Willi Corsten
Mitglied
Mieseliese
von Willi Corsten
Liese war auf einem Bauernhof beschäftigt. Bei der Heuernte stürzte sie unglücklich vom Leiterwagen, verlor das Bewusstsein und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Als sie nach einer Woche aus dem Koma erwachte, war aus dem lebenslustigen Mädchen eine mürrische, verbitterte Frau geworden. Die Verletzung am Kopf hatte wertvolle Eigenschaften verschüttet und böse Gedanken Platz gemacht.
Die Nachbarn wollten bald schon nichts mehr von der Magd wissen, sagten nun Mieseliese zu ihr und beschimpften sie gar als Hexe. Nicht ganz zu Unrecht, denn Mieseliese war so boshaft, dass sie Mensch und Tier dazu brachte, dumme und gefährliche Sachen anzustellen. Und keines der Opfer wusste sich zu wehren, obwohl das Gegenmittel nicht einmal Geld gekostet hätte.
Die erste Missetat galt einem Häschen, das an einem Bachlauf saß. Neben dem Bach führte ein Weg entlang. Dort war ein Ehepaar mit den Fahrrädern unterwegs. Das Häschen sah zwar die beiden näherkommen, ergriff aber keineswegs die Flucht – was doch natürlich gewesen wäre – sondern lief dem Mann geradewegs ins Vorderrad. Er stürzte kopfüber ins Wasser und blieb im Schlamm stecken. Seine Frau versuchte zu helfen, doch weil sie auf der Böschung keinen Halt fand, konnte er erst von Spaziergänger aus seiner misslichen Lage befreit werden. Mieseliese hatte zuvor das Häschen verhext, fügte dem unschuldigen Wesen gar Schaden zu, weil es sich bei dem Unfall ein Bein brach.
Ein anderes Mal war eine Reiterin das bedauernswerte Opfer. Die Frau ritt mit ihrem Begleiter aus, überredete ihn zu einer Pause und führte nach der Rast die beiden Pferde herbei. Mieseliese scheuchte die Tiere durch laute Rufe wieder fort. Die Reiterin versuchte sie am Zügel festzuhalten. Vergeblich, sie stolperte, stürzte hin und wurde mitgeschleift. Eines der Pferde stürmte links an einem Baum vorbei, das andere rechts, die Mitte überließen sie ihrer Herrin. Sie prallte gegen das Hindernis und verletzte sich am Kopf. Mieseliese aber lachte boshaft und verschwand.
Ziellos irrte sie durch Wiesen und Felder. Da sah sie am Wegrand ein kleines Mädchen stehen, das einen Strauß Gänseblümchen in der Hand trug. Mieseliese sprach das Kind an und meinte: „Siehst du die Kühe drüben auf der Weide? Die armen Tiere langweilen sich zu Tode. Geh hin, öffne das Gatter und treibe sie auf die Straße. Wirst sehen, gleich passieren dort die lustigsten Unfälle.“
„Nein“, antwortete das Mädchen und lachte fröhlich. „Die Kühe fühlen sich wohl hinter dem Zaun. Was sollen sie denn draußen auf der Straße? Da gibt es weder Gras noch Wasser, dafür aber viele Lastwagen, die den armen Tieren eine Beule ins Hinterteil fahren.“
Mieseliese schüttelte unwillig den Kopf und nahm sich fest vor, dem Kind ihren Willen aufzuzwingen. Tagelang versuchte sie ihr Glück, doch die Kleine ließ sich nicht umstimmen, ihre Gespräche wurden aber immer länger. Da gab Mieseliese ihr Vorhaben auf.
Oft saßen die Beiden nun unter der Rotbuche auf einer Bank und redeten miteinander. Einmal sagte das Mädchen: „Wenn du mir ein schönes Märchen erzählst, darfst du zur Belohnung auch meine Puppe halten.“ Danach kramte sie zwei Bonbons aus der Schürzentasche und meinte treuherzig: „Eins für dich und eins für mich.“
Mieseliese wurde ganz seltsam zu Mute. Ein stilles Lächeln verklärte ihr Gesicht und allmählich tauchten längst vergessene Erinnerungen wieder auf. Später trug das Kind ein lustiges Gedicht vor, sah die Alte schelmisch an und fragte: „Was ist das für ein seltsames Wesen? Es macht Neunhundertneunundneunzig Mal tip und ein Mal tap?“ Mieseliese krauste nachdenklich die Stirn und wusste keine Antwort. „Na klar doch“, platzte das Mädchen endlich heraus und schüttelte sich vor Lachen, „das ist ein Tausendfüßler mit einem Holzbein.“
Mieseliese stimmte in das fröhliche Lachen ein und stellte verwundert fest, dass Heiterkeit viel schöner ist als Bosheit. Unbewusst hatte die Kleine damit den Schaden im Kopf geheilt, denn Freundschaft und Humor waren es gewesen, die Mieseliese bei ihrem Unfall vergessen hatte. Sie hörte sogleich auf, Mensch und Tier zu quälen, humpelte vergnügt davon und wurde bald nur noch Gute-Laune-Liese genannt.
von Willi Corsten
Liese war auf einem Bauernhof beschäftigt. Bei der Heuernte stürzte sie unglücklich vom Leiterwagen, verlor das Bewusstsein und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Als sie nach einer Woche aus dem Koma erwachte, war aus dem lebenslustigen Mädchen eine mürrische, verbitterte Frau geworden. Die Verletzung am Kopf hatte wertvolle Eigenschaften verschüttet und böse Gedanken Platz gemacht.
Die Nachbarn wollten bald schon nichts mehr von der Magd wissen, sagten nun Mieseliese zu ihr und beschimpften sie gar als Hexe. Nicht ganz zu Unrecht, denn Mieseliese war so boshaft, dass sie Mensch und Tier dazu brachte, dumme und gefährliche Sachen anzustellen. Und keines der Opfer wusste sich zu wehren, obwohl das Gegenmittel nicht einmal Geld gekostet hätte.
Die erste Missetat galt einem Häschen, das an einem Bachlauf saß. Neben dem Bach führte ein Weg entlang. Dort war ein Ehepaar mit den Fahrrädern unterwegs. Das Häschen sah zwar die beiden näherkommen, ergriff aber keineswegs die Flucht – was doch natürlich gewesen wäre – sondern lief dem Mann geradewegs ins Vorderrad. Er stürzte kopfüber ins Wasser und blieb im Schlamm stecken. Seine Frau versuchte zu helfen, doch weil sie auf der Böschung keinen Halt fand, konnte er erst von Spaziergänger aus seiner misslichen Lage befreit werden. Mieseliese hatte zuvor das Häschen verhext, fügte dem unschuldigen Wesen gar Schaden zu, weil es sich bei dem Unfall ein Bein brach.
Ein anderes Mal war eine Reiterin das bedauernswerte Opfer. Die Frau ritt mit ihrem Begleiter aus, überredete ihn zu einer Pause und führte nach der Rast die beiden Pferde herbei. Mieseliese scheuchte die Tiere durch laute Rufe wieder fort. Die Reiterin versuchte sie am Zügel festzuhalten. Vergeblich, sie stolperte, stürzte hin und wurde mitgeschleift. Eines der Pferde stürmte links an einem Baum vorbei, das andere rechts, die Mitte überließen sie ihrer Herrin. Sie prallte gegen das Hindernis und verletzte sich am Kopf. Mieseliese aber lachte boshaft und verschwand.
Ziellos irrte sie durch Wiesen und Felder. Da sah sie am Wegrand ein kleines Mädchen stehen, das einen Strauß Gänseblümchen in der Hand trug. Mieseliese sprach das Kind an und meinte: „Siehst du die Kühe drüben auf der Weide? Die armen Tiere langweilen sich zu Tode. Geh hin, öffne das Gatter und treibe sie auf die Straße. Wirst sehen, gleich passieren dort die lustigsten Unfälle.“
„Nein“, antwortete das Mädchen und lachte fröhlich. „Die Kühe fühlen sich wohl hinter dem Zaun. Was sollen sie denn draußen auf der Straße? Da gibt es weder Gras noch Wasser, dafür aber viele Lastwagen, die den armen Tieren eine Beule ins Hinterteil fahren.“
Mieseliese schüttelte unwillig den Kopf und nahm sich fest vor, dem Kind ihren Willen aufzuzwingen. Tagelang versuchte sie ihr Glück, doch die Kleine ließ sich nicht umstimmen, ihre Gespräche wurden aber immer länger. Da gab Mieseliese ihr Vorhaben auf.
Oft saßen die Beiden nun unter der Rotbuche auf einer Bank und redeten miteinander. Einmal sagte das Mädchen: „Wenn du mir ein schönes Märchen erzählst, darfst du zur Belohnung auch meine Puppe halten.“ Danach kramte sie zwei Bonbons aus der Schürzentasche und meinte treuherzig: „Eins für dich und eins für mich.“
Mieseliese wurde ganz seltsam zu Mute. Ein stilles Lächeln verklärte ihr Gesicht und allmählich tauchten längst vergessene Erinnerungen wieder auf. Später trug das Kind ein lustiges Gedicht vor, sah die Alte schelmisch an und fragte: „Was ist das für ein seltsames Wesen? Es macht Neunhundertneunundneunzig Mal tip und ein Mal tap?“ Mieseliese krauste nachdenklich die Stirn und wusste keine Antwort. „Na klar doch“, platzte das Mädchen endlich heraus und schüttelte sich vor Lachen, „das ist ein Tausendfüßler mit einem Holzbein.“
Mieseliese stimmte in das fröhliche Lachen ein und stellte verwundert fest, dass Heiterkeit viel schöner ist als Bosheit. Unbewusst hatte die Kleine damit den Schaden im Kopf geheilt, denn Freundschaft und Humor waren es gewesen, die Mieseliese bei ihrem Unfall vergessen hatte. Sie hörte sogleich auf, Mensch und Tier zu quälen, humpelte vergnügt davon und wurde bald nur noch Gute-Laune-Liese genannt.