Bitte kritisieren!
Melanie
Sie fiel mir nicht auf, als sie den Laden betrat. Ich sah zwar zur Tür, als ein Schatten das Rechteck verdunkelte, aber es war ein sonniger Nachmittag und im Gegenlicht war nicht mehr als eine shilouettenhafte Gestalt zu erkennen. Diese Gestalt war zierlich, weiblich, mehr konnte ich nicht erkennen. Ich befand mich schon einige Zeit im Geschäft, denn ich kannte die Verkäuferin recht gut, da wir beide im selben Chor sangen. Ich hatte an diesem Nachmittag nichts zu tun und als ich bei meinem Spaziergang an dem Geschäft vorbei kam, trat ich für einen kleinen Plausch ein. Ich unterhielt mich zwischen den einzelnen Kunden recht angeregt mit Mira über Musik, über ihre Arbeit, über private Dinge und vor allem über Wein. Es war nämlich ein Weinfachgeschäft, in dem Mira arbeitete.
Ich stand mit meinem Probenglas hinter einem Regal, etwa zwischen Rhone und Loire, und war in die Deklarationsschriften auf den Plakaten vertieft. Was mich plötzlich auf sie aufmerksam machte, war ihre Stimme. Es war eine ganz ungewöhnliche, weiche Altstimme, die etwas Melancholisches an sich hatte. Ich habe vergessen, was sie sagte, es war auch nicht wichtig. Ich verstand nur soviel, dass sie Stammkundin war, denn Mira sprach mit ihr, wie man eben nur mit guten Bekannten spricht. Aber mir kam sofort in den Sinn, dass diese Frau unglücklich war. Etwas Sehnsuchtsvolles klang in ihrer Stimme mit, das der melancholische, resignierende Tonfall noch verstärkte. Ich war wie verzaubert von dieser Stimme und spähte über das Regal. Sie hatte ihre Wochenration 'Rioja' eingekauft, zwei Kartons á 6 Flaschen und stand nun neben der Kasse mit dem Gesicht zu mir. Sie war einen halben Kopf kleiner als Mira, von ihrer Figur sah ich nichts, denn das Regal war im Wege. Sie hatte rabenschwarze Haare, wahrscheinlich gefärbt, dachte ich, die hinten auf etwas altmodische Art zu einer Rolle zusammengesteckt waren. Für die Tageszeit war sie sehr auffällig geschminkt. Die Augen waren von dicken schwarzen Rändern umgeben. Aber das Gesicht war von einer Weichheit, die mich angenehm berührte. Sie mochte auf die Vierzig zugehen, vielleicht war sie auch schon ein wenig darüber.
Sie hatte mich bis dahin noch nicht bemerkt, als ich aus dem Schatten des Regals hervor trat. Ich war wie elektrisiert, als unsere Blicke sich trafen. Das einzige, woran ich mich genau erinnern kann, war, dass sie mitten im Satz eine Pause machte, als sie mich erblickte. Wir sahen uns sekundenlang an und ich hatte den Eindruck, dass sie nur noch mich anstarrte, als sie schliesslich weitersprach. Ich wollte etwas sagen, aber ich war völlig blockiert. Ich löste mich wieder, als Mira zum zweiten Mal eine Frage an mich richtete. Es war etwas Belangloses und es fiel mir nun nicht mehr schwer, an der Unterhaltung teilzunehmen. Dabei konnte ich die Kundin genauer betrachten. Sie war etwa 160 cm gross, trug ein schwarzes, eng anliegendes Kostüm mit langem Rock, was ebenfalls etwas ungewöhnlich für die Tageszeit war. Die Konturen ihrer Figur waren sehr weiblich, ohne übergewichtig zu wirken. Ich versuchte automatisch, sie einzuordnen. Was ich bis dahin herauszulesen glaubte, liess auf eine Frau aus besseren Kreisen schliessen, die sich durch einen gutsituierten Ehemann in eine Art Abhängigkeitsverhältnis hineinmanövriert hatte. Sie war sicher intelligent genug, um ihr Leben selbst zu meistern, aber es war ihr nicht möglich, sich selbst zu verwirklichen. Sie hatte wahrscheinlich Kinder, die sie an ihre unbefriedigende Lebenssituation banden. Warum ich sie so einschätzte, kann ich nicht sagen. Es war reine Intuition.
Es kamen neue Kunden und die 'Rioja'-Liebhaberin sah sich genötigt, das Geschäft zu verlassen. Wie selbstverständlich stellte ich mein Probenglas auf ein Regal, ergriff einen der beiden Kartons und begleitete sie hinaus zu ihrem BMW. Unterwegs überlegte ich krampfhaft, was ich tun könnte, um sie wiederzusehen. Und zwar, ohne mich lächerlich zu machen. Aber wie so oft - ich tat nichts. Ich dachte an ihren Mann, ihre Kinder, an die Komplikationen, die damit verbunden waren. War ich ein Feigling oder ein guter Mensch? Ich konnte es nicht sagen. Ich war schliesslich so deprimiert, wie schon einige Male in ähnlichen Situationen. Als sie die Heckklappe öffnete, stellte ich den Karton in den Kofferraum und wandte mich zum Gehen. Ich war überrascht, als sie mir die Hand gab und sich bedankte. Dabei sah sie mich mit einem sehnsuchtsvollen Blick an. Sie stieg schnell ein und fuhr aus der Parklücke. Etwas drückte in meiner Hand. Ich öffnete sie und fand eine Visitenkarte: Melanie Rieger, Fuchsienweg 23, Tel. 23 48 16.
Melanie
Sie fiel mir nicht auf, als sie den Laden betrat. Ich sah zwar zur Tür, als ein Schatten das Rechteck verdunkelte, aber es war ein sonniger Nachmittag und im Gegenlicht war nicht mehr als eine shilouettenhafte Gestalt zu erkennen. Diese Gestalt war zierlich, weiblich, mehr konnte ich nicht erkennen. Ich befand mich schon einige Zeit im Geschäft, denn ich kannte die Verkäuferin recht gut, da wir beide im selben Chor sangen. Ich hatte an diesem Nachmittag nichts zu tun und als ich bei meinem Spaziergang an dem Geschäft vorbei kam, trat ich für einen kleinen Plausch ein. Ich unterhielt mich zwischen den einzelnen Kunden recht angeregt mit Mira über Musik, über ihre Arbeit, über private Dinge und vor allem über Wein. Es war nämlich ein Weinfachgeschäft, in dem Mira arbeitete.
Ich stand mit meinem Probenglas hinter einem Regal, etwa zwischen Rhone und Loire, und war in die Deklarationsschriften auf den Plakaten vertieft. Was mich plötzlich auf sie aufmerksam machte, war ihre Stimme. Es war eine ganz ungewöhnliche, weiche Altstimme, die etwas Melancholisches an sich hatte. Ich habe vergessen, was sie sagte, es war auch nicht wichtig. Ich verstand nur soviel, dass sie Stammkundin war, denn Mira sprach mit ihr, wie man eben nur mit guten Bekannten spricht. Aber mir kam sofort in den Sinn, dass diese Frau unglücklich war. Etwas Sehnsuchtsvolles klang in ihrer Stimme mit, das der melancholische, resignierende Tonfall noch verstärkte. Ich war wie verzaubert von dieser Stimme und spähte über das Regal. Sie hatte ihre Wochenration 'Rioja' eingekauft, zwei Kartons á 6 Flaschen und stand nun neben der Kasse mit dem Gesicht zu mir. Sie war einen halben Kopf kleiner als Mira, von ihrer Figur sah ich nichts, denn das Regal war im Wege. Sie hatte rabenschwarze Haare, wahrscheinlich gefärbt, dachte ich, die hinten auf etwas altmodische Art zu einer Rolle zusammengesteckt waren. Für die Tageszeit war sie sehr auffällig geschminkt. Die Augen waren von dicken schwarzen Rändern umgeben. Aber das Gesicht war von einer Weichheit, die mich angenehm berührte. Sie mochte auf die Vierzig zugehen, vielleicht war sie auch schon ein wenig darüber.
Sie hatte mich bis dahin noch nicht bemerkt, als ich aus dem Schatten des Regals hervor trat. Ich war wie elektrisiert, als unsere Blicke sich trafen. Das einzige, woran ich mich genau erinnern kann, war, dass sie mitten im Satz eine Pause machte, als sie mich erblickte. Wir sahen uns sekundenlang an und ich hatte den Eindruck, dass sie nur noch mich anstarrte, als sie schliesslich weitersprach. Ich wollte etwas sagen, aber ich war völlig blockiert. Ich löste mich wieder, als Mira zum zweiten Mal eine Frage an mich richtete. Es war etwas Belangloses und es fiel mir nun nicht mehr schwer, an der Unterhaltung teilzunehmen. Dabei konnte ich die Kundin genauer betrachten. Sie war etwa 160 cm gross, trug ein schwarzes, eng anliegendes Kostüm mit langem Rock, was ebenfalls etwas ungewöhnlich für die Tageszeit war. Die Konturen ihrer Figur waren sehr weiblich, ohne übergewichtig zu wirken. Ich versuchte automatisch, sie einzuordnen. Was ich bis dahin herauszulesen glaubte, liess auf eine Frau aus besseren Kreisen schliessen, die sich durch einen gutsituierten Ehemann in eine Art Abhängigkeitsverhältnis hineinmanövriert hatte. Sie war sicher intelligent genug, um ihr Leben selbst zu meistern, aber es war ihr nicht möglich, sich selbst zu verwirklichen. Sie hatte wahrscheinlich Kinder, die sie an ihre unbefriedigende Lebenssituation banden. Warum ich sie so einschätzte, kann ich nicht sagen. Es war reine Intuition.
Es kamen neue Kunden und die 'Rioja'-Liebhaberin sah sich genötigt, das Geschäft zu verlassen. Wie selbstverständlich stellte ich mein Probenglas auf ein Regal, ergriff einen der beiden Kartons und begleitete sie hinaus zu ihrem BMW. Unterwegs überlegte ich krampfhaft, was ich tun könnte, um sie wiederzusehen. Und zwar, ohne mich lächerlich zu machen. Aber wie so oft - ich tat nichts. Ich dachte an ihren Mann, ihre Kinder, an die Komplikationen, die damit verbunden waren. War ich ein Feigling oder ein guter Mensch? Ich konnte es nicht sagen. Ich war schliesslich so deprimiert, wie schon einige Male in ähnlichen Situationen. Als sie die Heckklappe öffnete, stellte ich den Karton in den Kofferraum und wandte mich zum Gehen. Ich war überrascht, als sie mir die Hand gab und sich bedankte. Dabei sah sie mich mit einem sehnsuchtsvollen Blick an. Sie stieg schnell ein und fuhr aus der Parklücke. Etwas drückte in meiner Hand. Ich öffnete sie und fand eine Visitenkarte: Melanie Rieger, Fuchsienweg 23, Tel. 23 48 16.