Mia, eine Katzengeschichte, vielleicht

An manchen Momenten kann sich Maria regelrecht festhalten.
An Momenten, an Erinnerungen und Bildern im Kopf, da hängt sie sich mit Begeisterung dran und hängt die Zeit daran auf.
Das tut sie oft und gern, und etwa derart:
Wenn Maria von wo auch immer nach Hause kommt und die Wohnungstür aufschließt, drängt sich ihr meistens, fast verlässlich, das grüßende Köpfchen der Katze entgegen.
Das ist ein solcher bildgewordener Halte-Moment in Marias Kopf, diese Vorstellung begleitet sie durch ihre gelebten Tage.
Man kann fast drauf wetten, auf diesen Moment und den braunglänzenden Schimmer von wirklich seidigem Fell in diesem langgestreckten Flur.
Nur manchmal döst das Haustier so tief und fest in einer seiner Schlafsphären, oder ein lautes Geräusch aus der Nachbarschaft hat es zuvor in eins seiner Verstecke verschreckt, dass nichts es zu locken vermag.
Tatsächlich verfügt die Katze über geheime Rückzugsorte, die Maria teilweise ein Rätsel sind.
Mitunter versteht es die Katze sogar, sich derart gut zu verstecken, dass Maria schon mehrmals stundenlang und verzweifelt die komplette Wohnung abgesucht hat, ehe die Katze wie aus dem Nichts heraus irgendwann doch noch aufgetaucht ist, unerwartet und weiß Gott woher.
Wenn sich die Katze in einem dieser mysteriösen Schlupfwinkel versteckt hält, dann, ja DANN kommt niemand zur Tür, um Maria zu begrüßen.
Das ist aber selten.
Beim Heimkommen ist Maria ohnehin meist mit Einkaufstaschen oder Post beladen und hat gar keine Hand frei, um Mia, die grüßende Katze, gebührend zu streicheln, und das trägt dann doch für beide Parteien einigermaßen unbefriedigende Aspekte in sich.
Aber eine schöne Vorstellung trotzdem, immer wieder, dieser haltvolle Empfang an der Tür, dieser liebevolle Erstkontakt beim Wiedersehen, und ein guter Moment zum Festhalten.


Besonders beim zeitleeren Warten auf den Bus hält sich Maria gern an alten Gedanken fest; an Momenten, die der Zeit entrückt sind, und meist nach hinten hinaus.
Wie all die anderen, die längst Mitglied im digitalen Club sind, zückt auch Maria alsbald ihr Smartphone; aber anstelle bunte Blasen zu zerschießen oder die nähere Öffentlichkeit mit einem digitalen Tagebuch anzufüttern, wischt sich Maria einfach gern durch ihre Fotoalben, und nicht nur aus Eitelkeit. Es ist ein Spiel mit den Augenblicken.
Fast immer, man kann sich fast drauf verlassen, wischt sich Maria zu einem Tag, der eine absolut komplette Gegenthese zum jeweiligen Jetzt ist.
Ist das Jetzt zum Beispiel ein bitterkalter Eistag, der die Lichter der Stadt wie Eiswürfel in einem sehr trüben Glas klirren lässt, betrachtet sie sich sonnengeküsst und goldgetaucht am Badesee im Bikini, und wenn die großen Häuser ihre Gluthitze wie Wüstenwinde durch die verwinkelten Gassen pusten, kramt Maria den Glitzerschnee hervor; sobald die Bäume Blüten schneien, träumt sie sich in buntblätternde Herbsttage hinein, und wenn schon die Nebelfinger nach dem Land greifen, dürstet sie nach pastelligen Blütenfarben.


Man kann sagen, Maria ist fast süchtig nach ihren Foto-Ordern, jedoch ist sie mehr als ein selbstverliebter Pixel-Junkie.
Es geht ihr um noch was anderes als um die bloße, staunende Selbstbetrachtung.
Denn vor allem würde Maria bei der Betrachtung ihrer höchsteigenen Vergangenheit am liebsten wieder rückwärts in diesen oder jenen Tag hineinspringen, hinein in die freundliche Bilderwelt.
Mit Anlauf und mit Salto, und ganz und gar.
Und die Tage noch einmal leben, selbstbewusst und frei von allen Zweifeln. Und nicht nur deswegen, weil man immer nur das begehrt, was nicht zu haben ist.
Erst im zweiten Durchlauf weiß man ja, was und wer einen erwartet, und dann könnte man entkrampft jede Situation erneut durchleben, wie ein Schauspieler beim zweiten, zwanzigsten Take. So lange, bis alles perfekt im Kasten ist.
Auf Re-Play drücken und locker schlagfertig sein und auf alles gefasst.
Die Vorstellung, ihre Tage in einer Endlosschleife zu leben, ist ihr keine Drohung. Sofern es die richtigen Tage sind, natürlich.


Das mit dem Rückwärtsspringen geht natürlich nicht, aber wenigstens steht die fotogebannte Erinnerung für einen Moment, den Maria bereits leidlich erfolgreich gelebt hat, für eine relativ glücklich gelebte Vergangenheit - während über der anderen Richtung haufenweise unheilvolle Fragezeichen schweben.
Zumindest noch keine Katastrophe, kein Unfall und kein böses Schicksal ist ihr passiert an den bildgewordenen Tagen, bisher.
Das ist zwar ein Glück einerseits, jedoch eines, welches ein künftiges Unglück befürchten lässt, denn das Unglück hat noch einen jeden gefunden, und warum sollte es bei Maria anders sein.
Aber Gott sei gelobt: Ist nichts Schlimmes passiert auf den Bergen im vergangenen Sommer; eine schöne Wanderung war es und schönes Wetter auch.
So reduziert sich der entsprechende Tag auf das Positive, auf das Glück und auf das Bild einer Maria, wie sie in Jeansshorts und roségestreifter Bluse vom Gipfelkreuz lächelt, als wäre sie die Königin einer ganzen Welt.


Demgegenüber, wenn Maria in die ganz wirklichen Tage hineingeht, in ihre unmittelbare Zukunft - so vorfreudig sie das auch streckenweise tun mag - so ist sie doch nie zuversichtlich genug, sich komplett in die Gegenwart hineinfallen zu lassen.
Immer nur im Nachhinein weiß man es doch mit Sicherheit, dass das Unglück ausgeblieben ist; immer erst aus der zeitlichen Distanz heraus ist der Tag eine bejahende Gewissheit.
Dann allerdings kann man sich gut daran festhalten; an diesen Tagen, diesen Sommern und Momenten und Jahreszeiten, und sich daran durchs Leben hangeln.
Bei der Vorschau auf den nächsten Sommer, der erst noch ins Haus steht, und noch lange nicht, gibt es hingegen kaum was Gewisses, nur äußerst vage Ideen und Hoffnungen, die sich erst noch beweisen müssen.


Wie für alle Menschen ist auch für Maria die Hoffnung schon auch eine Lebensnotwendigkeit, die allem Sterben erfolgreich den Weg verstellt.
Symbolhaft für eine solche Hoffnung steht etwa auch das moosgrüne Flatterkleid, das sich Maria eben erst gekauft hat für eine ferne Zeit. Es steht ihr gut, gut zu Gesicht, gut zu den dunklen, kräftigen Haaren.
Auch an solchen Ideen, den stoffgewordenen, hält sie sich mit Begeisterung fest, und an Vorstellungen von sich selbst und gebräunten Oberarmen in luftigen, sommerfärbigen Textilverpackungen; an der Idee von bewusst gelebter Natur, die noch soweit intakt ist, dass sie Steine und Waldböden grün überzieht, damit nackte Füße einen Teppich haben.
Und eben an der Hoffnung.
Ohne Hoffnung wäre das Leben ja doch nur ein zufällig angehäuftes Glück, das dem Elend noch grad so entkommen ist.


So oder so ähnlich jedenfalls lebt Maria ihre Tage vorwärts mit leidlich besorgter Hoffnungsfreude, und erst im Rückblick stellt sich sowas wie Zuversicht ein, oder Zufriedenheit.
Als der Bus endlich kommt, packt Maria das Handy weg und fragt sich, ob mit ihr vielleicht was nicht stimmt, weil sie immer so verrücktes Zeug denkt.


Im Bus hält sie sich zuerst an einer Haltestange fest und dann wieder an einer Sentimentalität.
Vor allem in der Erinnerung fühlt man viel und denkt man wenig.
Und Maria fühlt zurück, mal seicht, mal tief; und zuweilen in Zeiten, die vorbei sind und bestimmt nicht wiederkommen.
Etwa, als die Katze in ihr Haus kam - wie vorfreudig hatte sie sich auf diesen Tag hin organisiert!
Äußerst liebevoll hat sie das Zubehör, das Katzenklo, die Futternäpfe, und Futter und Streu, und Spielzeug und Kratzbäume ausgesucht; ganz so, wie werdende Katzenmütter das eben so tun, ehe sie ihr Baby vom nächstgelegenen Bauernhof abholen.
Knöchern und klein war Mia gewesen, noch ehe sie einen Namen hatte und ein Individuum wurde; und war Maria spontan auf den Schoß gehüpft, während ihre zahlreichen Katzengeschwister wie zum Spaß in der Stube umhersprangen.
Mia indes hatte sich auf dem warmen Schoß eingerollt als wäre das ihr höchsteigenes Schicksal, welches sie gerne annimmt, und wollte gar nicht mehr weg.
So war die Sache bald entschieden und Mia hatte sich Maria mehr ausgesucht als es andersrum gewesen wäre.
Schon damals war Mia ein kluges Tier gewesen und wusste es besser als der Mensch.


Vorsichtig haben sie sich dann miteinander eingelebt, das Tier und die Frau.
Es war ein neues Leben für beide, aber von Anfang an war es Liebe und Vertrauen und Freundschaft und bald gehörten sie einander.
Bereits in der ersten gemeinsamen Nacht kam die Katze auf Marias Bett gesprungen, welches für das Fellknäuel ein unermesslich hohes Hindernis gewesen sein musste, in jeder Hinsicht.
Es legte sich dennoch und der Fremde zum Trotz auf die Brust seiner neuen Mutter, wickelte sich wie ein pulsierender Schal um Marias Hals.
Und so schliefen sie, Atem an Atem und Herzschlag an Herzschlag, und es hat sich bis heute nicht viel dran geändert, nur dass die ausgewachsene Mia nicht mehr ganz in Marias Halskuhle passt und mit einer Position auf Marias Brust vorliebnimmt, wenn sie nicht in kalten Nächten unter die Decke schlüpfen mag.
Ein Fell wie Seide, Samt und warme Watte, was gibt es Schöneres zum Anhalten in der Dunkelheit.
Das ist zur Abwechslung mal ganz und gar nicht verrückt, zumindest auch nicht verrückter als jede andere Liebe auch.


Als während der Fahrt unerwartet ein Sitzplatz frei wird, nimmt ihn Maria gern für sich an.
Sie ist ja nicht verrückt und steht sich freiwillig die Beine in den Bauch.
So verrückt ist Maria dann aber doch, dass sie sogleich ausgiebig darüber nachdenkt, was das mit dem Platz-Nehmen eigentlich bedeutet, was es damit grundsätzlich auf sich hat.
Über sowas hat sie nämlich schon des Öfteren gegrübelt.
Wie sich die Umgebung verändert, wenn man sich einen Platz genommen hat, ist aber auch eine höchst interessante Angelegenheit.
Im Bus vielleicht weniger, aber besonders auf großen, freien Plätzen fällt es auf.
Kommt man beispielsweise an einen Strand oder eine Wiese, wo schon haufenweise Leute am Boden hocken, sitzen und liegen, ändert sich mit dem Platznehmen alles.
Eben noch als Außen-Stehender beglotzt, wird man im Moment des Platznehmens einer von den anderen, und verwächst irgendwie mit dem Erdflecken, auf dem man sich niederlässt. Und die Perspektive ist urplötzlich eine völlig neue.
Als würde einem der Platz tatsächlich gehören, den man sich eben einfach genommen hat.
So denkt jedenfalls Maria, und zweifelt sofort wieder daran, dass auch wirklich alles stimmt mit ihr, denn von so verrückter Denkerei hat sie außerhalb ihres Kopfes ja noch nie gehört.
Und dennoch:
„Nehmen Sie Platz“ - das sagt man nur so leicht, und oft auch.


Unwillkürlich lächeln muss Maria hingegen beim nächsten Gedanken an das gute neue Futter, das sie gerade eben für die Katze eingekauft hat.
Zur Abwechslung träumt sie sich vorwärts, in jenem vorsichtigen Optimismus, der ihr eigen ist.
Mia wird es gleich erschnuppern, was da im Einkaufskorb für sie mitgebracht wurde, und dankbar fröhlich in die Küche hoppeln, wo die Einkäufe verstaut gehören, Maria sieht es quasi vor sich.
In der Tat assoziiert Maria ihr Haustier mit einer ganzen Reihe von Gattungen und Arten.
Manchmal mit einem Hasen, wenn sie das fallweise Hoppeln und die kräftigen Hinterläufe bedenkt, oder an ein Reh - nicht unbedingt wegen der Scheu, eher wegen der Fellfarbe und dem sanften Unschuldsblick; an einen Hund, wenn das Tier auf Zuruf angedackelt kommt, oder auch an ein Täubchen, wenn die Katze gurrende Sprechversuche unternimmt, um Frauchen ein Leckerli abzuschwatzen.
Räucherlachs hat Maria auch eingekauft, man wird sehen.
Mia ist eine gesunde Esserin und überhaupt so verspielt und fit wie eine Katze nur sein kann.
Nur ein einziges Mal, bald nachdem sie in Marias Haus gekommen war, war Mia für eine kurze Weile krank gewesen.
Maria und der Tierarzt hatten sie denn aber gut davongebracht, die fiebrige kleine Kreatur.
Bloß einen Wimpernschlag lang schien es kritisch, da hat Maria in einem schwachen, unbeobachteten Moment so verzweifelt in das kleine Fell geweint, wie es nur Mütter tun können, denen das Kind unter den Händen drastisch kränkelt.
Das allerdings hat die zwei schon auch verbunden miteinander, die Katze und die Frau: das vorsichtige Pflegen am Anfang und die Besorgnis und das drohende Trauerspiel.


Das Aussteigen allerdings hat Maria noch nie übersehen, so weit lässt sie sich dann doch nicht in ihre Gedanken und in die verschiedentlichen Zeiten hineinsinken.
Also, so weit stimmt noch alles mit ihr.
Wie der Bus grad so in die Haltestelle einfährt, ist der Himmel schon schwarznächtig, die Tagwärme hat sich längst verzogen, und alles strömt sehnsuchtsvoll in eine Unterkunft, die im besten Fall eine eigene ist.
Maria ist da keine Ausnahme und will, was alle wollen: Heim.
Nur aus Solidarität, welche aus ihrer frenetischen Katzenmutterschaft erwächst, tritt sie zuvor noch an die Wand des Wartehäuschens heran, wo täglich neue verschwundene Katzenkinder ausgeschrieben werden, und Hunde und Vögel auch manchmal.
Maria ist jedes Mal aufs Neue froh, dass ihre Mia keiner dieser Freigänger ist, deren gefährliches Leben - und das Sterben auch, machen wir uns mal nichts vor - hier überdeutlich dokumentiert wird.
Für Maria ist die Wand der Entlaufenen und Vermissten einerseits eine Art hämisches Mahnmal, auf der anderen Seite gelobt sie in jedem tragischen Fall nicht nur Mitgefühl, sondern auch das Versprechen, Ausschau zu halten nach den jeweiligen Haustieren, um das Drama im Idealfall höchstpersönlich und heldenhaft einem glücklichen Ende zuzuführen.
Das Neonlicht leuchtet ihr das Gesicht für den Moment recht bläulich aus und in der schmierigen Glasscheibe spiegelt sich etwas wenig Vorteilhaftes, was Maria am liebsten gar nicht ihrem Ich zuschreiben möchte.
Immerhin war der Tag schon lang, eigentlich schon vorbei, man ist müde und unkonzentriert - aber wem sagt man das und bei wem beklagt man sich über das neue Normal.
Mit Gewalt und Nachdruck muss Maria ihre Aufmerksamkeit von sich selbst weg, auf die üblichen Ausdrucke richten, wie sie die Leute in ihre Tastaturen eingehämmert und mit Schnappschüssen ihres Abkömmlings überschriftet haben.
Gibt viele alte Bekannte.
„Wer hat Coco gesehen?“ hängt da sicher schon ein halbes Jahr, und Maria fragt sich, ob der Besitzer inzwischen schon unglücklich aufgegeben hat oder ob Coco längst wieder zu Hause herumscharwenzelt und womöglich nur aus Faulheit oder taumelnder Erleichterung darauf vergessen wurde, die Plakate wieder abzunehmen.
Auch Felix, ein dicker orangefarbener Garfield-Kater, ist Maria kein Unbekannter, und frisst wahrscheinlich schon wieder wie gewohnt Lasagne, während das Orange auf seinem Steckbrief ausbleicht.
Eigentlich ist es eine Frechheit, wenn die gelösten Fälle den anderen den Platz wegnehmen, denkt sie sich bitter, aber kaum je wird ja genommener Platz wieder zurückgegeben, so ist das oft in dieser Welt.


Also, nicht viel Neues an der Wand der Vermissten.
Eigentlich kaum was, obwohl, Moment noch…
…Ach ja, dort im Eck!
Fast schon hätte Maria drüber hinweggeschaut.
(Hätte sie es nur mal getan!)
Das lieblos an die Wand geklatschte Papier wäre ganz leicht zu ignorieren gewesen; der neueste Such-Appell hängt immerhin ganz unten.
Maria muss sich ordentlich runterbeugen, um was zu erkennen, und als sie es tut, alarmiert sie schon das zugehörige Foto einigermaßen.
Dieses schmale, rosa Näschen und der weißfellige Unterkiefer, der sich erfahrungsgemäß gerne kraulen lässt; dieser Stich ins Apricot, biskottenfarben, wie Maria gern sagt … ein Gesicht zum Anbeißen…
Das ist doch IHRE Mia, wie sie leibt und lebt!
Die Tigerung, Fellfarbe und -zeichnung, sie kennt doch jeden Streifen auswendig – und, kein Zweifel: das ist ihre Katze Mia, die dem Betrachter aus diesem Wartehäuschen entgegenlächelt!
„Lächelt“, ja genau, denn: Mias Mundwinkel sehen doch immer ein wenig nach Lächeln aus, leicht nach oben gezogen, wie sie von Natur aus sind.
Ja, so freundlich schaut sie drein, genau SO, ihre Mia.
Marias Herzschlag hat sich längst beschleunigt.
Sie versucht sich zunächst dahingehend zu beruhigen, dass ihre Katze wohl einen optischen Zwilling haben muss, und dass das für Katzen ja so ungewöhnlich auch wieder nicht sei.
Dann aber stolpert ihr Blick über die dem Bild angefügten Worte, es sind gar nicht viele.


Zwar sind es nicht viele, aber verstörend wohl.
Erwartungsgemäß schreibt man, was alle schreiben: Entlaufen seit…, eine kurze Charakteristik des verlorenen Tiers, hört auf den Namen …
Der Aushang muss ganz frisch sein, er ist auf den vorgestrigen Tag datiert.
Es könnte so banal sein, und doch…
Gänzlich alles an diesem Papierfetzen bringt Maria ins Wanken.
Nicht nur das Alter der Katze, die Beschreibung… es stimmt einfach ALLES bis ins Detail; als hätte jemand Marias Katze in den Kopierer geworfen und im Bushäuschen aufgehangen, um sie zu erschrecken.
Ein dummer Gedanke, sie weiß, aber alles andere ist instinktiv noch viel dümmer.


Spätestens beim aufgedruckten Namen werden Marias Knie weich, und auch die Adresse, an der diese Mia-Katze wohnen soll, ist die ihre.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand aus ebenjenem Mehrparteienhaus eine idente Katze vermisst, die ebenfalls Mia heißt?
Auch bei vier Parteien pro Etage und zwölf Stockwerken ist diese Wahrscheinlichkeit verschwindend gering, das muss Maria gar nicht lang gedanklich überschlagen.
Ist das ein Rätsel, ein Scherz, oder steckt mehr dahinter – und was?
Und, was für eine Scheiße!
Für den Fall, dass das ein Rätsel ist, fehlt ganz dreist das letzte, entscheidende Puzzleteilchen: die Telefonnummer.
Ein übler Witz, oder nicht, das alles, wie in einem sehr schlechten Film; so einer, der mit seinem offenen Ende die kreative Ausarbeitung eines Finales der Phantasie des Zuschauers überbürdet.
Die Auflösung, also jene Nummer, die sich wohl eindeutig einer Person zuordnen ließe, hat man zwar ganz unten zum Abreißen aufgedruckt, ganz wie das bei derartigen Aushängen so üblich ist.
Aber, wie der Teufel will, sind hier alle eingeschnittenen Zettelteile abgerissen.
Das ist allein deshalb so unglaublich, weil niemals, wirklich noch NIE, alle Nummernzettel komplett weggegangen sind; nicht bei den entlaufenen Tieren - höchstens bei einer günstigen Wohnung oder einem schnittigen Auto.
Nun bleibt die ungute Frage: Ist es IHRE Telefonnummer, die da stehen sollte?
Sollte es wirklich so sein?


Atmen, Maria, atmen.
Und denken.
Warum, ist zu fragen, also warum hängt da dieser Steckbrief und steckt Maria so aus dem Nichts heraus in ein zermürbendes Elend?
Noch einmal betrachtet sie das Foto der vermissten Mia.
Glaubt gar, ihre graue höchsteigene Couch im Hintergrund zu erkennen, und lässt sich kaum noch von der Bestimmtheit trösten, dass graue Couchen aktuell in vielen Wohnzimmern stehen mögen.
Die graue Couch ist gewiss quasi Standard, schablonenhafter Typus eines modernen Wohnzimmers und sichtbarer Trend in jedem Möbelhaus, aber drauf geschissen, das hilft ihr nun auch nicht mehr.
Und da, ist das nicht ein Stück von IHREM Teppich, von dem ihre Mia gern kleine Woll-Kügelchen abschabt, und sind das nicht Mias Punkte, dreizehn, auf ihrem Bauch?
Wie erstarrt hockt Maria vor der Wand des Bushäuschens und starrt in ein kalkweißes Spiegelbild, das ihr auf einmal seltsam egal ist.


Nicht sofort kann sie sich aufraffen, es ist alles zu schwer auf ihr drauf, und nichts zum Festhalten weit und breit.
Marias Füße wollen lostrippeln, sprinten, fliegen, hin zur erlösenden Gewissheit; ihre Finger wollen zitternd nach den Schlüsseln kramen und voll gutgläubiger Hoffnung die Wohnungstür aufsperren, aber ihr Kopf will noch unten bleiben.
Er weiß, die Perspektiven sind zu ungewiss und die Möglichkeiten zu grauenhaft.


Ist kein sonderlich langer Weg von der Bushaltestelle zu Maria nach Hause, eigentlich.
Vielleicht zwei, drei Minuten; aber Minuten - das sind doch bloß Zahlen, willkürlich Striche auf blaukariertem Papier mit rotem Korrekturrand, und immer zu korrigieren.
Zahlen und Logik sind Maria längst abhandengekommen, sie denkt höchstens noch in gefühlten Halbsätzen.
Und denkt oszillierend.
Was bedeutet es nun, wenn zu Hause keine Katze auf sie wartet?
Keine Mia?
Kann es sein, nein, dann MUSS es ein, dass tatsächlich ernsthaft was nicht mit ihr stimmt.
ERNSTHAFT; nicht nur so großmütig-scherzend, wie man das herausfordernd behauptet, indem man seine kleinen Spleens und Ticks freimütig vor der Welt breittritt, sondern fatal und folgenschwer.
Viel weiter muss es schon mit ihr gekommen sein, da sie es nun für möglich hält, dass…
Ja, was eigentlich?
Dass sie das Entlaufen ihrer eigenen Katze vergessen hat? Verdrängt?
Ist es denn die Möglichkeit?
Dass sie selbst es war, die dieses Plakat gedruckt hat, und vorgestern erst?
Und vergessen hat? Alles vergessen? Verdrängt?
Stimmt denn überhaupt noch irgendwas?
Und wie?
Wie wäre die Katze ihr denn überhaupt entkommen?
Der Balkon ist doch rundherum abgesichert mit einem festen Netz, wie sie es für diese Zwecke zu kaufen gibt.
Natürlich hat Maria ein solches Netz besorgt und sorgsam angebracht, sie ist ja eine gute Katzenmutter.
Aber ist sie das wirklich?


Ja, noch schlimmer und schlimmer noch, kann es sein, dass…
Sowas wagt man ja doch gar nicht zu denken, noch nicht mal lautlos.
Aber kann es sein?
Sie denkt es dann doch recht fix.
Auch wenn es nicht sein kann, denkt sie auf einmal, wie aus dem Nichts heraus, dass es letztmöglich niemals nicht eine Mia gegeben hat; dass sie sich selbst als Katzenmutter nur herbeiphantasiert hat, einfach weil ihr die Vorstellung gefällig war wie so vieles anderes?
Dass sie eine Mia aus sich selbst heraus geschnitzt hat, aus ihrem verqueren Kopf heraus?
Alles nur eine Illusion, die sie sich selbst bereitet hat, bis hin zu diesem Plakat?
Wofür das alles?
Das große Wofür steht in der ganzen Dringlichkeit allerdings weit im Abseits; sie fragt das Wofür vorerst nur der Vollständigkeit halber, um die dunkle Ahnung wenigstens in Ansätzen zu überblenden.
Jedoch, der schreckliche Verdacht, sie könnte sich die Katze überhaupt nur eingebildet haben, hat sie längst eiskalt von hinten ergriffen.
Und so abwegig er scheint, der Gedanke will partout nicht mehr weichen.
Und mäandert durch ihr ganzes Ich, das keineswegs noch sicher ist.
Ja, kann sie sich denn überhaupt noch einer Sache sicher sein?
Man hat doch oft schon davon gehört, dass sich kleine Kinder gern irgendwelche imaginären Freunde einbilden, also warum nicht auch eine Katze, und warum nicht auch Maria?
Maria ist zwar kein Kind mehr, aber so richtig erwachsen hat sie sich dann auch nie gefühlt, das würde zumindest einiges erklären.
Das und ihre permanente Andersartigkeit, die sich durch ihr Leben zieht wie ein roter Faden, der ihr immer wieder misslich ins eigene Fleisch schneidet.


Und doch…
Es kann doch nicht sein, dass sie sich über die Jahre nicht nur eine Katze imaginiert hat, sondern auch noch das Drama des Verschwindens gleich mit!
Das will doch keiner ernsthaft glauben!
Auf der anderen Seite wiederum: Was gibt es denn groß an Beweisen, die für eine Katze stehen, welche Maria nur für sich in einer einsamen Wohnung hält?
Soll sie etwa ihren Tierarzt fragen?
Lieber nicht, dämmert es Maria sogleich; Ärzte fragen zu viel und verstehen zu wenig.
Und womöglich hat sie sich den Tierarzt auch gleich mit eingebildet.
Maria denkt und denkt, und denkt das Verrückte über das Verrückte hinaus:
Womöglich ist das imaginierte Verschwinden einer imaginären Katze gar ein Zeichen einer kranken Gesundung?
Ja, selbst sowas denkt sie inzwischen; aber sowas fällt es ihr mittlerweile nur noch ein, weil sie schon mehr als verzweifelt gedankliche Anker auswirft.
Außerdem ist der Gedanke schwach, und wäre alles in allem auch kein wirklicher Trost in der momentanen Lage.


Die Fotos!, kommt ihr dann doch noch eine neue, alte Idee.
In der Tat, ihre tausend angesammelten Fotos könnten auch nun doch einen Halt geben und eine Antwort.
Ja, gewiss könnte man die Fotos völlig unverfänglich fragen, denn Fotos fragen niemals zurück.
Rückfragen sind das Letzte, was Maria nun gebrauchen könnte.
Aber sie wagt es dann doch nicht, ihr Handy aus der Tasche zu fischen und nach dem Katzenordner zu suchen; zu groß ist ihre Angst, dass da keiner sein könnte.
Dass da nichts mehr sein könnte; keine Gewissheit, nichts zum Festhalten; NICHTS in ihrem Kopf.
Mit einem Schlag steht plötzlich alles in Frage; das ganze Sein; eine ganze Welt, IHRE Welt.
Wie im Fiebertraum heizt sich ihr gesamter Körper auf; die Finger werden taub und fühlen sich übergroß an und wie tausend flirrende Bienenstiche.
Derart, als glimmender Homunkulus, torkelt Maria ihrem Schicksal entgegen.
Fünf Minuten, zehn; nichts bedeutet nichts mehr und alles auch.
Der Moment will und will nicht vergehen.


Dann, endlich und doch noch, kommt sie an.
Dort, wo sie angeblich zu Hause ist, in eine heftige Fremdartigkeit hinein.
Wie sie da hingekommen ist, weiß sie nicht mehr zu sagen, der Weg hat dann eigentlich kaum was bedeutet.
Nur das Jetzt ist jetzt und überreal und erschreckend wirklich, und ist unvermittelt und ungefragt in sie hineingekrochen, um sie mit giftiger Tinte auszufüllen, bis sie platzt.


Lange, sehr lange steht Maria schon wie angewachsen vor ihrer eigenen Wohnungstür, und es ist auf vielfältige Weise seltsam.
So angestrengt sie auch hinein lauscht, sie hört kein Trippeln samtiger Schritte, kein leises Schaben an der Tür, kein einziger Katzenlaut.
Im Nacken sitzt ihr die Angst, dass überraschend ein Nachbar vorbeikommt und sich wundert und auf blöde Fragen verfällt, weil sie so stocksteif dasteht vor ihrer eigenen Tür ohne reinzugehen, wie eine sehr grob gedrechselte Holzfigur.
Vor ihr das nackte Grauen.
Den Einkaufskorb muss sie irgendwo liegen gelassen haben, vergessen, verloren, und es ist ihr völlig gleich, nicht länger wichtig, nichts ist mehr wichtig.
Allein der Schlüssel klebt ihr gallig in der Hand, als wolle er sich gemeinsam mit dieser verschweißen, zerfließen.
Man könnte ja lachen, darüber, was so ein Schlüssel gemeinhin bedeutet. Nur eine winzige, lächerliche Zufälligkeit. Je nachdem, wie diese scharfen Zacken auf einem billigen Metallstück angeordnet sind, es bestimmt darüber, ob jemand ein Zuhause hat, in das er exklusiv eintreten kann. Nur wenn sich die Zacken den richtigen Gegenstücken verzahnen, weiß man, dass man vor der richtigen Tür steht.

Eine Ewigkeit, was ist das schon, nur ein weiteres Wort von unendlich vielen, eine schleimige Lautsuppe.
Maria hat heute keine Worte mehr, keine Wortgedanken; nur noch Gefühle, aber die von der ganz üblen Sorte.


Aber irgendwann muss ja doch der Schlüssel ins Schloss.
Muss muss muss.
Es ist keine Option, dass Maria von hier weggeht für immer, das geht so nicht.
Nur selten kann man schummeln und tricksen im Leben, und Abkürzungen nehmen, wenn der Weg zu dunkel wird.
Zumindest nicht, wenn’s drauf ankommt, dann grade nicht.
Da muss man dann durch, durch den finsteren Irrgarten, kann nicht abhauen, kann nicht.
Außerdem ist da nirgendwo nichts zum Festhalten, auch nicht da draußen, also wohin willst du gehen?
Du siehst, Maria, irgendwann muss der Schlüssel ins Schloss.
Und zwar, ehe der Schlüssel auch noch davonläuft.
Das könnte ja direkt auch noch passieren heute.
Wohl allein deshalb drückt Maria mit aller Kraft den Schlüssel in ihre Hand hinein, dass sie es faktisch für möglich hält, er hätte sich tatsächlich verflüssigt oder verformt.
Hat er aber nicht.
Auch die Hand ist noch einigermaßen intakt.
Vom Rest ist zu schweigen, vorerst.


Allerdings, die Tür steht irgendwann weit, weit offen.
Offen wie der düstere Einlass in einen langgestreckten Sarkophag, in dem sich ein kleiner Verstand von selbst beerdigt hat, vielleicht schon vor sehr langer Zeit.
Eine Erlösung ist das nicht.
Der Flur, dieser Flur ist vielmehr schrecklich dunkel und leer.
Schrecklich, beides, aber war ja klar.
Maria tastet blind und ungeschickt nach dem Lichtschalter, als hätte sie ebenfalls vergessen, wo der ist.
Da ist er ja.
Der Moment dauert an, und immer noch.


Soso, nun denn, Maria.
Man wird sehen, ob nun tatsächlich was nicht ganz stimmt mit dir, man wird sehen.
 



 
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