Miesburg

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Ofterdingen

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Miesburg

**Es war halb sechs Uhr morgens, als ich in Miesburg ankam, und es regnete. Ich saß eine Weile auf einer dieser Metallbänke in der Bahnhofshalle, aber irgendwann stand ich auf, weil sich um mich herum immer mehr Menschen ansammelten, die nach Bier und schmutziger Unterwäsche rochen. Ich griff nach meinem Rucksack und ging hinaus auf die nasse Straße. Dieser Rucksack enthielt diverse Klamotten und er war nicht wasserdicht. Weil es die ganze Zeit wie bescheuert regnete, wurde er zu einem mächtig schweren Klumpen, der eine bräunliche Brühe ausschied und borniert an seinen Riemen zerrte.
**Ich kannte diese Stadt nicht. Sie war hässlich, jedenfalls war das Viertel, durch das ich marschierte, ziemlich heruntergekommen. Passte mir aber schon. Ich fand eine billige Absteige, wo ich meine Sachen zum Trocknen aufhängte. Mein Zimmer lag im vierten Stock und aus der Dachluke blickte man auf einen kleinen Supermarkt und daneben auf ein Schaufenster, in dem eine Menge bedruckte DIN-A-4-Blätter hingen. In dem Supermarkt kaufte ich im Preis herabgesetzte Wurst und Brötchen vom Vortag, dazu immer drei Flaschen Sekt. Die Sachen aß und trank ich meistens in meinem Zimmer und so machte ich es jeden Tag, bis mir so langsam das Geld ausging.
**Am letzten Morgen verließ ich das Haus und die Sonne schien. Ich blieb vor dem Schaufenster stehen, wollte doch mal sehen, was auf den Zetteln stand. Es war gut, dass ich eine Flasche Sekt mithatte. Die brauchte ich jetzt. Ich nahm einen kräftigen Schluck und noch einen und noch einen, aber davon wurde das geschriebene Zeug leider nicht besser. Unter jedem dieser Werke stand der Name Klaus. Mir fiel ein, Klaus kommt von Nikolaus, dem Mann von Knecht Ruprecht. Dieser Knecht Ruprecht war ein fürchterlicher Kerl, er bestrafte Kinder mit seiner Rute. „Aber Klaus ist eine deutlich schlimmere Strafe“, dachte ich. „Dann doch lieber Menschen, die bloß nach Bier und schmutziger Unterwäsche stinken.“ Ich holte meinen Rucksack, der inzwischen trocken war, und trabte zum Bahnhof.
**„Miesburg heißt wohl nicht umsonst so“, murmelte ich, als ich in den Waggon stieg. „Warum zum Teufel bin ich überhaupt in dieses Rattenloch gekommen, habe mein weniges Geld hier verbraten?“
**Ich lehnte mich im Sitz zurück und muss eingedöst sein. Irgendwann öffnete ich die Augen und das Abteilfenster und fragte; „Wo bin ich denn hier?“ – „Sie verlassen jetzt Miesburg“, sagte der Schaffner, der mir raubtiergleich entgegenatmete. „Spaßvögel nennen diese Stadt die schlimmste Strafe Gottes seit der Sintflut.“ Dann ließ er einen scharfen Pfiff ertönen und der Zug fuhr ab.
 
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Franke

Foren-Redakteur
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Hallo Ofterdingen,

Miesburg, da ist der Namen anscheinend Programm.

Deine Kurzprosa habe ich gerne gelesen, vor allem auch deswegen weil ich nicht erfahre, was denn dieser Klaus auf seinen Zetteln veröffentlicht hat. Das überlässt du dem Leser.

Einziger kleiner Kritikpunkt sind die umgangssprachlichen Ausdrücke wie "rum" und "raus".
Die wollen nicht so recht zu anderen Formulierungen passen, wie:

und borniert an seinen Riemen zerrte.
der mir raubtiergleich entgegenatmete.
Liebe Grüße
Manfred
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Manfred,

Danke für deinen Kommentar und dein genaues Hinsehen. Mit umgangssprachlichen Ausdrücken wie "rum" und "raus" möchte ich den Ich-Erzähler charakterisieren, ebenso durch seine etwas phantasielose mehrfache Verwendung des Verbs "gehen". Du hättest noch das umgangssprachliche "wie bescheuert" nennen können, "einem mächtig schweren Klumpen" und "so langsam" in "bis mir so langsam das Geld ausging" (statt des normalsprachlichen allmählich). Das muss aber nicht alles so stehen bleiben. Ich habe den Text nochmal gelesen und Umgangssprachliches dort weggefeilt, wo es mir entbehrlich schien. Nach meinem Gefühl ist der Ausdruck " borniert an seinen Riemen zerrte" nicht krass abweichend, muss bleiben, weil der Rucksack so als Lebewesen mit eigenem Willen erscheint, was dann zum Tiervergleich beim Schaffner passt. Natürlich hebt sich - da hast du völlig Recht - "der mir raubtiergleich entgegenatmete" von seiner Umgebung ab - soll es auch. So, reicht, ich lehne es sonst strikt ab, an meinen eigenen Texten herumzudeuten.

Es gibt übrigens einen Ort Misburg, doch den meine ich nicht und der schreibt sich auch nicht mit ie, sondern mit einfachem "I".


Gruß,
Ofterdingen
 
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