kann ich nicht.
"Viel besser !" Unter diesen weißen Haaren lassen mich nun zwei grüne Verfolgerscheinwerfer immer blasser wirken. "Grün niemals lange direkt aufs Gesicht !" habe ich an der Bühne gelernt. "Das kommt meistens unvorteilhaft, das gibt Ärger !"
Cilly mustert mich nur, bestimmt kann man schon Ornamente auf meinem Gesicht ausmachen. Ich habe den Drang, unter den Küchentisch zu kriechen und wie früher Füße in Hausschuhen zu beobachten. Da war ich auch oft ganz blass und man hat mir das gerne gesagt.
Cilly trägt cremefarbene Kunstlederpantoffel mit halbhohem Absatz. So etwas gab es bei uns zuhause nicht. Es ging funktionaler zu. Cord, Filz, Lammfell regierten dort, wo ich herkomme. Im Sommer oft Vollplastik.
"Soll ich Dir einen Tee kochen ?" Ihr Blick, der mich wie ein Kalb am Lasso hat, wird immer weicher und ich immer verkrampfter. Tee kommt bei mir nur in die Tüte, wenn ich überhaupt nicht mehr kann.
Ich kann nicht mehr. "Ich will keinen Scheißtee !" brülle ich und werde hässlich dabei. Mein Kopf sinkt in die Handmuscheln. Für einen Moment bin ich unterm Tisch. Ruhe. Schuhe.
" bekanntgegeben, daß die Räumung erfolgreich abgeschloßen ist ...", dringt von ganz weit her zu mir durch.
Jetzt muß ich es ihr erzählen und dann wird sie mir einen vom Krieg draufkleben und davon, was sie schon alles hinter sich hat mit so einem "Jungchen-ach-so-schlimm-ist-das-doch-nicht" - Gesicht und dann ...
Ich höre das Schmatzen der Kühlschranktür. "Aufmachen mußt Du, ich tue mir schwer damit." Der billige Sekt steht da und ich höre Schritte auf dem Teppich im Nebenraum. Da war ich noch nie. Das leise Beben, wenn die leicht verkantete Glastür eines Vitrinenschranks geöffnet wird. Oft wünschte ich, Gräser würden so klingeln, wenn der Wind im trockenen Sommer durch eine Wiese streicht.
Ein Plastikkorken findet sich unter der Folie.
Cilly kennt jetzt eines Kurzfassung meines Lebens. Mir fällt auf, daß ich immer nur ihr zugehört habe. Samariter sind keine Freunde. Wir sind jetzt welche.
Wir stehen alle bloß in der Schlange an, an deren Ende das Hörensagen liegt. Manchmal tuschelt uns etwas entgegen und uns ist, als wäre es von da vorne gekommen. Manches können wir nicht glauben. Manches glauben wir. Manches wollen wir nicht glauben.
Dem aufhelfen, der umfällt. Dem das Bein stellen, der sich vordrängelt. Nur den nach vorne lassen, der gar nichts begreifen will. Langsam entlang tasten. Keinem seinen Dienstgrad verraten. Keinem verraten, daß es keinen gibt.
Ich setze einen Fuß auf die Treppe. Schönes Muster.
Ich habe Zeit.
Ständig sitzen wir vor diesem Kühlschrank, dessen brennendes oder nichtbrennendes Licht uns so lange wurmt, bis wir ein Loch in seine Tür bohren und das Innere nach außen dringt. Wie bohrt man Löcher in Zeit ?
Wir brauchen Zeit, um zu glauben, was wir glauben - zu fühlen, wahrzunehmen. Ob drei Zehntelsekunden oder eine Ewigkeit, das spielt keine Rolle. Weiter weg von der Wirklichkeit kann keiner sein, als da, wo sie nicht ist. Oder bilden diese Nullkommadrei ein Fenster, um aufs Reale schauen ?
Es ist keine Zeit für ein Nichtleben, alles viel zu schön und grausam und interessant. Ich habe eine Diagnose. So lange geforscht und nun endlich. "Scheiße" denke ich, etwas heilbareres wäre mir lieber gewesen. Immerhin stirbt es sich nicht direkt daran. Gut in Schach zu halten, sagt man. Ich hasse Schach. Seit heute. Mein Körper als Spielbrett. Ich werde mir einen Lügendoktor suchen, einen, der mir für Geld erzählt, daß man da ganz viel machen könne. Guter Plan.
Egal, wie es einem geht. Egal, woran man noch hängt. Egal, wo man gerne wäre. Das Leben fragt nicht. Ist einfach da. Groß. Einen Schritt voraus.
"Die Cilly", meine weißhaarige Nachbarin soll es erfahren. Sonst keiner. Wir könnten einen Lebensqualitätswettbewerb starten, denn ihre Chancen sind soeben um Milliarden Prozentpunkte gestiegen. Ich kaufe manchmal für sie ein.
Feine Erbsen und Möhrchen in Blech.
Eine große Dose Tomaten
Einen Kopf Blumenkohl
Zwei Kilo Kartoffeln
Coca Cola
den billigen Sekt, Du weißt schon.
Nur zum Beispiel.
Die leichten Sachen kann sie selber.
Cilly`s Mann steht auf dem Küchenschrank, eingerahmt in Schwarzweiß, so lange ist das her. Er war Tscheche, kam aus einer Obstundgemüsegroßhändlerfamilie. Sein Vater hat den Laden nach Strich und Faden versoffen. Der Krieg dann alle weiteren Überlegungen überflüssig gemacht.
Um nicht ins Nichts zu fallen, stelle ich mir eine Wand mit Rauhputz rechts neben mir vor. Einen neuen Anorak zum daran entlang schrammen. Schöne Erinnerungen bleiben als weiße Streifen am Ärmel haften. Ich hänge ihnen gerne nach.
Diagnosen hatte ich schon einige. Nette, weniger nette und solche, für die man Ärzte in die arrogante Fresse hauen könnte, folgte man dem alten Auge-um-Auge-Prinzip.
Mein Körper hat Besuch, wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten. Borrelia Burgdorferi heißt die Dame, die sich da so wohl fühlt. Ein schöner Name. Die Dame sitzt in meinen Organen, meinen Gelenken, in meinem Gehirn und überall habe ich ihre Anwesenheit schon gebührend bewundern dürfen. Sie stiehlt meine Zeit und ob ich sie dazu eingeladen habe, ist mir schleierhaft. Da ich nun wenigstens ihren Namen kenne, begrüße ich sie erst einmal. Hallo Borrelia.
"Hallo Cilly" presse ich in die blechernen Sprechschlitze. "Dein Sklave ist da !" Ich darf mich Ihren Sklaven nennen und manchmal sage ich auch "Slawe", denn immerhin kam mein Vater aus der Tschechei. Wir haben etwas gemeinsam. Ihre Familie stammt aus Königsberg.
"Moment" antwortet das Sprechblech und das sagt sie immer, egal, welchen Unsinn ich mir ausgedacht habe. Der Summer summt, das kann er richtig gut und ich drücke mit dem Ellenbogen den Türknauf. Eiche ist das, so an die fünfzig Jahre alt, wie ich. Cilly wohnt im Erdgeschoss, auch wenn es bedeutend theatralischer wäre, mit schweren Taschen in den fünften zu ochsen. Wir haben auch so genug Theater. Die Tür steht schon einen Spalt breit offen und das heißt, daß sie schon weiter in ihrem Zeitplan ist. Kaffee kochen. Cilly kocht unschlagbar Kaffee. Mit Filter. Und Liebe. Ihre Wohnung ist fast gar nicht mit Omakitsch und Rustikalgedöns vollgestopft. Eher straight. Bei ihr habe ich zum ersten mal gemerkt, daß die alten Leute von heute irgendwie jünger sind als früher - von mir aus gesehen. Was das wohl bedeutet ?
"Hallo, lieber Markus !" ruft es aus der Küche. Sie hat mich sicher schon vom Fenster aus gesehen, denn da steht sie oft wie angewachsen und lächelt. Daher kenne ich sie. Ein lächelnder Mensch ist selten geworden und wir haben uns bestimmt drei Jahre nur freundlich gegrüßt, wenn ich nach Hause kam. Von meinem Fenster aus sah ich oft, daß sie den Bus vier Blocks weiter nahm, um zum Supermarkt zu fahren. Irgendwann dann der Rollator.
Ich war gerade zurück aus Georgien und hatte mich von Paula getrennt. Es tat weh. Vor allem ihr. Und ich mußte sie trösten. Konnte definitiv eine Oma gebrauchen. Auch wenn sie dafür viel zu jung war. Sie wurde meine Oma, denn sie wußte schon, wie das geht. Zwei Enkel. In Frankfurt. Weit weg.
Auf der geblümten Tischdecke stehen die Seltmanntassen, die ich so mag. In einem Spankorb viel zu viele Scheiben Graubrot. Aufschnitt und Holländerkäse auf Teakholzbrettern. Einen Brotzeitteller bedecken Gurkenstückchen aus dem Familiensparglas, das ich voriges Mal mitgebracht habe. Auf einem anderen sind Tomatenmandalas in Fächerform angeordnet. Gute Butter, Niespulver, Salz.
Eigentlich lebe ich hauptsächlich von Pflanzen und Milch, aber bei Cilly käme ich mir blöd dabei vor, die Wurstplatte zurück zu schieben, die sie mir hinhält. Schließlich sind wir auf Zeitreise. Bestimmt hätte sie Verständnis dafür, aber ich will hier kein Verständnis. Was ich will ? Ein anderer sein. Ihr Enkel, ihr Sohn, egal. Irgendjemand, den sie sich wünscht.
Ich liebe den Moment, wenn sie den Kaffee einschenkt. Sie tut es für mich. Sie müsste das nicht.
Cilly hat die weißesten Echthaare, die man sich vorstellen kann und ich unterstelle ihr, daß sie sie bleicht. Dann lacht sie nur wie ein Glöckchen und einmal habe ich danach sogar ihre Hände auf meinem Haar gefühlt. Und mich garnicht gewehrt.
Heute bin ich nicht nur zu Besuch. Ich bin evakuiert. Man hat eine 10 Tonnen Fliegerbombe auf dem Gelände des Seniorenheims gefunden und zwischen Cillys und meinem Häuserblock verläuft die unsichtbare Grenze, innerhalb derer man heute seine Wohnung solange meiden muß, bis der Zünder des Monsters entschärft ist. Es ist viertel vor vier und eigentlich sollte das Spektakel um drei vorbei sein. Ein kleines Küchenradio plappert leise und singt dann wieder Lieder. Noch nichts neues.
So lange war ich noch nie hier. Langsam gehen mir die üblichen Patterns aus, mit denen ich den braven Enkelsohn mime.
Meine Neuigkeiten liegen mir wie ein Kilo Wurst im Bauch. Ich möchte kotzen. Schreien. Jammern. In der Vergangenheit ein Kind zeugen, das mich unsterblich macht. Wurstkinder gebären. Diese Frau hat den Krieg noch miterlebt und Krankheiten gehören zu ihrem täglich Brot. Wer wieder im Krankenhaus ist oder gestorben erzählt sie mir ganz oft. Ich kenne die Leute nicht. Nie.
"Ist alles in Ordnung ?" Ihr Blick prüft mein Lächeln.
"Der Schinken ist echt lecker. Vom Ohlsen ?" Ich muß meinen Mundwinkeln mehr Aufmerksamkeit schenken. Der Schinken ist immer von Ohlsen.
"Ich meine nicht den Schinken. Du bist so blass heute. "
So etwas hat sie noch nie getan. Ich hasse es, wenn man mir sagt, daß ich Scheiße aussehe. Eigentlich reicht es mir für heute dicke. Gestern habe ich gelesen, daß Wutausbrüche zu den häufigeren Symptomen gehören. Davon hatte ich genug in den letzten Jahren. Die Wurstbombe tritt mich gerade. Ich reibe mir das Gesicht mit den Händen ab. "Wurstausbruch", denke ich.
"So. Besser ?" Das muß reichen. Ein unschuldigeres Unschuldsgesicht kann ich nicht.
"Viel besser !" Unter diesen weißen Haaren lassen mich nun zwei grüne Verfolgerscheinwerfer immer blasser wirken. "Grün niemals lange direkt aufs Gesicht !" habe ich an der Bühne gelernt. "Das kommt meistens unvorteilhaft, das gibt Ärger !"
Cilly mustert mich nur, bestimmt kann man schon Ornamente auf meinem Gesicht ausmachen. Ich habe den Drang, unter den Küchentisch zu kriechen und wie früher Füße in Hausschuhen zu beobachten. Da war ich auch oft ganz blass und man hat mir das gerne gesagt.
Cilly trägt cremefarbene Kunstlederpantoffel mit halbhohem Absatz. So etwas gab es bei uns zuhause nicht. Es ging funktionaler zu. Cord, Filz, Lammfell regierten dort, wo ich herkomme. Im Sommer oft Vollplastik.
"Soll ich Dir einen Tee kochen ?" Ihr Blick, der mich wie ein Kalb am Lasso hat, wird immer weicher und ich immer verkrampfter. Tee kommt bei mir nur in die Tüte, wenn ich überhaupt nicht mehr kann.
Ich kann nicht mehr. "Ich will keinen Scheißtee !" brülle ich und werde hässlich dabei. Mein Kopf sinkt in die Handmuscheln. Für einen Moment bin ich unterm Tisch. Ruhe. Schuhe.
" bekanntgegeben, daß die Räumung erfolgreich abgeschloßen ist ...", dringt von ganz weit her zu mir durch.
Jetzt muß ich es ihr erzählen und dann wird sie mir einen vom Krieg draufkleben und davon, was sie schon alles hinter sich hat mit so einem "Jungchen-ach-so-schlimm-ist-das-doch-nicht" - Gesicht und dann ...
Ich höre das Schmatzen der Kühlschranktür. "Aufmachen mußt Du, ich tue mir schwer damit." Der billige Sekt steht da und ich höre Schritte auf dem Teppich im Nebenraum. Da war ich noch nie. Das leise Beben, wenn die leicht verkantete Glastür eines Vitrinenschranks geöffnet wird. Oft wünschte ich, Gräser würden so klingeln, wenn der Wind im trockenen Sommer durch eine Wiese streicht.
Ein Plastikkorken findet sich unter der Folie.
Cilly kennt jetzt eines Kurzfassung meines Lebens. Mir fällt auf, daß ich immer nur ihr zugehört habe. Samariter sind keine Freunde. Wir sind jetzt welche.
Wir stehen alle bloß in der Schlange an, an deren Ende das Hörensagen liegt. Manchmal tuschelt uns etwas entgegen und uns ist, als wäre es von da vorne gekommen. Manches können wir nicht glauben. Manches glauben wir. Manches wollen wir nicht glauben.
Dem aufhelfen, der umfällt. Dem das Bein stellen, der sich vordrängelt. Nur den nach vorne lassen, der gar nichts begreifen will. Langsam entlang tasten. Keinem seinen Dienstgrad verraten. Keinem verraten, daß es keinen gibt.
Ich setze einen Fuß auf die Treppe. Schönes Muster.
Ich habe Zeit.