Memory

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Der Großvater will noch lange nicht abdanken.
Das kann er sich auch gar nicht erlauben, solange die Kinder noch so klein sind.

Man weiß ja noch gar nicht, ob sie wirklich was werden.
Könnte gut sein, dass sie so ein nichtssagender Speichellecker werden wie ihr Vater, der alle Ideale verkauft hat, noch ehe sie überhaupt in ihm reifen konnten.
Der Großvater schämt sich ein bisschen, weil er es bei Holger so weit hat kommen lassen.
Mit den Enkeln sieht er eine neue Chance gekommen, ziemlich sicher die letzte.
Nur vage ist die Chance.
Bei seinen Enkeln ist sich der Großvater keineswegs sicher.
Sie lachen zwar noch neugierig und echt, aber allzu oft sind sie ihm schon viel zu gewöhnlich und verdorben.
Reden von Lamborghinis und von Heidi Klum, als wären sie kindliche Abziehbilder dieser verkackten Welt - und immer hängen sie in einem dieser Spiele fest, die in ihren Handys wohnen.
Und wenn sie lernen, dann tun sie das so ernsthaft, wie man es nur tun kann, wenn man vom Lernen absolut nichts versteht, das macht den Großvater am meisten fertig.
Aber was soll man auch erwarten, nachdem man sie in diese Verkopfungsfabrik gesteckt hat, für die die Eltern auch noch monatlich blechen.
Holger findet natürlich nichts dabei, dass Bildung nur noch ein flackerndes Irrlicht ist, das die Welt grade mal bis zur nächsten Nasenspitze erleuchtet - wie sollte es auch anders sein?
Holger selbst kennt es ja ebenfalls nicht anders und auch der Großvater kann sich hier gar nicht ganz freisprechen von seiner Schuld.

So wenig der Großvater damals über die Erziehung des kleinen Holger nachgedacht hat, so wenig denkt sich nun Holger dabei, wenn er die Kinder einmal pro Woche zum Großvater in die Nachmittagsbetreuung schickt.
Ein wenig gewundert hat ihn der Wunsch seiner Kinder schon, denn für Holger ist der schulische Hort der Inbegriff eines kindlichen Entwicklungsparadieses.
Er weiß es halt nicht besser.
Er ist es ja nicht, bei dem sich die Dinkelspaghetti mit Tomatensoße im Mund in oreganogetränkte Kieselsteine verwandeln, und der sich nach sechs Unterrichtseinheiten am liebsten im Dauerrauschen der quäkenden Kinderstimmen ertränken würde.
Obwohl, er arbeitet im Großraumbüro, also weiß er es vielleicht doch.
Jedenfalls, damit Holger auch am Freitag open end überstundenmäßig zum Speichellecken antreten kann, sind die Enkel nun also freitags beim Großvater, und das ist sicher gut für dieses Vorwärtskommen, von dem alle immer reden.
Aber noch besser für die Enkel, denen der Großvater nun regelmäßig das eingeschränkte Gesichtsfeld erweitern, die Scheuklappen fortreißen kann. Zumindest wird er nicht müde, es zu versuchen.
So auch heute.
„Komm, wir spielen Memory!“ - sagt der Großvater schelmisch, um die Kinder nachhaltig zu schockieren.

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Ist man erst im Großvater-Alter angekommen, hat man gewiss schon ein paar Leute überlebt, also meistens.
Theoretisch kann man zwar auch mit 30 schon Großvater sein, aber so einer war der Großvater dann nicht.
Beim Großvater ist die 30 schon viele Tote her, und damit einhergehen viele Beerdigungen, die einen auch mal runterziehen können.
Eine jede dieser Abdankveranstaltungen raubt ja doch ein Fitzelchen vom selbstverständlich unbeschwerten Leben.
Diese Selbstverständlichkeit können meist nur sehr junge Enkel haben, die vor sich hin leben, einfach so; nicht aus dieser angsterfüllten und vorauseilenden Dankbarkeit heraus, wie sie sich bei Beerdigungen verfestigt.

Das unumgängliche Eingraben, jaja.
So kommt man wenigstens mal wieder aus dem Haus und trifft sich; ein bisschen leidig zwar, aber in gewisser Hinsicht auch ganz interessant.
Im Grunde steht der Großvater den morbiden Pflichtterminen ambivalent gegenüber.
Als gelernter Mann ist das Gefühlsbetonte dann doch suspekt, wenn es auf einen einströmt und eine Reaktion erfordert.
Das Rumgeheule dabei war ja noch nie seins - noch nicht mal, als Marie gestorben ist.
Aber der Großvater beobachtet gern, und besonders gern beobachtet er Leute auf Beerdigungen - das geht natürlich nur, wenn nicht grad die eigene Frau hinüber gegangen ist.

Der Großvater hat sie alle gehört: Die immergleichen Reden, wenn ein Mensch das erloschene Leben eines anderen zusammenfasst und belobhudelt.
Die Bewertungsgrößen sind doch immer die gleichen, die bedeuten nichts.
Die Bedeutungsschwere sitzt indes auf der anderen Seite; gegenüber von dem, der wohlfeile Reden schwingt.
Der Großvater könnte zum Begräbnis eines völlig Fremden gehen und sofort sagen, ob das ein Sauhund war, den man bloß verscharrt oder ob den Gästen tatsächlich was am Verstorbenen gelegen hat.
Oft sind es viele Gäste, die stumpf ihre Anwesenheitspflicht absitzen und manchmal nur ein paar, deren ersticktes Schluchzen fast schon ergreifend ist.
Schwer zu sagen, was den Leuten unerträglicher ist: das schändliche Vergessenwerden oder die schändliche Erinnerung.

Als Marie noch gelebt hatte, hatten sie bei diesen Anlässen oft nebeneinandergesessen, schwarzgekleidet und mit angemessen ernsten Gesichtern, während ganze Menschenleben auf einer Kanzel in aller Kürze abgespult wurden und reihenweise Körper für immer in Erdlöchern verschwanden.
Marie hat geheult, manchmal, wie die Frauen das tun, aber nie haben sie miteinander über das zutiefst Seltsame dieser Angelegenheiten gesprochen, und was das eigentlich alles bedeutet.
Beim Essen wars mit den Tränen dann sowieso fast immer vorbei, und der Großvater hat früh erkannt, dass das Heulen wohl ordentlich Hunger macht.

Am Ende dieser dunklen Begräbnistage, soviel stand immer fest, hatten der Großvater und seine Frau jeweils eins dieser Totenbildchen in der Tasche, die man bei Beerdigungen als finale Erinnerungsstütze in die Hand gedrückt bekommt.
Handtellergroß, mit schwarzen Kreuzen, welkenden Blättern oder betenden Händen vorne drauf.
Innen die Eckdaten des Verstorbenen und ein Foto, und immer irgendein sehnsüchtiger Spruch, der die Unbarmherzigkeit des Sterbens durch Worte zu besänftigen versucht.
Das Totenbild, es ist die finale Visitenkarte, wenn man bestimmt niemanden mehr besuchen geht; ein bürokratischer Sterbenachweis, der amtliche Pass für die letzte Reise, der finalisierte Lebenslauf, mit dem man sich im Diesseits kaum noch wo bewerben muss.

Marie, die gute Frau, hat diese nutzlosen Papiere scheinbar gesammelt wie Briefmarken aus dem Totenreich.
An dem Tag, als das dem Großvater klargeworden ist, da war Marie selbst lange schon eine solche Papiererinnerung geworden.
Aber irgendwann muss man sich ja durch die materiellen Hinterlassenschaften verstorbener Ehefrauen kämpfen, der Großvater hatte es gottlob lang genug aufgeschoben.
Bei der Gelegenheit sind ihm schließlich die hundert Totenbilder in die Hand gefallen, wie Konfettiasche.
Passenderweise regneten sie aus einer pechschwarzen beschlagenen Pappschachtel, die ganz oben im Schrank versteckt war - aber Stil hatte Marie ja immer gehabt.

Erst mal war der Großvater hilflos erschrocken; denn genau dann, wenn man den Schrank seiner verstorbenen Frau ausräumt, ist man ohnehin in einer seltsamen Stimmung, und hundert tote Gesichter sind generell keine angenehme Überraschung.
Gott, die meisten davon hatte er ja schon völlig vergessen!
Allein diese Erkenntnis raubte einen Moment lang allem jegliche Sinnhaftigkeit, und so blieb der Großvater da unten hocken, am Fuße eines Schrankes, und pflückte Totenbild für Totenbild aus den Haaren eines blass gewordenen Teppichs.

Fast alle waren sie doppelt, hundert blattgewordene Zwillinge.
Marie hatte wohl nach den Beerdigungstagen regelmäßig die Exemplare aus seinen Mantel- und Anzugtaschen einkassiert und zusammen mit den ihren in diese Schachtel getan, bis es hundert waren.
Hundert auf einmal sind ziemlich starker Tobak und noch offenkundig sinnloser als jedes einzeln für sich.
Neben jedem Foto die immerwährenden Plattitüden:
Zur lieben Erinnerung.
Nach schwerer Krankheit.
Du wirst uns immer unvergesslich sein.
Kurze Krankheit.
Von Gott zu sich gerufen.
Mit heiligen Sakramenten.
Von uns gegangen.
Lasst mich weiterleben in eurer Erinnerung.
Ruhe sanft.
Zur bleibenden Erinnerung.
Gedenket im Gebete.
Der Großvater hat sie sich alle reingezogen, während er da unten saß, auf dem kratzigen Teppich vor dem Schrank seiner Frau, und er hat sich schließlich nicht mehr halten können vor Lachen, so erbärmlich war das Ganze.
Die Bibelverse und verzweifelten Weisheiten noch gar nicht mitgezählt.
Wie groß dieser Gott am Ende dann doch immer wird, und der vorgetäuschte Tiefsinn.
So besessen sind die Leute vom Nichtvergessen und Nichtvergessenwerden, und verstauben dann doch nur als abgeheftete Todesbriefmarke in den Schränken nicht minder gestorbener Ehefrauen.
Das hat schon eine gewisse Komik, es ist nicht zu leugnen.
Was versucht man nicht alles, um das bisschen Leben dem ewigen Tod zu entreißen!

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Memory, wie langweilig!
Also, begeistert sind die Kinder nicht, als der Großvater die schwarze Schachtel auf den Tisch knallt.
Die riecht recht trocken nach Papier, das wohl ziemlich lange mit sich selbst allein gewesen ist, und schneidend nach Klebstoff.
Aber beim Großvater weiß man ja nie.
Hier hat er wohl mit Bastelkleber alte Schwarzweißfotografien auf alte Spielkarten aufgeklebt - obwohl, ein paar in Farbe sind auch dabei.
Die Fotos breitet er nun alle auf dem großen Esstisch aus, wild durcheinander, mit der uniformen Spielkartenseite nach oben.
„Na, da wollen wir doch sehen, wer ein gutes Gedächtnis hat!“ gibt der Alte eine Spur zu lustig den Animateur, als hätten sie noch nie Memory gespielt.

Tante Elsa ist die erste, die aufgedeckt wird, gemeinsam mit einem Johann aus der linken oberen Ecke.
Elsas Feier war eine schöne, an die sich der Großvater noch gut erinnert. Geheult wurde nicht zu knapp.
Marie hatte sich bescheidene Eiernockerl bestellt und wollte unbedingt gegen das wirklich kross gebackene Cordon Bleu tauschen. Irgendjemand hat ein ganzes Tablett mit Getränken umgestoßen, ein Kind hat sich in die Hosen gemacht.
Wann war das noch gewesen? Im 97-er Jahr vielleicht?
Die gute Elsa!
Hingegen: Mit diesem Johann hätte sich eine Elsa im Leben nicht verstanden, die beiden sind nun wirklich ein mehr als ungleiches Paar. Das sieht der Großvater sofort, auch wenn er kaum noch was von diesem Johann weiß. Irgendein Kollege, ein ferner Bekannter.
Das Spiel geht weiter.
Der Großvater versucht sich zu merken, dass Elsa relativ mittig auf dem Tisch liegt.
Der erste Treffer ist tatsächlich sein kleiner Bruder, viel zu früh gestorben.
Ach, Toni.
Es hat keinen Sinn, den Kindern von Toni zu erzählen, sie haben ihn ja doch nicht gekannt. Er sie auch nicht.
Schwer zu sagen, was von beidem das größere Drama ist.

Die Kinder haben jetzt fast schon Spaß an der Sache.
Nach und nach sind sie voll drin und haben sich mit den Briefmarkengesichtern vertraut gemacht als wären es Markenlogos.
Es läuft ganz gut im Gesamten.
Wenn das der Holger erfährt, er fällt tot um.
Der Großvater lacht, aber echt.
Immerhin ist er voll am Gewinnen.



 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Nachdem ich mal in den Text reingefunden hatte, wurde er richtig klasse!

Und ein toller Tipp für die neue Gestaltung eines Memory-Spiels!

Gruß DS
 



 
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