Melencolia (Sonett)

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Der Mund ist stumm. Stier blicken ihre Augen:
Wie weite Wunden starren sie ins All,
als wollten sie den fernen Widerhall
des Weltenraumes in sich saugen.

Versteinert sind die Flügel ihr am Rücken:
Wie Buckel ragen die und flattern nicht,
als wollte Schwermut mit Granitgewicht
die Norne in den Erdgrund drücken.

Lang starr' ich auf das Weib und möchte schrei'n.
Es raunt ein grenzenloses Mahnen
aus ihrer längst verstummten Stimme.

Wer bist du, wirres Weib? Mich fasst das schlimme,
das unentrinnbar böse Ahnen,
du mögest meine Muse sein.


(Albrecht Dürer Melencolia I, 1514)
 

Anni123

Mitglied
oh welch komplizierte Beziehung und welch überraschendes Ende im Sonett, Rolf. ja, die Muse ist eine Kapriziöse. Lächeln von Anni
 
Vielen Dank Anni! Die Melancholie ist eine manchmal unvermeidbare, aber nicht immer willkommene Muse. Mein Gedicht ist von dem Dürer Stich angeregt.

mit melancholischem Smiley,
Rolf-Peter
 

Scal

Mitglied
Die beschreibenden Strophen 1 und 2 plastizieren "sie" sehr schön und überzeugend.
Bei den Strophen 3 und 4 erlebe ich das "schrei'n" und das "unentrinnbar böse ..." als eine etwas zu "krasse" (ungerechte) Charakterisierung eines Verhältnisses zu "ihr".

LG
Scal
 

petrasmiles

Mitglied
Da hat Scal sehr genau beschrieben, was mich an diesem Sonett störte, ohne dass ich es sofort hätte beschreiben können. Ich forschte noch nach 'meinem' Bild (eines Abdrucks) von Dürers Werk und erinnere weder Bedrohung noch Wirres, was von ihr ausgeht. Im Gegenteil sehe ich sie als ein memento mori, dass man sich in den Zeitläufen auch verlieren kann und in Kontemplation erstarrt.
Die Idee (und Ausführung) finde ich hübsch, aber ich bezweifle, ob Dürers Melencolia eine Muse sein kann.

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Scal und Petra,

Dank fuer die Kommentare! Die letzten beiden Strophen wirken in der Tat sehr anders als die Quartette. Sie koennen sicher keine objektive Bildbeschreibung mehr sein, sondern druecken die subjektive Reaktion des (wahnsinnigen?) Betrachters aus, der hier wohl manische Angst davor hat, in einem depressiv katatonischen Zustand zu erstarren (zu "versteinern"). "Muse" (Mutter? Meduse?) ist sowohl zynisch als auch todernst gemeint. Sie regt zum Versteinern an. Bei "wirres Weib" schwanke ich immer noch. Ich hatte auch "wundes Weib" und kann mich bis jetzt nicht entscheiden.

Uebrigens "Bedrohung": Liegt nicht etwas Unheilvolles in der "Fledermaus" und dem "Meteor"? Erscheint die Szene nicht wie in einer apokalyptischen Vision?

LG
RP
 

petrasmiles

Mitglied
Faszinierend, wie unterschiedlich nicht nur Texte anders gelesen werden, sondern auch Bilder. Da bringt jeder seins mit rein. Aber dafür steht Lyrik ja.
Ich hatte den Meteor quasi statisch wahrgenommen und die Fledermaus gar nicht. In dem Bild bezieht sich alles aufeinander, da habe ich nichts bis wenig auf mich bezogen.
Wirklich interessant. Ich sehe Melencolia rein metaphorisch und gar nicht konkret. Geht nur in den Kopf, sonst nirgends hin. Allenfalls die Schwermut ergreift mich auch emotional, aber dann wird es direkt übertragen in das memento mori. Von daher kann ich auch keine apokalyptische Vision erkennen.
Das ist Deins :)

Liebe Grüße
Petra
 
Deine metaphorische Sichtweise, Petra, ist sicherlich historisch korrekt! Ich glaube, ich sollte das Sonett gar nicht "Melencolia" sondern lieber "Beim Betrachten der Melencolia" nennen. (Eventuell kann ich ja auch einen Maler finden, der das passende Bild zu meinem Gedicht malt... :) , alla "Schwermuth" von Max Pechstein, oder so )

LG,
Rolf-Peter
 

sufnus

Mitglied
Hey RP!
Mir gefällt die Verschränkung von Melancholie und Muse sehr gut - das Zusammenspiel von Schwermut und schöpferischer Inspiration ist ja durchaus in ganz unterschiedlichen Kunstgattungen behandelt worden und ich empfinde diesen Bezug, wonach der schöpferische Geist immer schwermutgetrieben sei und nur der Schwermütige schöpferische Kraft entfalten könne, als typisch romantische (im Sinne der Epoche) Haltung.
Ich lesen - ganz äußerlich-formal - nur etwas gegen den sehr weit gespannten Reimbogen von S3Z1 zu S4Z3 an. Zwar ist dieser laaaaaange Bogen, der die gesamten Terzette überwölbt rein vom Textbild her nicht ohne Reiz, nur empfinde ich es als klanglich überdehnt. Zumal die Parallelsetzung der beiden Reimzeilen S3Z1 und S4Z3 durch die unterschiedliche Anzahl an Hebungen weiter erschwert wird.
Von diesem geschmackssächlichen und äußerlichen Aspekt abgesehen mag ich das Sonett sehr. :)
LG!
S.
 
Dank, S.! Dein Kommentar hat mich der Schwermut entrissen! (Oh weh, jetzt muss ich mir wohl eine neue Muse suchen… ;) )
Reimbogen: Hm, bei der “Kathedrale“ hatte ich den ähnlich gespannt. Aber da war sicher „Bogenrippen/Rosenlippen“ vom Klang her eindringlicher.

LG
RP
 



 
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