Memory

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Die späten Jahre des Ehepaars Sonja und Gero Callsen verliefen ausgesprochen harmonisch. Für ihr Alter, beide knapp über achtzig, waren sie gut in Schuss. Von einigen kleineren Beschwerden abgesehen, verlief ihr Leben strukturiert und in geruhsamen Bahnen. Die Kinder und Enkel standen versorgt im Leben, man sah sie leider nur zu selten. Und jetzt auf der Zielgeraden des Lebens wurde es auch ansonsten ruhiger um die Callsens herum. Ihre Aktivitäten wurden geringer, die Todesfälle im Freundes- und Bekanntenkreis nahmen zu. Dennoch, sie klagten nicht über ihr Leben. Auffällig war allerdings, dass die Häufigkeit der Rückblicke zunahm. Und es waren die angenehmeren, an die sich bevorzugt erinnerten, vor allem die noch sehr klaren Bilder vom Heranwachsen der Kinder. Besonders die Erinnerungen an den jüngsten Enkel bereiteten Sonja und Gero großes Vergnügen. Nun, da sich bei ihnen bisweilen altersbedingte Gedächtnisdefizite bemerkbar machten, wurde eine spezielle frühere Situation mit dem Enkel zum 'Running Gag', der sie heute noch amüsiert. Der Kleine forderte sie damals oft zu einem Memory-Spiel auf, das stets mit dem gleichen Scherz begann: „Oma, Opa, ich hol schon mal die zwei Karten.“ Natürlich sind Kinder älteren Erwachsenen in solchen Spielen meistens überlegen, und schon damals hatten Sonja und Gero beim Memory-Spiel kaum eine Chance gegen ihn gehabt. Ihre aktuellen sporadischen Gedächtnislücken, die bei Gero stärker als bei seiner Frau ausgeprägt waren, trugen sie mit Humor, denn ihre Lebensqualität wurde dadurch kaum gemindert. Und an der verbreiteten Überthematisierung der Demenz beteiligten sie sich erst gar nicht. Sie betrachteten eine solche Entwicklung eher fatalistisch.

In ihrem bisherigen Leben hatte keiner von ihnen jemals regelmäßig Tagebuch geführt. Nun aber begannen sie damit. Sie notierten Beispiele ihrer Vergesslichkeit und konnten sich eine Zeit später köstlich über diese Anekdoten amüsieren. Es handelte sich um eher harmlose Geschehnisse, und in ihrem Umfeld gab es jüngere Bekannte mit gravierenderen Auffälligkeiten. So konnten die zwei fröhlichen Alten bald auf ein Sammelsurium kurioser Gedächtnislücken zurückgreifen. Gero scherzte häufig darüber: Wenn man doch auf das Langzeitgedächtnis am längsten zurückgreifen kann, so könne man doch einfach Aktuelles aufnehmen, und warten, bis es ins Langzeitgedächtnis übergegangen wäre, und es dann eben mit Verspätung abrufen. Diesen Vorschlag ihres Mannes fand Sonja aber dann doch zu schräge. So blieben sie bei ihrer täglich aktualisierten Kladde und kamen in diesem Lebensabschnitt bestens voran. Sonja, als frühere Musik- und Werklehrerin, konnte sich nach wie vor gut mit kreativen Dingen beschäftigen - Zuhause oder bei Freundinnen. Gero zog es eher nach draußen. Er war im früheren Berufsleben in seiner Eigenschaft als Architekt an vielen Bauvorhaben beteiligt gewesen. Davon gab es eine beträchtliche Anzahl in der Region: Hotels, Einkaufszentren, Bahnhöfe, Kliniken etc. Diese suchte er in sporadisch auftretenden Nostalgie-Anwandlungen auf, um sie in ihrem nun 'lebenden' Zustand zu bewundern. Damit füllte er häufig seine freie Zeit.

Das letzte große Projekt, das er fast bis zu dessen Fertigstellung mit betreut hatte, war die Uniklinik in der nahen Großstadt. Zu dieser fuhr Gero eines Tages. Dort war er jetzt vom Gesamteindruck der gewaltigen Ausmaße und der Betriebsamkeit auf dem Gelände schwer beeindruckt. Er als Architekt bewunderte hier die monumentale Funktionalität. Gero hatte den Gesamtbau sofort als Blaupause vor Augen, als er den Eingangsbereich betrat. Gigantisch, was er hier sah. Ein Teil davon war nach seinen Ideen gestaltet, stellte er mit Stolz fest. Jetzt, im fertigen Zustand, glich das geschäftige Treiben dem eines großen Hotels. Er, der visuell geprägte Mensch, hatte keine Schwierigkeit, sich hier im Haus zurechtzufinden. Und so begab er sich auf Erkundungstour ins Innere des Gebäudekomplex'. Dabei empfand sich Gero nicht als störend, als er so durch die Gänge der verschiedenen Bereiche schlenderte. Ein freundlich grüßender älterer Herr wurde hier absolut nicht als fehl am Platz empfunden. Sein besonderes Interesse galt den Untergeschossen. Er konnte es gut erinnern, dass es in diesem Bereich in einigen Versorgungstrakten Konstruktionsprobleme gegeben hatte, sodass diese erst nachträglich voll funktionstüchtig werden konnten. Dies geschah dann nach seiner aktiven Zeit. Also spazierte der ehemalige Bauplaner bald durch Räume und Gänge, die er vom Plan her nicht mehr in seiner Erinnerung hatte. Er durchstreifte eine ganze Weile die Unter- und Kellergeschosse des riesigen Krankenhauskomplexes. Dann schwächelte er und bemerkte, dass er sich verirrt hatte. Das ausgerechnet ihm, hier in seinem Klinikum. Auf dem Weg in diesen Irrgarten hatte er sich beim Wechseln der Flure und Raumfluchten keine markanten Punkte zu Orientierung gemerkt. Er wurde unruhig. Panik stieg in ihm auf. Ermüdet setzte er sich orientierungslos in eine Ecke. Dass es hier unten keinen Handyempfang für einen Kontakt nach draußen gab, verunsicherte ihn so stark, dass er resignierte und lethargisch in seiner Position verharrte. Stundenlang.

Am nächsten Morgen fanden Betriebshandwerker einen verwirrten alten Mann in einem Kellerraum im hintersten Bereich des Untergeschosses. Dieser war nicht ansprechbar, konnte aber anhand seiner Personalpapiere identifiziert werden. Die Untersuchung in der Notaufnahme des Uni-Klinikums ergab, dass der alte Mann außer einem Flüssigkeitsmangel keine körperlichen Defizite aufwies. Der offenkundige Verwirrtheitszustand sollte sich aber nicht wieder legen. Ehefrau Sonja war entsetzt, für sie brach ein Teil ihrer Welt zusammen. Es gab keine andere Option, als die einer Einweisung ihres Mannes in ein Pflegeheim für an Demenz erkrankte Menschen. Geros dementer Zustand blieb bis auf seltene, kurze klare Momente manifestiert. Hin und wieder blitzen kurzzeitig emotionale, nachzuvollziehende Regungen auf, meist dann, wenn sein jüngster Enkel ihn besucht. Dann kommt es vor, dass sich die Andeutung eines kindlichen Lächelns auf Geros sonst so leere Gesichtszüge legt, wenn er den Enkel mit, „Hol schon mal die zwei Karten“, begrüßt.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Horst,

eine schön erzählte Geschichte über die Fragilität des Glücks im Alter.
Ich habe einmal gehört, dass es eine demenzartige Krise geben kann, wenn ein alter Mensch in eine ihm fremde Situation gesteckt wird, in der er sich nicht wohl fühlt. Das erlebt man bei Krankenhausaufenthalten. Diese 'Verwirrung' kann sich aber wieder legen, wenn die Person die belastende Situation verlassen kann. Bei Deinem Protagonisten war wohl die Situation der Verlorenheit der Auslöser für einen großen Schub in der Krankheit. Ob sich daran etwas geändert hätte, wenn sie bei den ersten Anzeichen in ärztliche Betreuung gegangen wären? - wovon Du nichts erzählst. Ich bin mir da gar nicht sicher. Man neigt dazu, solche Ereignisse vom Ende her zu denken, aber wenn man an diesen Punkt zurückgeht, wo die Protagonisten die Kladde nutzten, dann hört es sich so an, als hätten sie selbstwirksam gelebt. Wäre das mit ärztlicher Betreuung auch so gewesen? Macht das nicht etwas mit einem, wenn man mit einer Diagnose lebt?

Die Botschaft ist: Man muss jeden Tag genießen, was Deine Protagonisten getan haben.
Wir müssen uns klar machen: Das Ende wird immer bitter sein.

Liebe Grüße
Petra
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Sehr schön und realitätsnah erzählt. Im Alltag zuhause fällt das Fortschreiten der Demenz nicht so auf, eher an scheinbar bekannten früheren Orten. Das kommt hier gut zum Tragen.

Aber das Langzeitgedächtnis ist noch da, noch. Siehe Erinnerung an den Enkel!

Gruß DS
 
Liebe Petra,

die Crux ist, niemand weiß, ob, und wie er von solch einem Verfall getroffen wird. Die Empfehlung, im prädementen Bereich möglichst gelassen zu bleiben, also situationsbedingt genießen, klingt gut. Die hier in der Geschichte beschriebene Zurückhaltung in den inflationär betriebenen Debatten zu diesem Thema wäre ein gutes Beispiel. Vielen Dank für deinen zustimmenden Beitrag und die Sterne..

Herzliche Grüße.

Horst
 



 
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