Meisenweg 6 (Romananfang)

tocotomic

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An manchen Tagen fiel Herrn Müller mitten während des allmorgendlichen Spaziergangs auf, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, ob er das Haus verlassen hatte um einkaufen zu gehen, oder ob es sich um einen reinen Spaziergang handelte.
Die Abwesenheit seiner alten Korbflechttasche die seine Tochter bei ihren kurzen Besuchen immer als erstes auf den „Dinge, die du endlich mal wegwerfen könntest“-Index setzte die aber genauso schnell wieder auf dem „Das ist noch pfenninggut“ Stapel landete, deutete auf einen einfach Spaziergang hin. Umso besser, denn seit der Wertkauf in dem er seit seinem Einzug in das damals neu erbaute und noch in strahlendem Gelb erstrahlende Hochhaus in der Meißnerstraße 6 einkaufte, sich in einen Netto Markt verwandelte, quasi über Nacht, hasste er das Einkaufen.
Die Verkäuferinnen saßen nie an Ihrer Kasse wenn er kam und seine Waren auf das Laufband legte, sondern hängten immer irgendwo im Laden Preisschilder auf oder räumten Regale ein.
Er wollte dann immer nicht unhöflich sein und die Damen mit einem lauten „Frollein“ an die Kasse zurück beordern und so musste er jedesmal auf die Gnade der schon frühmorgens schwer genervten Angestellten hoffen, sich seiner zu erbarmen. Gerade wenn die Damen sich dann an Ihrem Platz niedergelassen hatten, natürlich ohne sein freundliches Lächeln zu erwidern, drückte hinter ihm jemand auf den von der Decke baumelnden Schalter und eine blecherne Stimme verkündete, daß sofort eine weitere Kasse geöffnet wurde. Während die ungeduldigen Männer dann auf das andere Band umzogen und die Ankunft einer noch genervteren Multifunktionsangestellten mit einem gezischten „Na endlich“ quittierten, schleuderte seine Verkäuferin die Einkäufe auf das elf Quadratzentimeter große Brettchen hinter der Kasse und nöhlte ihm „Mit Karte?!“ entgegen.
Wie viel lieber war ihm doch die dicke Frau Gentner gewesen, die im Wertkauf immer an ihrem Platz saß und die wirkte, als hätte man den Supermarkt um sie herum gebaut. Frau Gentner hatte auch immer darauf geachtet, daß er nichts vergaß, da sie sich natürlich auch über die Jahre die Einkaufsgewohnheiten seiner Frau eingeprägt hatte. Irgendetwas kaufte er immer falsch ein, doch durch die Hilfe der stets gutgelaunten Kassiererin ersparte er sich die Schmach mit Feinwaschmittel von vollkommen inakzeptablen Herstellern heimzukehren und sich dann für seine immer schlimmer werdende Schusseligkeit rechtfertigen zu müssen.
Ach, die Frau Gentner…was die wohl jetzt machte?
Eigentlich könnte er sie ja mal besuchen, aber woher sollte er die Adresse kriegen? Vielleicht könnte er den Marktleiter….
„Mit Karte?“
Herr Müller wurde aus seinen Gedanken gerissen.
„Äh…bitte?“
„Mit Karte?!“
Irgendwie ergab das keinen Sinn.
„Ich verstehe nicht!“
Das Frollein wurde ungeduldig.
„Ob sie mit Karte zahlen wollen…oder bar? Sammeln Sie Herzen?“
„Bar! Herzen?“
Scheinbar war die Frage rhetorischer Natur, denn die Kassiererin legte einen Streifen mit kleinen Herzen auf seine Einkäufe.
„Danke.“
Herr Müller schenkte der Dame sein gewinnendstes Lächeln.
Keinerlei Reaktion.
Zwölf Herzen einfach so ohne jeglichen Anflug von Freundlichkeit verschenkt. Sowas!
„Sechsunddreißig einundzwanzig“.
Herr Müller kramte einen Fünfziger aus seinem Geldbeutel und fing an seine Einkäufe in die windigen Plastikbeutel einzupacken, während die Kassiererin ihm das Wechselgeld auf das kleine Plastikschälchen knallte und die eingeschweißten Würste des nächsten Kunden bedrohlich nahe kamen. So ein Streß.
Auf dem Nachhauseweg fiel ihm mal wieder auf, wie viele Autos sich um diese Zeit durch die schmale Innenstadt schlängelten, vorbei an den unzähligen in zweiter Reihe abgestellten Fahrzeugen. Eine junge Mutter hätte ihn beinahe mit der Beifahrertür erwischt, die sie achtlos Richtung Bürgersteig öffnete, während ein infernalischer Lärmbrei aus Kindergeschrei und lauter Musik aus dem Wagen waberte. Der Mann am Steuer ließ einfach den Motor laufen und die Frau wandte sich mit einem knappen „Ich spring nur kurz beim Bäcker rein“ von ihren quengelnden Kindern ab.
„Nur mal kurz reinspringen“.
„Mal schnell vorbeischauen“.
Seine Tochter sprach auch immer so. Alles war immer nur „mal schnell“ oder „ne Minute“. Hektisch war es geworden und das wurde ihm nach seiner Pensionierung noch viel deutlicher bewusst.
Auch in der Meißnerstraße herrschte Hochbetrieb.
Ein großer Lieferwagen stand vor dem Haus und zwei junge Männer die er noch nie gesehen hatte, hievten ein riesiges Sofa aus dem Laderaum.
„Vorsicht, Mann….das Biest ist sauschwer“.
Herr Müller nickte kurz nach oben Richtung Dritten Stockes, da sich Frau Segnad dieses Spektakel sicherlich nicht entgehen lassen würde.
„Brauchen Sie Hilfe“?
Der größere von den beiden, der gerade aus dem Lieferwagen stieg und das Sofa auf seinen Knien abstützte sah ihn kurz an und schüttelte dann den Kopf.
„Danke, geht schon“.
„Sind sie die neuen Mieter? Meine Name ist Müller, ich wohne im Zweiten.“
Die beiden hatten das Sofa jetzt ebenerdig und drückten sich keuchend an ihm vorbei Richtung Haustür. An einem Samstag, das würde Frau Segnad gar nicht gefallen.
„Danke, wir kommen darauf zurück.“
Herr Müller wollte sie noch feierlich willkommen heißen, aber die beiden waren schon im Hausgang verschwunden. Frau Segnad zog sich vom Fenster zurück.
Herr Müller trug seine Einkäufe in den zweiten Stock und sperrte die Tür auf.
„Pfififififi!“
Keine Reaktion. Wo war denn der kleine Streuner schon wieder? Sicherlich hatte er sich wieder vom Balkon zu den Nachbarn hinüber gemogelt und schlief unter dem Tisch. Herr Müller räumte die Dosen mit dem Katzenfutter zu den übrigen unter der Spüle und räumte das Gemüse in den Kühlschrank ein. Der Rettich war schlecht geworden, er würde ihn morgen wegschmeißen müssen und die Fischkonserven standen auch schon eine Weile…vielleicht könnte er heute abend mal wieder Fisch essen. Er räumte die frisch gekauften Sardinnenfilets in den Kühlschrank und legt die Radieschen ins Gemüsefach, dann setzte er sich auf den Stuhl in der Küche und sah auf die große Packung „Megatabs“ die er gekauft hatte. Hoffentlich waren das die richtigen.
Herr Müller sah kurz zum Fenster.
Es war richtig schönes Wetter. Eigentlich könnte er noch eine Runde spazieren gehen.
 

tocotomic

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Guten Abend,

nach langen Jahren der Schreibpause habe ich mich mal wieder an einen Text gewagt, der sich im Laufe der nächsten Monate zu einem Roman über die Bewohner des Meisenwegs 6 ausweiten soll. Das erste Kapitel ist noch sehr roh, mich würde auf jeden Fall interessieren, ob es Lust auf mehr macht und ob man erkennt, was ich im Falle des Herrn Müllers erzählen möchte. Freue mich auf Interpretationen und Feedback.
 

Charybdis

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Hallo tocotomic

Ich habe es mir angeschaut, und es liest sich wirklich sehr flott und nett, wie eben aus dem Leben gegriffen. Ich bin mir sicher, dass viele sich in so einer Figur wiedererkennen könnten oder die anderen Mitwirkenden schon mal getroffen haben.

Hier stellt sich für mich aber die Frage: Was genau ist das Ziel Deines Romans? Du willst über die Bewohner eines Hauses schreiben, das habe ich verstanden, nur was läuft da so? Sind das ganz normale Leute? Willst Du Alltagserlebnisse schildern? Oder ist dieses erste Kapitel nur der zurückhaltende und harmlose Auftakt für Dramatischeres? Und wenn ja, ist das dann Drama, Horror, Krimi, Psychologie?

Ich erkenne noch nicht den roten Faden, wo Du hin möchtest. Das ist nach dem Entwurf, den Du bereitgestellt hast, in meinen Augen auch noch schwierig. Insofern kann ich Dir nicht wirklich ein Feedback geben. Außer, dass Du nett und trotz des Alltäglichen kurzweilig schreibst. Aber ob das einen ganzen Roman ebenso kurzweilig füllen kann? Dazu bräuchte ich noch ein wenig mehr Info.

Viele Grüße und frohes Schreiben :)
Charybdis
 



 
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