Michael und Michaela

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Schon in der Kleinkinderschule finden sich alle Elemente beisammen, die der reifere Mensch in potenzierterem Maße später in der Welt antrifft. Die Brutalität, die Hinterlist, die gemeine Klugheit, die Heuchelei, alles ist vertreten, und ein reines Gemüt steht immer so da, wie Adam und Eva auf dem Bilde unter den wilden Tieren. ...Der Auswurf hat immer insoweit Instinkt, daß er weiß, wen sein Stachel am ersten und am schärfsten trifft, und so war denn ich den boshaften Anzapfungen eine Zeit lang am meisten ausgesetzt. Christian Friedrich Hebbel 1813-1863 „Aus meiner Jugend“

Immer die Talkshows mit den glatten Typen und ihrer geheuchelten Betroffenheit. Wenn sie dann noch zufällig Schauspieler sind und auf Kommando losheulen können, dann schüttelt es mich immer. „Horrible“, würde der Spanier dazu sagen.

Sie reden Blasen. Und das Schlimme daran ist, sie wissen es auch. Wahrscheinlich müssen sie sich nach so einer verlogenen Talkshow erst mal besaufen, um ihr inneres Ying Yang wieder herzustellen. Am Tresen erzählen sie dann Unbekannten, wie sehr sie das ankotzt. Wenn sie dann morgens mit schwerem Kopf aufwachen, checken sie erst mal die mails nach einer neuen Talkshoweinladung.

In Wirklichkeit ist es ihnen scheißegal und sie haben kein Interesse daran, was der Typ da gerade erzählt, sondern haben Angst um ihren Job, wenn sie nicht glaubwürdig genug rüberbringen, dass seine Story sie interessiert. Mit Schrecken erinnern sie sich daran, wie froh sie waren, dass sie in ihrer Schulzeit nicht zu denen gehörten, die in der Klasse eine marginalisierte Stellung hatten und nicht dazugehörten, und wie sie manches Mal weggesehen haben, wenn sie eigentlich hätten Partei ergreifen müssen.

Denn oft dreht es sich ja in diesen Gesprächsrunden um Mobbing. Das ist modern geworden. Als ich Schülerin war, ein Tabuthema. Heute ja scheinbar nicht mehr.
In Wirklichkeit ist das aber bloß Gerede und Getue, und geändert hat sich gar nichts. Auch heute ist es nicht angeraten, zum Lehrer bzw. Schulsozialarbeiter zu gehen, und Rat zu suchen. Irgendwelche Aussprachen, vielleicht noch vor der Klasse, machen alles nur noch schlimmer.
So einfach, nur durch ein Gespräch, lassen die Anderen das Opfer nicht aus ihren Fängen. Es ist ja auch zu schön, jemanden zu haben, an dem man sein Mütchen kühlen kann.

Ist das notwendig? Noch mehr Gruseliges über Mobbing an der Schule. Vielleicht hilft das irgend jemand, der das liest und erfährt, dass er nicht der Einzige ist. Der nächste Schul-Amokläufer steht ja schon in den Startlöchern, und nachher hat mal wieder keiner was geahnt.


Meine Vorfreude auf die Schule nach den zwei Monaten Sommerferien, wich jedes mal schon am ersten Tag der Ernüchterung. Denn immer, wenn ich mit einer Tasche voll angenehm nach frischer Druckerschwärze duftender Hefte und Bücher dort eintraf, setzten sofort die Drangsalierungen wieder ein.

„Sie ist ein bisschen feiner als die Anderen“, sagte mein Klassenlehrer mal zu meiner Mutter, wobei er keinen Zweifel daran ließ, dass er der Meinung war, dass mir das im Leben noch mächtig schaden könnte. Da hatte meine Mutter also den Scheiß, dass ihre Tochter feiner war als die Andern. Gerade sie, deren Hauptsorge darin bestand, nicht aufzufallen. „Warum ausgerechnet ich?“, wird sie sich gefragt haben und sich mal wieder vom Leben bestraft gefühlt haben, wie schon oft. Früher habe ich immer geglaubt, ich wäre adoptiert worden, oder zu mindestens als Baby vertauscht worden. Das dachte Bukowski auch über sich.

Vielleicht muss man ihr mildernde Umstände zugestehen, da sie als Frau ohne Mann in besonderem Maße der Beobachtung durch die Dorfbewohner in meinem Heimatort in Mecklenburg-Vorpommern ausgesetzt war. Und als Lehrerin sowieso. Da versuchte sie alles zu vermeiden, was eine Angriffsfläche bieten könnte. Ich habe einen ausgesprochenen Widerwillen gegen dörfliches Leben entwickelt.


Das, was er als „Feiner sein“ bezeichnet, ist ihm wohl das erste Mal aufgefallen, als unsere Klasse auf dem Rückweg von einem Ausflug war.
Wir kamen gerade aus Ravensbrück. Ich war noch ganz niedergedrückt von dem, was ich gesehen hatte. Die Messlatte, in der in Genickhöhe eine Öffnung für eine Gewehrmündung war. Das Glas, in dem ein Herz mit einem Durchschuss in Formalin schwamm. Ich schien die Einzige von uns zu sein, die das beeindruckt hatte, denn die Anderen lachten sich die ganze Busfahrt über halbtot.
Im Eingangsbereich waren die Wände voller Fotos. Mir gefiel eine dunkelhaarige Frau. Eine Schauspielerin. Ich dachte: "So schön wie sie, will ich auch mal werden."

Der Bus fuhr an einem idyllischen See vorbei. Der Bus hielt an, und wir stiegen aus. Es gab dort einen Bootsverleih.
Alle kletterten in die Ruderboote. Was sich gut anließ, endete schlecht.
Denn, als wir auf dem See waren, zwangen die Anderen mich auszusteigen und mit einem anderen Boot mitzufahren.
Soweit, mich einfach über Bord zu schubsen, sind sie dann doch nicht gegangen. Dort, im neuen Boot, dasselbe Spiel, bis ich merkte, dass das keinen Zweck hat. Als ich zum dritten Mal halsbrecherisch von einem Boot ins andere geklettert war, sagte ich: „Setzt mich ab“, und sie ruderten mich ans Ufer.

Unser Lehrer hatte die Klasse gerade neu übernommen, und kannte sich noch nicht aus mit den Hierachien. Ich stand allein mit ihm auf dem Bootssteg und tat so, als wenn ich das so wollte.
Ich spürte, dass er mir nicht glaubte und Mitleid mit mir hatte. Das war mir peinlich. Damals, mit zwölf, ein prägendes Kindheitserlebnis.

Mal ehrlich. Um zu schreiben, muss man ganz schön irre sein. Ich berichte ja fortwährend davon, dass ich nie so die Beliebteste war. Mit solchen ehrlichen Statements sollte man lieber hinter den Berg halten. Leute, die es gut meinen, raten einem ab davon. Gar nicht mal so zu Unrecht.

Ich hab mal meinem Freund erzählt, dass ich beim Abzählen im Sportunterricht immer als Letzte gewählt wurde. Das muss ihn so schockiert haben, dass er mich verließ. Natürlich nicht am nächsten Tag. Es war wohl aber ein Grund mit. Ich dachte, in der Liebe muss man mit offenen Karten spielen. „Jeder hat den Ehrgeiz, so geliebt zu werden, wie er wirklich ist“, habe ich mal irgendwo gelesen.

Bei ihm hätte ich eigentlich mit mehr Verständnis gerechnet. Er selber hat es nämlich richtig schwer gehabt. Das volle Programm. Prügelnder Stiefvater, Jugendarreste und Werkhöfe und später Knast.
Trotzdem distanzierte auch er sich, der als guter Sportler galt und in jeder Mannschaft willkommen war, von den Ärmsten, die in der Rangordnung ganz unten standen. Schon komisch. Von ihm hätte ich also nichts zu hoffen brauchen, wenn ich noch mutterseelenalleine in der Reihe stand, und mir wünschte, dass der Parkettfußboden der Turnhalle sich auftat und mich verschlang.

Eigentlich ist Sport ja eine gute Sache. Aber ausgerechnet diesem Fach haben viele ihre gruseligsten Schulerlebnisse zu verdanken. Wahrscheinlich ist dieser frühe Horror auch die Ursache für spätere Verfettung, da sportliche Betätigung auf ewig mit Erinnerungen an Demütigungen verbunden bleibt.

War da nicht ein klumpfüßiges Kind, namens Josef, das, besonders im Sport, von den Anderen gehänselt wurde? Wir wissen alle, wie es sich zu rächen wusste, als es Propagandaminister wurde. Der Sportlehrer, der ihm nicht beigestanden hat, hat nichts weniger als den Weltuntergang heraufbeschworen.

Ich habe meine Mutter, die Lehrerin war, mal gefragt, was sie gemacht hat, wenn sie merkte, dass Kinder ausgegrenzt wurden. „Hab das schon mitbekommen, mich aber nie darum gekümmert“, war ihre Antwort.
Das haben die Lehrer in den Schulen, an denen es Amokläufe gab, genauso gehandhabt. Mit den bekannten Konsequenzen. Sie lösten ein Problem, indem sie es ignorierten. Das ist nicht nur in Littleton gründlich schief gegangen. Angeblich kamen die Attentäter von Littleton ja aus funktionierenden
Familien. Glaube ich nicht. Bestimmt wurde nur nach außen hin der Schein gewahrt.

Die Schulklasse als ein Miniaturabbild der Gesellschaft. Und ein bisschen hart formuliert, aber was Wahres ist da dran: vielleicht auch eine Art Keimzelle des Faschismus, denn dort lernen die Kinder, dass es angeraten ist, sich der Meute anzupassen und auf die Stimme des Gewissens, die ihnen was anderes sagt, nicht zu hören.

Die Gemobbten waren später die Juden, denen kaum einer geholfen hat, und deren Nachbarn weggeschaut haben, als sie aus ihren Wohnungen geholt wurden. Das angenehme Gefühl, auf seiten der Mehrheit zu stehen, hat denen, die das Glück hatten, als sogenannte Arier zu gelten, aber nicht weitergeholfen, als sie in Stalingrad im Schützengraben lagen oder Bomben auf ihr Haus fielen.
Hätten sie sich lieber vorher ein paar Gedanken gemacht und auf ihre Zweifel gehört. Für ihr Wegsehen haben die Deutschen teuer bezahlt.

Und ich muss damit leben, dass mich hundertjährige KZ-Überlebende ständig verwurfsvoll vom Bildschirm ankucken, als wollten sie sagen: „Du bist ja auch Schuld“. Meine Mutter war bei Kriegsende aber erst zwölf. Vielleicht haben sie doch irgendwie Recht.

Hätten wir es damals anders gemacht? Ich hab manchmal das Gefühl, eher nicht.


Bei uns in der Schule haben die Lehrer weggeschaut und die heimlichen Strippenzieher dadurch noch bestärkt, die so ungehindert damit fortfahren konnten, die Anderen anzustacheln, Mitschüler zu drangsalieren.
Viele von ihnen haben die bestehenden Hierarchien unter den Schülern akzeptiert und sich mit den Starken verbündet, um so ihre eigene Position zu sichern. Es schien meist eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen ihnen und den Anführern in der Klasse zu herrschen.

Wenn sie sich daran hielten, wurden sie in Ruhe gelassen. Sonst wären Lehrer, bei denen die Drangsalierer, die demagogische Talente hatten, hellsichtig Schwächen witterten, von ihnen angegriffen worden.
Auch schlug ihr Herz für die Beliebten und nicht für ein tappsiges Außenseiterchen wie mich.
Ich spürte, dass ich von ihnen nichts zu hoffen hatte. Bei einem Lehrer Rat zu suchen, wäre keine Option gewesen. Gemobbte Kinder kommen allein aus dem Teufelskreis nicht raus, egal wie sie sich verhalten. Ob sie sich wehren, oder versuchen alles auszusitzen, es kommt auf das Selbe raus. Das prägt fürs Leben und leider nicht positiv.

In Amerika werden ja oft Schulen von Erwachsenen gestürmt, die wild um sich herum ballern. Da gab es Ausgrenzungserlebnisse, die sie nie vergessen konnten. Trotz der Jahre.
Besonders Stephen King hat ja die High-School-Zeit in rabenschwarzen Farben gemalt. King, dessen Mutter einer Sekte angehörte, und als verdreht galt, hatte es weder in der Schule noch zu Hause besonders leicht. Ausgerechnet davon hat er sein ganzes Schriftstellerleben profitiert. Er hat die stärksten Momente in seinen Werken, wenn er über seine Highschoolzeit schreibt.
Den ersten Teil von Stephen Kings „Carrie“ finde ich genial, den zweiten Teil, wo alles ins Fantastische abgleitet, nicht mehr so gut. In der Hauptfigur erkenne ich mich wieder.

Genauso wie Carrie war ich auf dem besten Wege, ein richtiger kleiner Menschenfeind zu werden.

Ich kann jetzt ganz locker sagen: „Nein, sie konnten mich nicht leiden. Und ob das heute anders ist, ist mir egal. Dazu stehe ich.“
Es ist mir aber schon klar, dass sowas Schüler, die jeden Tag zur Schule müssen, nicht so einfach von sich behaupten können. Es gilt eher, das vor der Außenwelt zu verbergen. Für die ist so eine Eingeständnis ein unvorstellbarer Luxus, den sich unter anderem Bukowski in seinen Büchern leistete.
Er lebte davon, ein Außenseiter zu sein. Mir gab Kraft, als ich in einem Roman von ihm las, dass er auch immer als der Letzter der Klasse übrigblieb beim Abzählen im Sport.

Es könnte ja der Eindruck entstehen, als würden aus Mobbingopfern entweder Amokläufer oder Bukowskis. Oder Stephen Kings.

Ein paar Berliner Kidies kommen auf der Greifswalder Straße auf mich zugelaufen. In der Nähe ist eine Schule. Mir wird Angst und Bange. Warum? Die lachenden Kinder erinnern mich an meine Schulzeit.
Dort ertönten immer schon von weitem Sprechchöre, die Beleidigungen riefen, wenn sie meiner ansichtig wurden und ich nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte. Ich kannte sie zwar gar nicht. Sie kannten aber mich.

Sofort am ersten Tag, wenn die neuen Schüler kamen, die vorher in der Unterstufe kleine Schulen auf ihrem Dorf besuchten und ab der vierten Klasse mit dem Schulbus zu der großen Schule in meinem Heimatdorf fahren mussten, wurden sie von Kindern, die dort schon länger waren und sich auskannten, auf die Lehrerkinder aufmerksam gemacht. „Das ist die Tochter von ...“, hörte ich oft, während sie mit dem Finger auf mich zeigten. Wenn ich das mitbekam, bekam ich es mit der Angst zu tun.

Die meisten Lehrerkinder hatten mit Hohn und Spott zu kämpfen und wurden hasserfüllt beschimpft. Besonders in den letzten Schuljahren.

Da war sie wieder die alte Angst. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als sie an mir vorbei waren und Richtung S-Bahnhof Greifswalder Straße liefen. Ist ja klar.
Was soll Vierzehnjährige auch an einer Frau interessieren, die ihre Mutter sein könnte. Ich denke bei mir: „Ist das geil, dass ich weit weg in Berlin bin und nicht mehr in unserem Dorf. Ein Glücksgefühl durchströmt mich. So viel zum Thema Heimatliebe.

Mal ein anderes Thema. Ich weiß, dass ich aus einer konservativen Gegend stamme, aber das jeder Zweite in meinem Heimatort die Blauen gewählt hat, hätte ich ihnen nun doch nicht zugetraut.
Natürlich ist mir klar, dass an diesem Dorf, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, viele abgöttisch hängen. Als nach der Wende die LPG dichtgemacht wurde, und ein Haufen Leute ihre Arbeit verlor, zogen sie weg.
Jetzt sitzen sie mit blutigem Herzen in Hamburg, denken an ihre Heimat, und am Wochenende stehen sie stundenlang im Stau auf der Autobahn.

Genauso war das Mädchen, über die ich mal eine Reportage gesehen habe. In der Nähe von ihrem Heimatdorf in Sachsen, nahe der tschechischen Grenze, fand sie keinen Ausbildungsplatz.
Deshalb machte sie eine Lehre in Hamburg. „Wenn ich fertig bin, gehe ich wieder zurück“, sagte sie in die Kamera.
Die Filmleute konnten das nicht verstehen. Ihr Heimatdorf bestand nur aus einer windschiefen Busbude und einer Handvoll Häuser. Ihre Mutter war geschieden, und es lebten noch jüngere Geschwister in der Familie. „Warum bleibst du nicht in der Großstadt?“ „Nein, ich ziehe wieder in mein Dorf“, gab sie zur Antwort.

Sie war so gestrickt, wie die Meisten aus meinem Dorf und liebte ihre Heimat und ihre Familie. Sie passte dort gut rein, fühlte sich geborgen und wollte niemals weg. „Hängen an der Scholle“, nennt sich sowas.
Eigentlich müsste mir das ja auch so gehen! Die Heimatliebe ist mir aber gründlich ausgetrieben worden.

Ich war ein stark selbstmordgefährdeter Teenie. In der Rangordnung der Klasse stand ich ganz unten. Das mit der Rangordnung war bei uns bis zur Zehnten gang und gäbe. Da gab es die Gruppe der beliebten Mädchen, wo ich nicht mit dazugehörte, was ich natürlich liebend gern hätte.
Man konnte auch nicht die Stolze spielen und den Anderen die kalte Schulter zeigen, im Gegenteil, einem blieb nichts anderes übrig, als die Ablehnung zu ignorieren, und während der großen Pause mit ihnen im Kreis zusammenzustehen und versuchen, dort nicht rausgedrängt zu werden. Als Außenstehende wäre man schnell zur Zielscheibe der Anderen auf dem Schulhof geworden.


Eigentlich habe ich während meiner Schulzeit keinerlei aufrechte Gemüter kennengelernt, die natürliches Gerechtigkeitsempfinden besaßen. Eines Tages kam ein neuer Junge in unsere Klasse. Seine Mutter, die aus Rostock war, hatte sich in einen Mann aus unserer Gegend verliebt, seinen Vater verlassen und war mit ihrem Sohn auf unser Dorf gezogen. Er war ein intelligenter Bursche, der introvertiert wirkte. Kein Wunder, war er doch Scheidungskind und aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen worden.

Ich hegte die Hoffnung, einen Verbündeten gefunden zu haben. Das sollte sich als Irrtum erweisen. Schon nach kurzer Zeit hatte er die Farben der Umgebung angenommen wie ein Chamäleon und ist so wie die Anderen geworden. Er war aber auch nicht der Allerunangenehmste.
Immerhin hat er mir nie zwischen die Beine gegriffen oder meine Brüste betatscht, so wie es bei uns üblich war. Er hat mir aber auch nie geholfen. Vielleicht konnte er sich davon nicht ausschließen. Sonst wäre er selbst Ziel ihrer Gemeinheiten geworden. Schließlich war er der Neue.
Die Jungs bei uns auf dem Dorf waren hart. Früher dachte ich immer, wenn ich älter bin, muss ich einen davon heiraten. Davor graute mir schon. War ich froh, dass ich nach der zehnten Klasse eine Lehre mit Abitur aufnahm und der Schule entkam.

An unsren Schulhof habe ich noch aus einem anderen Grund keine günstige Erinnerung. Sie kamen auf die unglückliche Idee dort Split hinzuschütten, der aus gar nicht mal so kleinen Steinen bestand.
Eine Scheeballschlacht konnte so schon mal mit Platzwunden enden, da in die Bälle Steine eingearbeitet wurden. Aber auch wenn kein Schnee lag, wurden sie gerne als Wurfgeschosse benutzt. Ich habe so manches von der Schulhofbedeckung abgekriegt.
In einer Autobiografie von einem Musiker einer sehr bekannten Band stolperte ich über einen Satz. Ging sinngemäß so: „In der Hofpause stieg ich immer schon freiwillig in den Müllcontainer.“

Meine Mutter war Lehrerin. Sie hatte zwar studiert, aber dass Gewalt gegen Kinder keine gute Idee ist, hatte ihr keiner gesagt. Ihre Busenfreundin und Kollegin war auch nicht besser. Mich mochte sie nicht.
Mit dem Pädagoginneninstinkt, den sie sich im Laufe ihrer Tätigkeit erworben hatte, erkannte sie hellsichtig, dass ich eine Querulantin war, ein Typ, den sie überhaupt nicht leiden konnte
Das ganze Dorf redete darüber, wie oft sie ihren jüngsten Sohn schlug, dessen Vater, auch ein Lehrer wie meiner, sich aus dem Staub gemacht hatte, auch wie meiner.

Und dass das den Leuten auffiel, will schon etwas heißen, denn im Dorf war es üblich seine Kinder zu prügeln. Wenn die Väter von der Arbeit nach Hause kamen, schnallten sie erst Mal den Gürtel ab, und los ging es. Aus den Fenstern schallte Kindergebrüll. Das war noch gute deutsche Zucht.
Da wunderte sich keiner drüber. Ich habe die Erwachsenen in meiner Umgebung immer als harte, frustrierte Leute, die mit ihrem Schicksal haderten, wahrgenommen.
Die Kollegin von meiner Mutter hatte es mit ihrer Gewalt gegen ihren Sohn in den Augen der Leute aber übertrieben.
Die beiden Freundinnen, die ausgerechnet auch noch Lehrerinnen waren, ließen an ihren Kindern ihre Aggressionen gegenüber unseren beiden abwesenden Vätern aus.

Der Sohn von meiner Mutters Freundin und auch ich, hatten das Gefühl, nicht dazugehören, denn unsere Mütter, die übrigens beide Deutsch unterrichteten, stammten nicht aus der Gegend,
Väter hatten wir nicht und dann noch die hasserfüllten Rufe auf dem Schulhof von denen, die sich über uns rächen wollten, weil sie gerade im Diktat eine Fünf geschrieben hatten, was ihr Vater als Anlass nehmen konnte, seinen gefürchteten Gürtel abzuschnallen.
Was konnten wir dafür, die selber zu Hause Prügel bezogen.
Manchmal frage ich mich, wenn man soviel Prügel kassiert hat, ob einem das für sein Leben soviel gebracht hat, ob einem das weiterhilft? Vielleicht wird man ja übersensibilisiert, was eine Voraussetzung für alle großen Künstler ist.

Ich wollte ausreißen, wusste bloß nicht wohin. Meinen Vater kannte ich gar nicht, und mein Großvater, ein Witwer, der zum zweiten Mal verheiratet war, machte immer ein Gesicht, wie einer, der gerade ein Glas Essig trank, wenn er meiner ansichtig wurde. Ich hab zwar noch keinen gesehen, der so was getrunken hat, aber so stelle ich mir das vor.
War also keine Option. So blieb es bloß bei den Plänen.
Dafür bewunderte ich meinen Freund, der auch aus Mecklenburg stammte, und den ich in Berlin kennenlernte, dafür, dass er meine Fluchtträume verwirklicht hatte und als Kind wirklich von zu Hause ausgerissen war.
Die Situation war ähnlich unhaltbar wie bei mir. Sein Stiefvater schlug ihn und seinen Bruder. Die Mutter hielt zu ihrem Mann. Sein Vater hatte eine neue Familie. Meiner auch.

Obwohl, einmal habe ich es doch versucht. Nach einer Tracht Prügel leerte ich meinen Turnbeutel aus und packte statt dem Sportzeug eine dicke Scheibe Salmi und einen Kanten Brot ein. Ich überredete die Nachbarstochter mitzukommen. Wir liefen aus dem Dorf raus, bis zum sogenannten Ausbau. Ein paar vorgelagerte Häuser, die einsam standen.
Neben uns hielt ein Barkas. Wo wollt ihr hin? Ein Nachbar aus dem Nebenhaus saß am Lenkrad. Wir mussten einsteigen und fuhren zurück mit ihm. Das war meine einzige Flucht.

Für sein Ausreißen wurde mein ehemaliger Freund streng bestraft. Er durchlief alle Einrichtungen der Schwarzen Pädagogik der DDR. Ständig war er in D-Heimen, Jugendwerkhöfen und später in Knästen. Ich versuchte immer, ihn zum Reden zu bringen, da ich dachte, dass er diese Erlebnisse verarbeiten muss.
Er gab mir widerwillig Auskunft.
Nur über den Geschlossenen Werkhof in Torgau, der der Vorhof der Hölle gewesen sein muss, weigerte er sich entschieden etwas zu erzählen.
Irgendwie kam ich mir schuldig ihm gegenüber vor, denn mein Erzeuger und meine Mutter waren beide in der Volksbildung tätig. Mein Erzeuger wurde sogar in einen Jugendwerkhof strafversetzt, als sein Verhältnis mit meiner Mutter ans Licht kam.

Wie alle Außenseiter wollte ich natürlich nur zu gern dazugehören.
Der Bus, der auch als Schulbus diente, ruckelte auf dem Kopfsteinpflaster hin und her. Es war Freitag Mittag, und ich saß neben meiner Mutter. Wir wollten, wie fast jeden Freitag, in die kleine Stadt, die zwölf Kilometer von unserem Dorf entfernt war, zum Einkaufen fahren. In einer abgelegenen Ortschaft stieg ein Mädchen aus dem Bus und wurde sogleich von einer Traube Frauen umringt und freudig begrüßt.

Meine Mutter kannte sie, da sie ihre Schülerin war. „Sieh mal, die Frau im roten Kleid ist ihre Tante und daneben steht ihre Mutter. Die weißhaarige Frau ist ihre Großmutter und das kleine Mädchen ihre Schwester. Die beiden jungen Frauen, ganz rechts, sind ihre Schwägerin und deren Schwester.“ Die anderen Frauen, die am Bus standen, entpuppten sich als Nachbarinnen.
Es schien so, als wenn sie mit dem ganzen Dorf verwandt war, später hat sie folgerichtig den Jungen, dessen Haus nur einen Steinwurf von ihrem Haus entfernt lag, geheiratet. Sie gehörte in die Gegend rein. Die Gebeine ihrer Vorfahren bleichten auf dem Dorffriedhof.

Neidisch sah ich auf die Szene. Warum konnte mein Vater, den ich leider gar nicht kannte, kein Traktorist sein wie ihrer, und warum verkaufte meine Mutter nicht im Dorfkonsum? Dann säße ich jetzt nicht in Berlin, sondern hätte mir das Haus von Oma ausgebaut. Leider war sie Lehrerin, und ich musste mir auf dem Schulhof allerlei Hänseleien gefallen lassen. Alle Kinder der Lehrer hatten es nicht einfach.

Beim Sohn von der Freundin meiner Mutter lief das auf eine Überanpassung hinaus. Wie ich hatte auch er sich im Dorf immer als Außenseiter gefühlt und wollte unbedingt dazugehören. So heiratete er, der etwas älter war als ich, ein Mädchen ein Dorf weiter, die aus einer sogenannten „normalen“ Familie kam. Vater Traktorist, wie alle Männer im Dorf, die Mutter in der Feldbaubrigade, die Schwestern verheiratet mit Männern aus der Umgebung.
Außerdem bleichten die Gebeine ihrer Vorfahren auf dem Friedhof bei uns.
Am meisten gefiel ihm, der sich ständig wegen seiner Mutter in der Pause prügeln musste, dass ihre Familie in der Dorfgemeinschaft nahtlos aufging.

Seiner Mutter hatte er verziehen, seit er seine Freundin hatte, die sich seine gewalttätige Kindheit nicht vorstellen konnte, da sie es aus eigenem Erleben nicht kannte. Scheinbar hat er diese Zeit verarbeitet. Hoffentlich. War da nicht irgendwas mit posttraumatisch?

Rebellion gegen seine Mutter war für ihn, als er in einer Abschlussprüfung am Ende der zehnten Klasse auf Fragen einfach eine Antwort verweigerte, demzufolge eine Fünf erhielt und als Gesamtzensur eine Vier. Seine Mutter, die selbst das Fach an der Schule unterrichtete, war außer sich vor Zorn. An den großen, kräftigen Burschen, der bald eine Lehre auf dem Bau beginnen würde, traute sie sich aber nicht mehr ran.

Die in „Das weiße Band“, die Härtesten waren, übrigens ein Lieblingsfilm von mir, weil er mich sehr an meine Heimat erinnert, waren die Dorfintellektuellen wie der Pfarrer, der Arzt und Gutsherr.

Die Freundin von meiner Mutter war eigentlich eine emanzipierte Frau, zog ihre zwei Kinder alleine auf und machte noch ein Pädagogikfernstudium an der Uni. Das war die eine Seite.
An ihrem jüngsten Sohn, dessen Vater sie verlassen hatte, wie mein Vater meine Mutter, und sich überhaupt nicht mehr meldete, unsere beiden Väter waren übrigens mal Kollegen unserer Mütter gewesen, lies sie wohl ihren Frust auf seinen abwesenden Erzeuger aus, den er genausowenig kannte wie ich meinen.

Aber ich fand, er, der als nicht dumm galt, übertrieb etwas in dem Bemühen, wie alle zu sein, denn als er später, nachdem er mit seiner Frau in eine andere Stadt gezogen war, mal zu Besuch kam, hörte ich mit Schrecken, wie er traurig erzählte, dass die Karten für „Marianne und Michael“, wohin er mit Frau und Schwägerin gehen wollte, schon ausverkauft waren.
Ich fand, er hatte es mit der Anpassung etwas zu weit getrieben. „Man wird zu den Menschen, mit denen man am meisten Zeit verbringt.“*

Da hatte er also den schlechten Musikgeschmack seiner neuen Familie übernommen. Seine Mutter hörte Klassik.
Meine dagegen gar nichts. Sie kannte noch nicht mal Rock´n Roll, dessen Höhepunkt in ihre Jugend fiel.

Und er war erst Mitte Zwanzig. Es würde mich nicht wundern, wenn seine Kinder auch nach ihnen benannt sind. Aber er hat ja zwei Töchter. Dann eben Marianne und Michaela. Ich glaube, aber etwas von Cindy und Chantal gehört zu haben.
Bei den Namen hatte er bestimmt kein Mitspracherecht. Marianne und Michael sind für mich der ultimative Supergau. Anpassung hin, Anpassung her.

Soweit, dass man mich auf einem Konzert der beiden verlogenen Heile Welt Beschwörer finden wird, kommt es mit mir nie. Aber er scheint glücklich geworden zu sein, und ihm ist gelungen, was er sich seit seiner Kindheit, als gehänseltes Lehrerkind, immer gewünscht hat. Nämlich so wie alle zu werden.

Ich machte es genau umgekehrt gemacht wie er, der sich ins Kleinbürgerliche flüchtete. Ich dagegen fand in der Bluesszene Anschluss, wo viele aus ähnlichen Familienverhältnissen stammten wie ich, und wo ich einen Haufen Lehrerkinder wiedertraf. Was für ihn Marianne und Michael waren, waren für mich Zappa und Ton Steine Scherben.
Viele Kinder von Lehrern sind ausgeflippt. Alle ließen sich die Haare lang wachsen. Der Sohn vom Schuldirektor ist ein Drogenopfer geworden.

Ich war auch ja auch eine Weile als Hippiegirl unterwegs.
Diese Szene schien ein Auffangbecken für frustrierte Lehrerkids gewesen zu sein. Ich war mal auf einer Fete, wo sich merkwürdigerweise herausstellte, dass die Eltern von fast allen Pädagogen waren.

Das war die interessanteste Jugendkultur überhaupt, wo Leute aufeinandertrafen, die, wie wir, zu Hause verprügelt wurden, wenn sie eine Drei im Diktat bekamen, und deren Eltern Tag und Nacht um den guten Ruf besorgt waren und Andere, denen es so ging wie meiner Freundin, deren Mutter die ganze Gegend glücklich machte, und die zusammen mit ihren Geschwistern Kinderheime und Werkhöfe durchlaufen hatte.

Unsere Eltern hatten in der Volksbildung dafür gesorgt hatten, dass sie dort in diese Einrichtungen gekommen sind, die ein Großteil meiner Kumpels kennengelernt hatte. Mein Erzeuger, Vater möchte ich ihn hier nicht nennen, da ich ihn gar nicht kannte, war auch eine Weile als sogenannter Erzieher, Gefängniswärter wäre ein besserer Begriff, in so was tätig.

Das Problem des Mobbings gegen Lehrerkids wurde nie thematisiert, erst recht nicht von unseren Eltern. „Das bildest du dir nur ein“, antwortete meine Mutter mir immer, wenn ich versuchte, dass Thema anzusprechen. Ihre Art, ein Problem anzugehen, war, sich zu weigern, es wahrzunehmen.

Die anderen Lehrer waren aber keinen Deut besser als meine Mutter. Sonst hätten sie sich an der Schule gar nicht halten können.
Einmal, ich war schon in der Berufsschule, holte mich meine Mutter von der Bushaltestelle ab. „Hallo Julia“, begrüßte sie eine junge Frau. „Sie ist neu an der Schule“, sagte sie zu mir. Ihre Kollegin sah mich aus ihren großen braunen Augen freundlich an. So einen freimütigen Blick war ich nicht gewohnt von den Dorfbewohnern. „Sie wird es bestimmt nicht leicht haben unter ihren Kollegen“, dachte ich.

Scheinbar suchte sie bei meiner Mutter nach Freundschaft. Da war sie aber an genau die Falsche geraten, da meine Mutter einen Widerwillen gegen alles Unangepaßte hatte. Gegen mich übrigens auch.
Und wirklich, wenn ich am Wochenende nach Hause kam, erzählte mir meine Mutter oft, was sie wieder über Julia tratschten im Lehrerzimmer. Die hielt es übrigens wirklich nicht lange an der Dorfschule. Das letzte, was meine Mutter mir erzählt hat, war, dass sie mit Mann und Sohn einen Biobauernhof hat.

Eine Frage, die ich mir manchmal stelle, ist: "Braucht überhaupt einer das, was als Kunst bezeichnet wird?" Eigentlich ist es ja das Wichtigste zu Essen und ein Dach über den Kopf zu haben. Und keinen macht bedrucktes Papier satt. Wir besitzen jedoch eine spirituelle Seite, auch Seele genannt, die ihren Tribut fordert.

„Der ist gerade aus dem Gulag gekommen“, war die Antwort, als sie sich nach dem zerzausten Väterchen erkundigte, das auf wackeligen Beine umhertaumelte und wirkte wie ein Außenirdischer von einem andern Stern. Das habe ich mal bei Irina Scherbakowa gelesen, als sie in „Die Hände meines Vaters“ über die Stalinzeit schrieb.**

Für die Häftlinge jedenfalls, die aus dem Gulag entlassen wurden, war es schrecklich, dass sie nirgendwo etwas fanden, dass sich mit ihrem Schicksal beschäftigte, nichts was ihnen half, was sie erlebt hatten, zu verarbeiten. Alles an künstlerischer Auseinandersetzung damit war verboten worden. In der Sowjetunion war sowas Tabuthema. Nicht mal davon sprechen durfte man. Manch einer wurde verrückt deswegen.

Deshalb dieser Exkurs über Mobbing in der Schule. Ähnlich im Dunklen wie die Gulag-Häftlinge tappen Schüler, die nach etwas suchen, dass ihnen hilft, ihre Realität zu verstehen. Genau wie diese laufen sie gegen Mauern des Schweigens. In der Schulzeit passiert ja Einiges, was von der Gesellschaft verdrängt wird, wovon wir nicht erst seit Freud wissen, dass das zu nichts Gutem führt.

Es gibt darüber nicht viel Vernünftiges zu lesen. Floskeln und stereotype Wendungen tauchen immer wieder auf. Jeder, der sich mit sowas am eigenen Leibe erfahren hat, merkt nach kurzer Zeit, dass das nur Gesülze ist. Eigentlich geben sie einem nur den Rat, das auszusitzen.
Den Psychologen, die darüber schreiben, ist schon klar, dass das Opfer in einem Teufelskreis gefangen ist. Das einer der Prügelknabe ist, wird wohl irgendwie von der Gesellschaft geduldet, da das Spannung aus der Gruppe nimmt und diese stärkt. Denn Gruppen definieren sich über Außenseiter. Irgendwie wird man geopfert. Das wissen alle, aber keiner spricht es aus und sehen weg.

Übrigens, war ich froh, als ich mit sechzehn eine Lehre mit Abitur in der Nähe von Stralsund anfing und meiner alten Schule entkam.


Ich wollte den Text schon einfach in die Tonne kloppen, er ist einfach nicht zündend, ließ es aber doch sein, da das Thema zu wichtig ist, und man sich einfach daran versuchen muss, auch wenn es keinen Spaß macht.
Eigentlich wollte ich auch statt zündend erst rund schreiben, verwarf die Idee dann aber wieder. Mein Geschreibsel soll keine Kugel sein, die lustig den Weg entlang rollt. Im Gegenteil. Meine Sätze sollen scharfkantige, sperrige Gebilde sein, die tiefe Furchen in den Untergrund reißen, wenn sie mit ihm in Berührung kommen.

*Ein Zitat aus: Sara Gmuer „Achtzehnter Stock“.
 
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petrasmiles

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Die Schulklasse als Spiegelbild der Gesellschaft. Eine Art Keimzelle des Faschismus, denn dort haben die Kinder gelernt, dass es angeraten ist, sich der Meute anzupassen und auf die Stimme des Gewissens, die ihnen was anderes sagte, nicht zu hören.
Politisch bestimmt nicht korrekt, aber diese Zusammenhänge mal ans Licht zu zerren, ist Dein Verdienst.
Wenn wir nur statt 'Faschismus' von der Natur des Menschen sprechen, fällt man nicht mehr so leicht darauf rein, etwas ismus zu benennen, und dann kann man sich daran machen, die Gegner zu bekämpfen. Das ist ja der Selbstbetrug.
Niemand wird sagen können, dass mehr Achtsamkeit zu weniger Mobbing geführt habe. Eher im Gegenteil.

Ansonsten habe ich mich an Deinen 'Stil' gewöhnt, dieses 'frei Schnauze'. Ich finde auch wichtig, wovon Du schreibst, aber ein Vergnügen ist die Lektüre nicht, was nicht nur an dem Gegenstand liegt, sondern an diesen vielen seitlichen Arabesken, dieses 'sich nicht beschränken wollen', keine Geschichte daraus machen wollen. Ich lese damit.

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Petra,
ganz so Unrecht habe ich aber nicht mit dem Vergleich mit der Nazizeit. In der Schule, wo die Kinder dicht aufeinander sind, und nicht kündigen können wie in der Arbeit, hängt ihr gesellschaftliches Überleben davon ab, dass es ihnen gelingt, sich anzupassen, um nicht selbst zum Opfer zu werden. Das hat schon etwas von Faschismus, der bloß funktionieren konnte, weil alle mit den Wölfen geheult haben und die Augen verschlossen haben vor dem Leid der Juden. Das ist ihnen in der Schule schon vermittelt worden. Das Thema ist hart. Ich denke aber nicht nur Talkshowgäste, worunter auch immer solche angeblichen Psychologen sind, sollten sich dazu äußern. Wenn man nach Mobbing recherchiert, findet man nur Plattitüden. Dass es nicht lange dauern wird, bis wieder die nächsten Schreckensmeldungen über Amok durch die Presse gehen, meist ja in den USA, aber auch Deutschland hat nachgezogen, wissen wir alle. Die gemobbten Kinder wissen doch, dass sie von der Erwachsenenwelt nichts zu erhoffen haben. Mein Text ist wenigstens ein Versuch einer Auseinandersetzung. Normalerweise geben die Leute nicht gern zu, dass sie gemobbt wurden. Ich mache da mal eine Ausnahme und entblöße mich selber.
Gruß Friedrichshainerin
 

petrasmiles

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Liebe Friedrichshainerin,

ich habe Deinen Hinweis ja hervorgehoben als wahr - mein Nachsatz bezog sich nicht auf Dich, sondern andere, die man vielleicht auch ohne 'Faschismus'-Keule näher an dieses Thema bringen könnte und es damit politisch entkleiden könnte.
Denn bei dem, was Du schilderst, geht es ja um die Natur des Menschen.
Dieser Kampf zwischen Anpassung und Selbstbehauptung beginnt ja nicht erst, wenn wir erwachsen sind, sondern dann, wenn wir ein Ich haben. Und dann heißt es: lernen, was in erster Linie soziales Lernen ist.
Mobbing ist doch nichts anderes als ein übersteigertes Abfallprodukt der natürlichen Prozesse des Verbündete finden und sich abgrenzen. Das ist ein natürlicher Prozess - da findet Ähnliches zusammen und schmiedet Allianzen, da empfindet man eher unbewusst Abneigung und meidet. Das ist alles nicht zu beanstanden. Aber wenn das politisch aufgeladen wird - was meistens seitens der Eltern geschieht - und dann auch noch als bewusste Ausgrenzung zelebriert und von den Lehrern ignoriert wird, bekommt es diese Schieflage.

Sich als Außenseiter zu begreifen, ist keine Schande. Ich hatte als Kind Hautschwierigkeiten, musste immer mit so einer fiesen Salbe eingecremt werden und hatte lange rauhe Hände. In der Grundschule ging man bei uns in Zweierreihen an der Hand vom Schulfhof in die Klasse, und mich wollte niemand bei der Hand nehmen. Natürlich habe ich gelitten, aber hat das jemand aus Bosheit getan? Wird nicht jede Abweichung erst einmal abgelehnt? Ist das nicht der Ursprung von diesen 'ismen? Und dann kommt es darauf an, zu lernen. Und es ist die Aufgabe der Lehrer, auch dieses soziale Lernen zu unterstützen.
Die Vergangenheit können wir nicht ändern.

Liebe Grüße
Petra
 
Hallo Petra,
dass das alles natürlich ist, erzählt mal den Hinterbliebenen der Opfer von Amokläufen. Du hast schon recht, aber sowas kann bei Jugendlichen ganz schön in die falsche Richtung gehen. Ich denk mal, wenn bei und in Deutschland die Waffengesetze lockerer werde, hätte wir dasselbe Problem wie die Amis. Meist sind auch Jungen die Täter. Sie haben wohl ein anderes Aggressionspotential.
Gruß Friedrichshainerin
 
Da würde ich nun gern näher auf den Inhalt eingehen, werte Friedrichshainerin, aber es will mir nicht recht gelingen. Ich vergleiche die beschriebene Schulhölle mit dem von mir selbst in dreizehn Schuljahren Wahrgenommenen und erkenne insoweit nur sehr entfernte Ähnlichkeiten. Weder in der Grundschule (Volksschule) noch in der Oberschule habe ich je vergleichbar krasse Fälle in meiner Nähe gehabt. Wohl gab es manchmal Ansätze zu solchen Strukturen, aber sie setzten sich nie in der Breite durch, d.h. es gab nicht dieses Gegenüber von Outsider und aggressiv ausgrenzender Mehrheit.

Woran mag das liegen? Erinnere ich mich nicht genau genug? Habe ich damals die Augen zum Teil verschlossen? Oder waren das Milieu und die Zeit grundverschieden von den hier beschriebenen Umständen? Ich kann es nicht aufklären.

Persönlich wies ich selbst infolge von Herkunft, Sexualität und Bildungsinteressen durchaus Ansätze fürs Ausgegrenztwerden auf. HIer und da wurde das auch wirksam, glaube ich mich undeutlich zu erinnern. Aber es war nie beherrschend, wurde kein großes Problem. Und gerade an der Oberschule gab es durchgehend immer einige wenige Kameraden, mit denen mich besonders viel verband. Gemeinsames Abweichen oder Herausragen, das gab es und das hat mich damals stabilisiert und gefördert.

An eine einzige Ausnahme kann ich mich doch erinnern, bei der ich solche Abläufe wie von dir beschrieben erlebt habe (auch als Opfer). Es war eine sechswöchige Erholungskur im Schwarzwald, ich war acht oder neun Jahre alt.

Die formale Kritik, die Petra in #2, letzter Absatz in maßvoll-zurückhaltender Weise geübt hat, teile ich.

Nur am Rand: In diesem Text scheint auch wieder der Kontrast Berlin - mecklenburgische Provinz auf. Zum zweiten Mal wird in diesem Zusammenhang auf jüngste Wahlergebnisse Bezug genommen. Hm, das funktioniert für mich nur so lange, wie du Berlin mit Friedrichshain-Kreuzberg gleichsetzt. Gleich hinter dem Ostkreuz sieht es insofern nicht viel anders aus als in deiner ländlichen Heimat (Bezirke Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf).

Schöne Sonntagsgrüße
Arno
 
Hallo Arno,
bei uns gab es kein Gymnasium. Manche Schüler gingen nach der achten Klasse zur Erweiterten Oberschule, bis zur zwölften Klasse. In dieser EOS, die in der Kreisstadt war, machten sie Abitur. Ich war zehn Jahre auf der sogenannten Polytechnischen Oberschule in meinem Dorf. Dort hatte ich die Schwierigkeiten, die besonders darauf beruhten, dass meine Mutter Lehrerin an dieser Schule war. Danach machte ich eine dreijährige Lehre mit Abitur in der Landwirtschaft. Mit den dortigen Klassenkameraden kam ich viel besser aus. Solche Bildungsmöglichkeiten kennen viele im Westen nicht. In Friedrichshain gab es übrigens kaum AfD-Wähler. Liegt wohl an den vielen Studenten, die hier wohnen.
Zu dem Inhalt des Textes. Vielleicht hat man schon manches verdrängt. Die Schulzeit bis zur Zehnten liegt bei vielen schon eine Weile zurück. Bei mir ja auch. Eigentlich müsste ich nämlich noch viel härter formulieren, um die Zeiten wahrheitsgemäß zu beschreiben.
Gruß Friedrichshainerin
 
Dort hatte ich die Schwierigkeiten, die besonders darauf beruhten, dass meine Mutter Lehrerin an dieser Schule war.
Ja, darauf einzugehen, das hatte ich vorhin vergessen, Friedrichshainerin. Diese spezielle Problematik des Lehrerkinds kenne ich nur vom Hörensagen. In den von mir besuchten Klassen war ein solcher Fall nicht vertreten. Ich erinnere mich an einen Arztsohn und einen Bürgermeistersprößling. Sie wirkten ganz souverän.

In Friedrichshain gab es übrigens kaum AfD-Wähler. Liegt wohl an den vielen Studenten, die hier wohnen.
Die Wahrheit sieht eher so aus: Friedrichshain hat seine potenziellen AfD-Wähler im Zuge der exorbitanten Mietsteigerungen an den Stadtrand exportiert. Die Bezirke innerhalb der Ringbahn sind für Niedrigverdiener nicht mehr bezahlbar, so dass es zu einer Umschichtung der Bevölkerung in der Stadt kam. Und genau das bilden auch die jüngsten Wahlergebnisse ab = Segregation à la Paris und London. Ich habe das nur thematisiert, da ich den stattdessen von dir angenommenen Stadt-Land-Kontrast hier für unzutreffend halte. Er gehört zu den Legenden, mit denen man sich in Szenevierteln über die soziale Realität hinwegzutäuschen versucht.

Grüße vom Friedrichshain-Verächter
Arno
 
Hallo Arno,
Du könntest Recht haben. Ich habe ja das erste Mal von 89 bzw. 90 bis 94 in Friedrichshain in der Neuen Bahnhofstraße gewohnt. Damals wohnten bei uns im Haus Leute jeden Alters. Meist Urberliner. Unten gab es eine Kneipe, längst pleite, wo ich sogar mal gesehen habe, wie eine Frau den Hitlergruß zeigte.
Als ich 2000 wieder ans Ostkreuz zurückkehrte, fiel mir auf das es hier nur noch Leute um die Zwanzig gab. Die typischen Ostberliner Mietshausbewohner jeden Alters waren verschwunden, damit auch wohl die mit rechten Tendenzen. Damals bin ich mir mit über Dreißig auf der Straße ja schon alt vorgekommen.
Mein Haus kam mir so vor, wie das Studentenwohnheim, wo ich mal eine Weile lebte. Die Mieten sind immer noch sehr moderat bei mir. Der Grund ist wohl, dass wir als Sanierungsgebiet deklariert sind. Ich glaube, dass ist jetzt ausgelaufen. Bei einer Arbeitskollegin im Haus zahlen ihre Nachbarn für dieselben Quadratmeter wie bei mir das Doppelte. Können sie aber auch. Der in der einen Wohnung ist Architekt. Die Mieterin in der anderen eine sehr gut verdienende Sozialarbeiterin. Das ist auch im Friedrichshain in der Petersburger.

Unser Haus ist verkauft worden. Jetzt zittern wir, dass Eigentumswohnungen daraus gemacht werden, und uns der Kapitalismus sein wahres Gesicht zeigt. War da nicht irgendwas mit Marx, der schrieb, der Kapitalist geht für Maximalprofit über Leichen? Hatte ich in Staatsbürgerkunde.
Gruß Friedrichshainerin
 
Da habe ich noch etwas zum Thema gefunden, geschätzte Kollegin:


Die Durchschnittseinkommen (Arbeitnehmer) in den einzelnen Kiezen kann man der Graphik entnehmen und diese auch vergrößern. Je grüner, desto besser situiert. Friedrichshain ist überwiegend grün, Friedrichsfelde, wo ich wohne (und übrigens auch viele Studenten), überwiegend rot. Unter den Bezirken liegt ausgerechnet Friedrichshain-Kreuzberg ganz vorn. Es hat sich erst zuletzt in diese Spitzenposition vorgearbeitet. Man darf wohl einen statistischen Zusammenhang zwischen Nettoeinkommen und akzeptierter Miethöhe annehmen, mit all den Folgen für die Zusammensetzung der Bewohnerschaft. Wenn man in dieser Graphik das Rot in Blau (für AfD) umfärbt, entspricht das annähernd den letzten Wahlergebnissen, auf Stimmbezirke bezogen.

Schöne Abendgrüße
Arno
 



 
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