Memories of Würzburg

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Statt einfach auf sein Ziel loszugehen, biegt er vom Hauptbahnhof nach Westen ab; da ist er früher nie gewesen. Entweder ist die Gegend nicht weiter bemerkenswert oder er heute unfähig, das Besondere an ihr zu entdecken. Er ist doch nur nach Würzburg gefahren, um ein Magazin zu besorgen … Ob die Wirtin seine Abwesenheit ausnutzen wird, um wieder in der Ferienwohnung zu schnüffeln? Immerhin war sie so ehrlich, es hinterher zu beichten: Ich habe meinem Mann gesagt, da muss ich doch mal nachsehen, wie so ein Einzelner mit der Wohnung zurechtkommt … Es sind freundliche Alte, offen, gesprächig, sie haben ihr ganzes Leben in der kleinen Stadt am Main zugebracht, und er, der einsame Wanderer durch die Spessartwälder, kommt ihnen zugleich sympathisch wie auch ein wenig seltsam vor; sie verbergen beides nicht.

Er umrundet einen Block und ist schon auf dem Rückweg ins Zentrum, da kommt ihm einer entgegen, gleichfalls zu Fuß, der Kleidung nach ein Motorradfahrer, die Maschine irgendwo abgestellt. Rascher Blick auf ihn: Wird Anfang bis Mitte dreißig sein, sieht nicht übel aus … So kurz der Blick ist, der andere fängt ihn auf, hält ihn fest, nickt dem Fremden zu, lächelt und ist weitergegangen. Was ist da gewesen? Das ist dem Stadtbesucher lange nicht passiert, ihm, der länger als zehn Jahre schon wie ein Weltmönch lebt. Er ist mittlerweile ein Mann von fünfzig Jahren, hat kein Problem damit und eines jetzt doch: zu verstehen, wie der andere ihn und seine Vorgeschichte im Nu hat durchschauen können. Denn gerade das hat im langen, eindeutigen Blick und der Gebärde gelegen, nicht misszuverstehen. Hätte er sich nach dem anderen umdrehen sollen? Gewiss nicht.

Am Hauptbahnhof verleitet ihn die Blumenpracht der Anlagen dazu, noch weiter ostwärts zu gehen, statt zur Fußgängerzone abzubiegen. In dieser Gegend lag früher jenes Hotel, da hatte er vor zwanzig Jahren, auf der ersten Reise nach Franken, zweimal übernachtet. Dazwischen die Tage im Spessart, und an der Tauber hatte es geregnet ... Er beeilte sich damals, den nächsten Bahnhof zu erreichen, übersah eine Schnecke, zertrat ihr Haus und konnte es all die Jahre nicht vergessen. Die Selbstanklage lautete: fahrlässige Tötung einer Weinbergschnecke … So sensibel zu reagieren, das könnte er mit zeitlichem Abstand - und solchem zu sich selbst auch - jetzt lächerlich finden, nur ist seine Distanz dafür noch immer nicht groß genug. Zeit, endlich die Buchhandlung zu suchen.

Der Zeitschriftenständer ist gut bestückt. Er dreht ihn hin und her, zieht dieses und jenes heraus, blättert darin, stellt es zurück und entscheidet sich nach ein paar Minuten für ein Fachmagazin. Sein Titel ist unverfänglich und es enthält doch, was er sucht: die kleine Rubrik mit verschämten Kontaktanzeigen. Bevor er zur Kasse gehen kann, wird er von links angesprochen: „Guten Tag, mein Herr … Entschuldigen Sie ... Ich wollte Sie etwas fragen: Haben Sie Arbeit für mich? Irgendeine Arbeit?“ - Es ist eine Frau in den späten Zwanzigern, mit slawischem Akzent, den er nicht genau einordnen kann. Er schüttelt bloß den Kopf und lässt sich nicht aufhalten.

Nachher steht er auf der Alten Mainbrücke, neben der mächtigen und beschützenden Josephsfigur, und sieht abwechselnd auf den dahinströmenden Fluss und die statischen Weinberge und sieht sie doch nicht. Würdest dich gern klein machen wie das Jesusknäblein unter dem Heiligen da, rein und unschuldig? Aber, fährt er in Gedanken fort, sie kann gar nicht gesehen haben, was ich dort im Heft kurz überflogen habe … Und wenn doch, er hätte ihr den Hintergrund nicht plausibel machen können: dass er an einem Roman schreibt und jene verklemmten Inserate für ihn nur Material zu diesem Zweck sind.

Noch einmal hinauf zur Festung. Er will heute nicht wieder ins Museum gehen, nur von oben auf die kompakte Masse der Altstadtdächer blicken. Vorerst streicht er unschlüssig die äußeren Festungsmauern entlang, als ob sie schwer zu überwinden, und lässt den Blick eine hohe Wand auf und ab gleiten. Tatsächlich interessiert er sich mehr für die Szene an ihrem Fuß. Da ist ein Besucher-Parkplatz, um einen Wagen herum stehen fünf Menschen, zwei Frauen und drei Männer verschiedenen Alters. Sie begrüßen einen Ankömmling, der sein Motorrad neben ihnen ausrollen lässt, den Motor abstellt und burschikos absteigt. Ist es der von vorhin? Nein, er ist ungefähr zehn Jahre jünger und, war der andere schon recht attraktiv, selbst noch viel besser aussehend. Bei sehr gefälligen Formen hat seine Ausstrahlung doch etwas Erkältendes, so dass man sich das Wort schön versagt. Es ist jetzt sein Auftritt, er weiß es und richtet sich danach. Er ist erwartet worden, die anderen sind die Kulisse. Das Quintett ist vor ihm daheim im Taubertal abgefahren und hängt jetzt an seinen Lippen, um zu erfahren, wie rasch und ungehindert er sie eingeholt hat. So trivial das ist, so großartig wird es geschildert. Dabei blickt der junge Mann keinen länger als drei Sekunden an, sein Blick ist zumeist himmelwärts gerichtet. Er scheint da eine nur ihm sichtbare riesenhafte Abbildung ins Auge zu fassen oder, indem er spricht, ein großes Standbild zu errichten. Wessen Bild oder wessen Statue? Dann bricht die Unterhaltung ab und alle gehen schweigend ins Innere der Festung. Man verschwendet keinen Blick an den Beobachter.

Der Weltmönch folgt der Gesellschaft nicht in den Festungshof, er bleibt noch eine Weile im Vorhof. Dann tritt er spontan den Weg talwärts an. Memories of …? Hier wird es jetzt kein Feuerwerk geben und kein Paar wird hinter einem schon versperrten großen Tor zurückbleiben. Er muss wieder an die Weinbergschnecke von der Tauber denken. Gut, dass sein eigenes Schneckenhaus noch intakt ist – so kann es lange bleiben.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Arno,

eine ausgesprochen 'warme' Geschichte, die mich sehr erfreut hat.
Dieses Mal ist der Protagonist kein - oder nicht nur - rationaler Beobachter, sondern bringt sich ganz bewusst mit ein.
Vielleicht liegt mein Entzücken auch daran:
und konnte es all die Jahre nicht vergessen. Die Selbstanklage lautete: fahrlässige Tötung einer Weinbergschnecke … So sensibel zu reagieren, das könnte er mit zeitlichem Abstand - und solchem zu sich selbst auch - jetzt lächerlich finden, nur ist seine Distanz dafür noch immer nicht groß genug.
Es gibt kaum etwas, was mir so stark in Erinnerung geblieben ist, und mich auch mitunter anfällt, nicht nur einfällt, wie meine Fehltritte; das Schuld- oder Schamgefühl ist jederzeit präsent, wenn mich die Erinnerung überkommt. Das hat mich lange 'gestört' in dem Sinne, dass man ja eigentlich einen 'ausgeglichenen' Haushalt an Ruhmes- und Missetaten hat und es irgendwann 'gut' sein müsste. Aber das ist es nicht - und steht doch eigentlich für etwas Liebenswertes, also habe ich meinen Frieden damit gemacht.
Sehr gerne gelesen!

Liebe Grüße
Petra
 
Danke für die günstige Meinung, Petra.

Der Unterschied im Tonfall ist wohl dem zwischen einem Protagonisten in der 1. und einem in der 3. Person Singular geschuldet. ich gehöre zu der Sorte Autoren, denen es leichter fällt, eigene Erfahrungen persönlicher rüberzubringen, wenn sie sie einer dritten Person unterschieben können.

Das mit den Schuldgefühlen hat auch ganz praktische Konsequenzen. Seitdem schaue ich draußen in der Natur viel mehr auf den Boden vor mir. Aber was soll ich an einem heißen Sommertag auf einem sonnigen Waldweg tun, auf dem überall Ameisen wimmeln? Auch im großen Lebenszusammenhang lässt sich diese grundsätzliche Dissonanz nicht wirklich auflösen, nur der eigene Umgang damit wird angepasst, im Lauf der Zeit. Manchmal wüsste ich gern, welche innere Einstellung zu langjährigen Haftstrafen verurteilte Mörder gegenüber ihren Taten haben. Denken sie oft daran, gibt es da eine Entwicklung?

Moralische Abendgrüße
Arno
 

petrasmiles

Mitglied
Manchmal wüsste ich gern, welche innere Einstellung zu langjährigen Haftstrafen verurteilte Mörder gegenüber ihren Taten haben. Denken sie oft daran, gibt es da eine Entwicklung?
Das wird so sein, wie der Mensch 'vorher' war - ist er ein Verzweifelter gewesen, wird es so bleiben, ist es ein tumber Verdränger gewesen, wird es so bleiben - und alles dazwischen.
Ich stelle mir ein Gefängnis nicht wie eine 'Besserungsanstalt' vor, eher wie ein eigener Kosmos mit eigenem Alltag - und da wird wohl eher die Folge der Tat das Bewusstsein bestimmen, nicht die Tat selbst. Aber vielleicht tue ich da einigen (wenigen) Unrecht. Man sollte meinen, alle möglichen Mordtaten sind im Fernsehen schon durchdekliniert und man alle Aspekte kennen ... ich denke nur, das ist Fiktion insoweit, dass die meisten Mörder, wenn sie nicht im Affekt handelten, eine Absicht verfolgt haben mit ihrer Tat, und am meisten bereuen, erwischt woren zu sein.
Unabhängig von einer so schweren Straftat - wie viel mögen herumlaufen ohne Plan, die einfach immer nur reagieren?

Moralische Grüße zurück!
Petra
 



 
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