Minou 12 Evakuierung Teil 1 - 3

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Inu

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Minou 12

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Dieser Teil enthält:

EVAKUIERUNG 1
Eine Brücke, ein Bunker 1944
Gut Morgenau
In Morgenau töten sie Tiere
Eine schön geordnete Welt
Jetzt erscheint auch noch die Mutter Gottes

EVAKUIERUNG 2
Eine Insel im Teich
Der Toni ist ein Depp
Halenas Schätze
Der wilde Stier
Monika und Gert
Versuch eines Widerstands: die weiße Rose
Das Spektakel am Himmel
Der Eiskeller
Sommerglück, Herbstspaß, Winterzauber
Eine Zuflucht

EVAKUIERUNG 3
Der Konvoi
Die amerikanischen Piloten
Eine Vision von Macht und Glorie
‘O when the Saints come marching in’
Eine Flucht
Unheilvoller Fund
Das Ende einer wirren Zeit

................................................



12 EVAKUIERUNG I

Was vorherging:
Hermine ( Minou ) ist 1939 geboren. 1940 stirbt ihre Mutter. Vater ist Soldat im Krieg. Nach mehreren Versuchen mit ‚Haushälterinnen‘ wird das Kind zu Anna, einer Tante gebracht. Dann heiratet Papa wieder. Lisa, die neue Mutter, nimmt die jetzt viereinhalbjährige Hermine und den jüngeren Bruder Werner zu sich. Papa, ständig an der Front, ist für die Kleine ein Fremder, den sie nur vom Hörensagen kennt, an den sie sich kaum erinnert.




EINE BRÜCKE, EIN BUNKER

Neunzehnhundertvierundvierzig fährt Lisa mit Hermine und Werner in die ´Evakuierung´. Evakuiert werden Frauen, Kinder und Alte aus bombengefährdeten Städten oder Gegenden nahe der Frontlinie. Evakuierung ist ein staatlicher Befehl.

In Lisas Fall befiehlt niemand. Die Stiefmutter wird ebenso wenig wie die anderen Menschen im Ort, zum Wegfahren gezwungen denn Marienstock liegt in keiner kritischen Zone.
Man weiß, dass die Amerikaner mit ihren Bomben keine Dörfer platt machen, während das nur fünfundzwanzig Kilometer entfernte Brückenstadt immer wieder getroffen wird.

Also, die Einwohner verlassen Marienstock nicht. Nur Lisa geht ... mit den beiden Kindern.
Die Männer der Kerns im wehrfähigen Alter sind ohnehin alle im Krieg. ‚Eingezogen': Oskar ( Hermines Vater) auch Onkel Fritz, Papas einundzwanzigjähriger Bruder und Onkel Willi, der gerade einmal achtzehn geworden ist.

Zwei genauso junge Onkel aus Unterstetten, Alex und Arnold, Brüder von Hermines ‚erster‘ Mutter, sind ebenfalls an der Front. Das heißt ... nein... Alex ist zu der Zeit schon gefallen.

„Ein Prosit auf Großdeutschland und den Endsieg“, ruft Onkel Peter, der als einziger von den Männern der Kerns zu Hause bleiben muss – oder darf! Er hat Gelenkrheuma. Ein kaum dreißigjähriger, gesund aussehender Mann, der nicht eingezogen wird ... so einer ist suspekt in jener Zeit. Drückeberger.
„ Wenigstens werde ICH nicht für den Gröfaz ( Größter Feldherr aller Zeiten ) ins Gras beißen“, lallt Peter schon einmal trotzig, wenn der Alkohol ihn beflügelt.
“Halt den Mund, du bringst uns alle in Teufels Küche“, so darauf Zilli, sein Eheweib.

*

Lisa verlässt also die Restfamilie und geht mit Werner und Hermine in die Evakuierung. Na ja, sie nennt es so ...

Sie fahren mit dem Zug. Ihr Ziel ist Bayern. Oberbayern. Dort ist Lisas Stiefvater, ein studierter Agronom, Verwalter auf einem Gut namens Morgenau. Und dort soll noch immer Milch und Honig fließen. In Marienstock ist es nämlich inzwischen schwer, an die täglichen Nahrungsmittel zu kommen.

Während der Fahrt bleibt der Zug - kurz hinter Ludwigshafen - plötzlich auf den Geleisen stehen. Unformierte springen in die Waggons, suchen in Ecken und unter Bänken nach irgend etwas, nehmen Gepäckstücke aus dem Netz und auseinander...
„Alle Fenster schließen“, tönen die Befehle.

“Mama, warum fahren wir nicht?“ quängelt Werner. Er ist dreieinhalb.
„Wir fahren gleich“, sagt Lisa.
Aber... es geht und geht nicht vorwärts. Eine Viertelstunde ist vorbei, eine halbe Stunde. Vierzig Minuten. Lisa und die Kinder essen Butterbrote. Trinken aus der Thermoskanne Tee. Der Zug steht.

“Es ist wegen der Eisenbahnbrücke da vor uns“, meint eine Frau.
„Die haben Angst, dass einer ´ne Bombe aus dem Fenster wirft, wenn wir da oben sind.“
„Sa-bo-tage ... es gibt Unmengen von Sa-bo-teu-ren hier“, hört Minchen jemanden im überfüllten Abteil sagen.

Und so klein das Kind ist, weiß es schon: die Leute sprechen vom bösen Feind.


„Ich hab Bauchweh“, jammert Werner.

Als sie nach einer dreiviertel Stunde endlich losfahren, geht es nur ein paar hundert Meter weiter. Da bleibt der Zug, der ohnehin nur im Schneckentempo vorwärts kommt, schon wieder stehen, diesmal mitten über dem Fluss. Quietschend kommt er zum Halt ... auf einem fast frei in der Luft schwebenden Schienenstrang.
“O du meine Güte“,kreischt Lisa und schlägt die Hände vor die Augen.

Hermine sieht aus dem Fenster tief unten ein unsagbar breites, schwarzes Gewässer.
“Das ist der Rhein.“
“Wann fahren wir denn weiter?“, greint Werner aus seiner Coupé-Ecke.

Auf dem wackeligen Schienenstrang hoch über dem dunklen Strom hängen die Waggons fest. Rühren sich nicht zwischen Himmel und Erde. An der Seite nur dieses ziemlich lädierte, streichholzschwache Geländer. Aus Holz? Unten der Fluss. Der ganze Zug vibriert, weil die lockeren, metallenen Geleise schwanken. Dabei halten sich die Menschen auf ihren Sitzen ganz ruhig, wagen kaum zu atmen. Hermine staunt.

“Wirft jetzt einer die Bombe?“, will Werner wissen.

Irgendwann fahren sie aber doch. Meter für Meter schafft sich der Zug vorsichtig über die Eisenbahnbrücke, die keine mehr ist, sondern nur ein Notbehelf. Dann sind sie wieder auf festem Boden. Die Menschen saugen aufatmend die Luft ein. Erleichterung.

Aber kurz vor Mannheim müssen sie alle schlagartig aus den Waggons. Auf offener Strecke, wo es nur Landschaft gibt, Büsche, Gras.

Flieger!

Die Amis ( Engländer ?) greifen täglich Züge an.
“Es heißt, sie schonen die Zivilisten, aber wer weiß das schon?“
"Lauft Leute unten an die Böschungen, legt euch flach hin ... Hauptsache, so weit wie möglich weg vom Zug! Denn auf den sind sie aus!“

Aus der Ferne hört man Sirenen.

Sie liegen starr auf der Erde, die Alten, Frauen, Kinder. Angstvoll.

Nach Minuten verschwindet das Flugzeuggeschwader, das über sie hinzog, wie ein brummender Spuk in den Wolken.

“Los schnell zurück in den Zug“, wir müssen es bis Mannheim schaffen“, sagt jemand. Ein Schaffner? “In Mannheim ist ein Bunker!“

Während sie in die zerstörte Stadt hineinrollen, heulen in der Luft schon wieder die Sirenen.

Der Zug hält. Schnell raus aus den Abteilen ... laufen ... laufen. Lisa trägt die Reisetasche und zerrt an der anderen Hand Werner hinterher. Hermine ist es schlecht und es fällt ihr schwer, nah bei Lisa und Werner zu bleiben, mitten unter den vielen Leuten, die alle rennen. Zum Bunker ist es, Gott sei Dank, nicht weit.

„Beeilung. Vorwärts!“, rufen Uniformierte.
Natürlich ist das Gepäck im Zug geblieben.

Der Bunker liegt nicht unter, sondern über der Erde. Ein mächtiger Klotz aus Beton. Riesig. Ein mehrstöckiger Quader. Ohne Fenster. Innen Säle. Überfüllt mit Schutzsuchenden. Lisa und die Kinder werden über Treppen hochgetrieben.

Auch durchs zweite Stockwerk schiebt sie die nachdrängende Menge. Ein Chaos. Kinder schreien, Mütter zerren sie weiter.
“Hermine, bleib du neben mir, halt den Werner an der Hand fest und lass nicht los, verstehst du, sonst gehst du verloren“, ruft Lisa in dem ganzen Wirrwarr.

Da sind Krankenschwestern mit rotem Kreuz auf den Armbinden. Soldaten ( oder Polizisten?) schieben die Leute vorwärts ... dorthin, wo viele andere schon auf Pritschen und ausgebreiteten Decken auf dem Boden liegen.

Eine Stimme kommt laut aus der Decke - oder aus der Wand (?)
O Gott, wie komisch!
Von 'feindlichen Ge-schwa-dern' redet die knatternde Frauenstimme, "Bomber -ge-schwa-der, dringen in unseren Luft-raum“, sag sie, “Alli-ierte Ver-bän-de“... im An-flug, so ähnlich klingt es in Hermines Ohren und sie versteht mit ihren kaum fünf Jahren schon, um was es geht: Flugzeuge sind über ihnen ...

Man kann jetzt die 'feindlichen Verbände' in der Luft brummen hören. Die 'Geschwader'. Nach kurzer Zeit rummst es an allen Ecken und Enden. Dumpfe oder hellscheppernde Donnerschläge! Die Wände wackeln und der ganze Bau bebt. Man spürt, wie da draußen immer wieder etwas aufschlägt.

„Hier sind wir sicher“, sagt jemand, “die Wände sind hart wie Kruppstahl.“

Wenn das Rummsen zwischendurch einmal aufhört, reden die Leute merkwürdig ruhig miteinander.
“Wir sind ausgebombt“, sagt eine Frau, „und jetzt auf dem Weg zu Freunden in Würzburg."

Viele Leute sagen, dass sie alles verloren haben. Sie fahren, wie Lisa, zu Verwandten aufs Land oder in ganz fremde Gegenden, wo sie vielleicht eine Bleibe finden werden.

“Mannheim ... man traut seinen Augen nicht ... Trümmerfelder überall ... Ludwigshafen ebenso“, sagt jemand, “die machen jetzt alles dem Erdboden gleich!“

Oben prasseln die Bomben weiter.

Frauen in Uniform zwängen sich durch die Menschenmenge, verteilen Becher mit Kaffee und Tee. Dazu Margarinebrote.
Werner hat Bauchweh. Er heult, quängelt, muss aufs Klo, muss brechen.

Lisa ist plötzlich mit ihm verschwunden.

Da ist Herminchen allein unter lauter fremden Leuten, mitten im Geschnatter, Kleider- und Menschengestank. Es kann sich nicht rühren, ist eingeklemmt zwischen all den Erwachsenen. Da wird ihm schlecht, es kann nicht mehr auf den Beinen stehen.
Es wird ihm so eklig im Magen ...
im Kopf so schwindelig.
Gleich wird es umfallen.
Es spürt es kommen:
“Mama, Mama!“
O lieber Gott, alles geht von ihm weg,
es kriegt keine Luft mehr,
die Menschen, die Stimmen,
sie schwimmen davon in einem Nebel aus Grau.
Hermine hat schreckliche Angst.
Vor den Bomben überhaupt nicht.
Aber vor dem ´Umkippen.´
Da wird schon alles schwarz.
Da plumpst sie auf den Boden.
Fällt in das schwarze Loch.
Dann weiß sie nichts mehr...
Später ist Lisa über das Kind gebeugt und fremde Leute.

“Es ist wieder ohnmächtig geworden“, sagt Lisa, „so etwas bekommt das da oft.
Hermine ist jetzt auf einer Pritsche unter einer Decke. Vorhin war ihr ganz kalt. Jetzt wird ihr heiß, viel zu heiß. Lisa sagt: “Bleib du ganz ruhig liegen, am besten du rührst dich nicht!“

Aber die Hitze ist furchtbar, denn Hermine ist mit dem Gesicht nur ein paar Handbreit von einem sogenannten Bullerofen entfernt, einem alten, tonnenförmigen Metallding, das, mit Holz und Kohlen gefüttert, mächtig heizt. Kein Wunder, es muss den ganzen Saal warmhalten.
Hermine ... Kopf, Hals und Brust glühen furchtbar. Aber...
“Man kann die Pritsche nicht wegrücken, keinen Zentimeter“, sagt Lisa, “denn wohin damit? Der Raum ist zugestopft mit Matratzen und Menschen. Außerdem ist es jetzt tiefe Nacht und nur eine Notbeleuchtung flackert. Die Leute sind alle müde und schlafen. Also verhalte dich ruhig. Wir sind nicht allein hier“, flüstert Lisa.

Und die blöde Felddecke darf Hermine auch nicht herunterstrampeln, sonst würden sie und der Werner sich erkälten, meint Lisa.
Werner liegt auf derselben Pritsche, er aber mit den F ü ß e n in Richtung zum Ofen. Also mit seinen kleinen Schuhen fast in Hermines Gesicht. Dem Werner ist kalt. Er zittert wie Espenlaub. Und Hermine kommt fast um vor Hitze. Die Bomben draußen haben längst aufgehört, zu fallen, aber die Nacht geht nie vorbei.

Hermine hält es auf der Pritsche nicht länger aus, will aufstehen. Aber Lisa sagt:
“Stell´ dich bitte nicht an. Wir müssen dankbar sein, dass ihr zwei hier liegen könnt - diese nette Dame - sie deutet zu einer Frau hin, die neben ihr, Kopf im Schoß, auf dem Boden sitzt -, hat den Platz für euch freigemacht.“

Hermine geht es schlecht. Stunden um Stunden ist ihr so übel, dass sie es kaum aushält. Ewig dauert die Nacht. Und immer wieder schaufeln sie eimerweise Kohlen in den rot glühenden Ofen hinein.
Hermine möchte nur noch da weg, aber sie ist jetzt zu müd, zu matt, und außerdem passt Lisa auf, dass sie schön liegen bleibt. Geht die furchtbare Nacht denn nie zu Ende? Der Ofen bollert und glüht wie wahnsinnig.

Lisa trägt Werner ein paarmal aufs Klo, weil er brechen muss.
Und Hermine hat der Stiefmutter versprochen, lieb zu sein und brav liegenzubleiben, wenn die beiden fort sind. Ihr war noch nie im Leben so heiß und übel. Das wird sie nie mehr vergessen.


Am anderen Morgen ist ihr Zug HEIL. Obwohl andere Züge in der Nähe bombardiert wurden. Sie können sogar ein paar Stunden später schon weiterfahren.

Aber Lisas vier (!) Koffer sind weg. Die der anderen Leute auch. Gestohlen! Die Koffer standen nicht im Abteil, sondern auf offenen Plattformen zwischen den Waggons, hoch aufgetürmt, von Planen bedeckt, fest verzurrt, ein jeder mit Nummer und einem Zettel, auf dem der Name des Besitzers stand. Alles größere Gepäck hatte dort draußen bleiben müssen, damit es in den übervollen Abteilen den Reisenden nicht den Platz wegnahm. Und jetzt ist alles futsch.

“Solche Schweine! So ein diebisches Drecksgesindel ... unser Führer lässt sowas hinrichten, dieses Pack“, schreit eine Frau, „jetzt hab ich meine letzte Habe verloren.“
Lisa ist nicht so schlimm dran. Denn ihre meisten Sachen sind ja noch in Marienstock.
“In den Koffern waren mein hellgrauer Persianermantel, meine neuen Stiefel, eure ganzen KLEIDER, die Sommer- UND die Wintersachen, eure Bilderbücher, deine Puppe, Hermine, aber auch all die Spielzeuge, die das Christkind mir schon im Voraus für euch gegeben hat .“
Und dann zählt Lisa auf, was das Christkind ihnen an Weihnachten fast gebracht hätte und nun nie mehr ... Da waren ein Stempelkasten, ein Mal- und sogar ein Zauberkasten, Zeichenhefte, Farbstifte, bunte Perlen, um selber Ketten daraus zu basteln, eine Krippe mit Engeln, mit dem Jesulein und mindestens zwanzig Figürchen und ein Ka-lei-dos-kop in dem man immer neue herrlich bunte Bilder und Farben sehen kann“, verrät Lisa. Sie bereut aber im gleichen Augenblick, dass sie das gesagt hat.

Denn Hermine kann sich überhaupt nicht mehr beruhigen, denkt an all die Seligkeiten, die sie fast bekommen hätten und nun nie mehr kriegen werden. Die Enttäuschung treibt ihr heiße Tränen in die Augen und Gedanken an die verlorenen Sachen werden ihr noch lang schmerzvoll im Kopf herum kreisen.

Als die drei in München ankommen, herrscht dort tiefster Winter. Es ist viel kälter als in Marienstock und es liegt hoher Schnee. Vom Hauptbahnhof bis nach dem über hundert Kilometer entfernten Morgenau findet Lisa für sich und die Kinder in der frühen Nachmittagsdämmerung eine Mitfahrgelegenheit oben auf einem planenbedeckten Lastauto. Da klettern sie jetzt hinauf. Der Wind bläst gewaltig durch die aufgerissenen Stoffbahnen, die aneinander schlagen.
Werner geht es schlecht. Sein kleiner Körper glüht vor Fieber. Kaum in Morgenau angekommen, wird er schon ins Krankenhaus nach Hohenkirchen weitergeschafft. Es stellt sich heraus: der Blinddarm ist durchgebrochen. Er wird noch in der Nacht operiert.

*



GUT MORGENAU

Es leben zu der Zeit, als Lisa mit den Kindern ankommt, außer den Mägden und den deutschen Knechten, noch französische und russische Kriegsgefangene auf Morgenau, dazu zwölf ukrainische und zirka zwanzig polnische Fremdarbeiter, männliche und weibliche. Alle diese ausländischen Menschen schlafen, nach Nationalitäten und Geschlechtern getrennt, in rasch erbauten Baracken, die sich um die älteren Gebäude reihen.
Das Hauptgebäude liegt auf einem kleinen Hügel. Sie nennen es das ‚Herrenhaus‘.

Dort leben Lisas Stiefvater, also der Herr Verwalter, ihre Mutter Katharina und Lisas zwei jüngere Halbschwestern. Im großen Wirtschaftsgebäude nebenan wohnen einheimische Mägde, die quasi mit zur Familie gehören, sowie ein paar besonders zuverlässige ‚Ostarbeiterinnen‘. Sie teilen sich zu zweit, zu dritt ihre Kammern, Deutsche für sich, Ausländerinnen für sich.

Lisa und Hermine ziehen gleich ins Herrenhaus ein. Und der Werner natürlich auch, den man nach zwei Wochen aus dem Hospital zurückholt. Er ist wieder gesund. So munter wie eh und je.

Und Hermine?

Erstmal muss sie jeden Morgen einen Riesenbecher warme, frisch gemolkene Kuhmilch trinken. Da wird total aufgepasst, dass sie die auch ratzeputz austrinkt. Wo sie doch eigentlich überhaupt nichts frühstücken will. Und obwohl es ihr am Anfang von der Milch immer kotzübel wird. Aber da kommt sie nicht drum herum.
„Meine Mutter hat das angeordnet. Die weiß, was für Kinder gut ist!“, sagt Lisa.

Der Werner bekommt Malzkaffee und eine Semmel mit ganz dick Butter. Wenn Hermine die eitergelbe Fettigkeit sieht, die Resi, die Küchenfrau, ihm so dick aufs Brötchen streicht - und das am frühen Morgen - dann wird ihr davon auch schlecht. Aber die Milch ist ein größeres Übel. Als sie im Stall zum ersten Mal die überprallen Kuh-Euter vor sich hat, aus denen die Schweizer - so nennt man die Melker dort - mit ihren Fingern dieses Sämige, Weiße herausquetschen, das mit Gezisch in die Eimer spritzt und in derselben Zeit aus den Hintern der Tiere braune Platscher auf die Erde klatschen, da denkt Hermine, dass sie von dieser weißen Ekelbrühe nie mehr im Leben etwas wissen will ... und jetzt ...o je ... die Erwachsenen haben das Milchtrinken für sie beschlossen, weil sie so ‚elendig‘ ist, weil sie so oft ‚umfällt‘. Dadurch käme sie vielleicht wieder auf die Beine, hatte Lisas Mutter gemeint.


Natürlich geht es Hermine nicht jeden Tag schlecht. Langsam sogar ziemlich gut. Und sie kommt aus dem Staunen nicht heraus. So groß, so gewaltig ist hier alles. Selbst der Himmel ... höher, weiter und blauer als in Marienstock. Nur ... die vielen Leute auf Schritt und Tritt! Da wäre sie manchmal gern für sich allein. Aber überall hier begegnet man Menschen.

Der Verwalter des Gutshofes, Herr Vogt, ist Lisas Stiefvater. Lisas Mutter hat ihn in zweiter Ehe geheiratet. Da war Lisa noch ein Baby. Ihr richtiger Vater ist im ersten Weltkrieg, 1919, gefallen.

Herr Vogt hält sich tagsüber mit den Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen draußen im Wald oder auf den Feldern auf oder ist mit der Pferdekutsche, dem Landauer, unterwegs. Er leitet den Betrieb. Redet wenig. Ein großer, Ehrfurcht einflößender Mensch, sechzig Jahre alt, voller Falten im mageren Gesicht. Klein, kühl, hell sind die blauen Augen. Er arbeitet so hart wie die anderen, packt überall mit an.

Nur wenn ‚hohe Tiere‘ von der Partei vorbeikommen, kehrt er den Verwalter heraus, strafft sich militärisch, ist schroffer zu den Untergebenen, Respekt heischender als sonst. Auch lässt er die Gäste mit allem bewirten, was Küche und Keller hergeben. Und das ist eine Menge. Später schreitet er feierlich mit den Herren in seine Kanzlei nebenan, wo Abrechnungen nachgeprüft, landwirtschaftliche Probleme besprochen werden.
Graf Wiegald, dem der Hof und andere Güter in der Umgebung gehören, lässt sich hier nie sehen.
„Morgenau ist erst so wichtig geworden, seit Krieg ist“, hat Katharina einmal gesagt.


Im Küchentrakt arbeiten Halena und Raissa, zwei Ukrainerinnen, auch Sonja, Dunja und noch drei Frauen aus Polen. Dazu die Deutschen: Marie, Resi, Klara.

Auf Gut Morgenau wird viel angebaut, hier werden Tiere gezüchtet, hier wird wichtige Nahrung produziert.
Zum Heumachen und in der Erntezeit, an Einmach- oder Wursttagen kommen hin und wieder auch Bäuerinnen, Tagelöhnerinnen, aus der Umgebung.

Die Verwaltersgattin auf Morgenau, Katharina Vogt also - sie wird von allen Leuten nur die ‚Frau‘ genannt - ist groß, mager und sehnig wie ihr Mann, mit glatt zurückgestecktem, schwarzem, von grauen Strähnen durchzogenem Haar, einem oft müden, manchmal mürrischen Gesicht. Sie ist achtundvierzig Jahre und eigentlich alt. Immer ist sie ernst ... so, als wären ihr das Lachen und das Lächeln längst vergangen.

Sie beaufsichtigt das Hauspersonal, bekocht und verköstigt zusammen mit den Mägden auch die vielen Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen, mit denen das Hofgut zunehmend überschwemmt wird.

Katharina kommt selten zur Ruhe. Die ‚Frau‘ macht beim Hühnerschlachten mit, päppelt die jungen Enten mit Brennesselbrei auf. In der Waschküche, an den riesigen Waschkesseln, in denen täglich Weißwäsche gekocht wird, steht sie neben den Fremdarbeiterinnen, hilft mit, wenn man das Leinen auf dem Rasen zum Bleichen ausbreitet, bestimmt die tagtäglichen Mahlzeiten für alle, schält selbst Kartoffeln, legt Hand an bei dem, was in Töpfen und Pfannen gebrutzelt wird ... und sie verarztet die Leute bei kleineren Krankheiten und Gebrechen.

„Diese Franzosen ... manchmal glaub ich, sie verstümmeln sich absichtlich“, murmelt Marie, die Küchenhilfe, denn:
„Merde alors“, hört man Eugene gerade rufen: „meine Kumpel at sich schwer verletzt, Frau.“
Schon ist Katharina in der Baracke bei dem Stöhnenden. Lässt sich vom Unfall berichten. Redet dem Mann gut zu. Ja, sein Bein ist gebrochen. Sie gibt ihm ein Gläschen Schnaps zur Beruhigung.
„Der Kutscher wird dich sofort ins Krankenhaus fahren, Jean Pierre“, ordnet sie an. „Und du begleitest ihn, Eugene.“

„Frau ... Frau“. Die ‚Frau‘ befiehlt. Die ‚Frau‘ schuftet. Sie ist beim Brotbacken dabei, beim Wurstmachen, Marmelade-Einkochen, Pilze -Trocknen, bei hundert anderen Verrichtungen. Die ‚Frau‘ arbeitet sieben Tage die Woche von fünf Uhr in der Früh bis zehn auf d‘ Nacht.

Und Lisas zwei Halbschwestern, die auch da wohnen? Die „gnädigen Fräuleins“, werden sie von den Leuten auf Morgenau betitelt. Die jüngere, die Monika, ist SCHÖN mit allen dazugehörigen Attributen: schulterlang ihr weizenblondes Haar und leuchtend wie Mondschein. Monika mit ihrer hohen, schlanken Gestalt, dazu dem herben Gesicht eines eigenwilligen, robusten Geschöpfes. Die Augen klar, blau, voller Willenskraft. Wenn die Dienstmägde über sie reden, dann mit Bewunderung. Oder Neid: „die Prinzessin.“
“Letztes Weihnachten hat sie in der Christmette in Hohenkirchen die Muttergottes gespielt“, erzählt jemand.
“Da haben die Leute aber gestarrt. So eine schöne Maria haben die noch nie gesehen!“
„Na ja, hübsch IST sie ja!“ sagt Resi.

Monika ist auch schweigsam. Mit den Mägden spricht sie kaum. Auch an Werner und Hermine hat sie bis jetzt nur wenige Worte verschwendet.

“Der Bub, der den Josef spielte, war mächtig in das gnädige Fräulein verschossen“, sagt Resi, “aber ein Bauernbursch ist er halt, wo doch sie in München studiert und nur mit feinen Söhnen verkehrt.“
„Herumgeschmust hat sie aber SCHON mit ihm, draußen im Gang. Ich hab es gesehen“, meint Klara. „Er hat sie auch ein paarmal hier besucht ... Nachher wollt sie nix mehr von ihm wissen.“
„Der arme Kerl lief dann und meldete sich zur Wehrmacht. Mit gerade erst achtzehn.“
„Wegen dem gnädigen Fräulein hat der das nicht getan. Glaub ich nicht!“
„Sondern?“
Für‘s VATERLAND! Freiwillig hat der sich gemeldet ... und gleich ging‘s ab mit ihm an die Ostfront!“
“Hah ... wird er dort sterben“, sagt Halena, die Ukrainerin.

Das zweite „Fräulein“ heißt Agnes. „Obwohl ... ein Fräulein is die net, eher ein bleiches, heimtückisches Biest, eine, die niemand durchschauen kann ... die is schon eine rechte Hexen“, meint Marie grinsend, “ganz eine Böse...“
“Ach was“, ruft Resi, “ein armes Hascherl ist‘s ...“

Die Agnes duckt sich immer, wenn man sie ansieht, als hätte sie etwas Schlimmes ausgefressen. Und schön ist die nicht: große, gelbe Zähne, lange Nase im dürren Gesicht ... dunkel brennende Augen. Ein brauner, dünner Haarknoten hinten am Kopf und dazu fettige Strähnen, die sich immer aus dem Dutt lösen und ihr stracks vor dem Gesicht hängen.

Die Agnes kann nicht gehen. Eine Fortbewegung schafft sie aber halbwegs, wenn sie ein wuchtiges Gestell aus Metall mit vier Rädern vor sich herschiebt, sich mit den Armen darauf stützt und die Beine irgendwie nachzieht. Das kann sie jedoch nur draußen, im Freien, machen.

“Als Kind haben sie sie oft operiert“, erzählt Lisa einmal der Resi. Hermine hört es zufällig.
“Eigentlich sollten die ihr im Hospital nur die Hüfte richten - die war von Geburt an schief - , aber sie haben ihre ganze Person ruiniert, auch, weil die Arme fast drei Jahre in einem Gipsbett hat liegen müssen.“

“In einem Gipsbett!“, echot Herminchen.

“Ja, die Haare hat sie sich büschelweise ausgerauft vor Pein“, sagt Lisa, “und jetzt ist sie UNNORMAL, wird halt manchmal ein bisserl boshaft und schreit die Leute zusammen!“

Die Agnes schafft es sogar, aus eigener Kraft ein paar Meter weit zu kommen, aber nur, wenn da Möbelstücke sind, an denen sie sich festhalten und vorwärts ziehen kann. Deshalb taucht sie plötzlich irgendwo auf, wo niemand sie vermutet. Da erschrickt man schon, wenn sie plötzlich lautlos wie ein Schatten vor einem steht. Dass sie sich nachts heimlich an den Wänden von Korridor zu Korridor schiebe, ja sogar an den Geländern entlang durchs Treppenhaus hangele, tuscheln die Mägde.

*

Zirka vier Wochen nach der Ankunft auf Gut Morgenau geht Lisa ins Krankenhaus nach Hohenkirchen und bringt dort ihr erstes Kind auf die Welt, den Maxl. Seinen Namen bekommt er von Maximilian ... so hieß Lisas Vater, der im Grab bei Verdun in Frankreich liegt.

Der Neugeborene ist natürlich der schönste Säugling, der je auf Morgenau gesichtet wurde. Da sind sich alle einig. Lediglich der Herr Verwalter hält sich aus der allgemeinen Euphorie etwas heraus.

Es kommt der Frühling. Das Maxl-Baby liegt jeden Tag gut eingekuschelt, mit Mützchen und Steppdecke geschützt, in seinem spitzenrüschenbesetzten Stubenwagen im Garten unter einem weißen Fliederbaum. Lisa sitzt meistens dabei, häkelt oder liest ein Buch. Die deutschen und ausländischen Mägde kommen oft her und: „Dududududu ...dididididi ... du-bist-aber-süß ... dududududu ... du-schöner-Bub-du ...“ plappern und gestikulieren sie ... Was soll man auch sonst zu einem so winzigen Kerlchen sagen? Dudududududu ...Der Kleine streckt allen die Ärmchen entgegen, quiekt stolz und lacht jedem freundlich in die Augen.

Lisa wird übrigens von den Leuten hier „gnädige Frau“ genannt, während ihre Mutter, Katharina, die eigentlich eine viel größere Rolle spielt, nur ‚die F r a u‘ ist.

Eines Tages passiert etwas Merkwürdiges. Die Marie hört den Maxl schreien. Anders schreit er als sonst.
„So, als ging‘s ihm ans Leder“, wird sie später sagen. Marie stürzt also ins Zimmer, reißt die Agnes weg, die mit der großen, spitzen Schere vor seinem Kinderbettchen herumfuchtelt.
Die hatte so ein Glitzern in den Augen. „Ich bring ihn um“, habe sie gefaucht, die Verrückte, erzählt Marie.
„Aber warum?“
“Sie ist halt eifersüchtig auf die gnä - Frau, weil die einen so gesunden Buben hat und einen Offizier als Mann, und sie hat halt gar nix“, mutmaßt die Resi.

*



IN MORGENAU TÖTEN SIE TIERE

Die deutschen Arbeiterinnen, die Polinnen und Ukrainerinnen essen in der Küche des Wirtschaftsgebäudes, die Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen gleich nebenan in der sogenannten Knechtekammer, einem winzigen, schlauchförmigen Kabäuschen, das früher für ein halbes Dutzend Leute gedacht war. Da müssen aber nun über vierzig Mann verköstigt werden. Das geht nur in getrennten Gruppen vor sich.

Als erste sind die deutschen Knechte dran. Sie kommen morgens um fünf, mittags um halb zwölf und abends um sechs und haben genau 25 Minuten Zeit, um jeweils die Mahlzeit einzunehmen, dann rumpelt die nächste Gruppe herein: die Polen. Später in Reih und Glied mit ihrem Bewacher der Trupp der russischen Kriegsgefangenen. Danach die ukrainischen Fremdarbeiter. Dann die gefangenen Franzosen.

Hermine beobachtet aus gebührender Entfernung die Männer und ihren lärmenden, holprigen Auftritt. Sie mag die tiefen, dunklen Stimmen, die Sprachen, die sie nicht versteht. Mag das Aroma ihrer Tabake.
Nie entgeht dem Kind das Rumoren, Schieben, Stiefelgetrampel ...


Die Männer wuchten sich also zu beiden Seiten des einzigen Tisches auf zwei lange Holzbänke. So eingepfercht, passen bis zu acht Leute auf je eine Bank. Hat jemand erst einmal Platz genommen, kann er nur dann wieder den Raum verlassen, wenn alle anderen, die näher an der Tür sitzen, aufstehen und ebenfalls hinausgehen. So eng ist es.

In Morgenau wird zwar hart gearbeitet, aber niemand muss hungern. Sagt der Herr Verwalter auch immer. Zum Frühstück gibt es eine Semmel mit Butter, ein Stück Streichwurst, Speck, heiße Suppe. Körbchen mit frischem Brot stehen immer auf dem Tisch und werden nachgefüllt, wenn sie leer sind. Ebenso wie die Blechkannen mit dampfendem Malzkaffee. Auch Rübenzucker und Milch ist genug da.
Mittags ist das Essen noch besser. Fleisch oder Wurst gibt es jeden Tag, Kartoffeln und Soße auch.

Eine Magd stellt von der Küche her die gefüllten Teller in eine kleine Durchreiche und so werden sie dann der Reihe nach in der Knechtekammer über den Tisch geschoben und verteilt.
Früher, als die Leute sich ihre Portionen selbst bei den Köchinnen abholten, haben die Frauen ihren jeweiligen Schätzchen immer die größten Portionen zugeschustert. Das gab böses Blut. Bis der Herr Verwalter anordnete, eine Öffnung in die Wand zwischen Küche und Essraum zu brechen. So entstand die Durchreiche.
Seither bleibt den Männern die Zugangstür zu Fleischtöpfen und Weiberleuten verschlossen. Schade. Kein Plausch und Techtel-Mechtel mehr am Kochherd.
Dafür geht es jetzt gerechter zu. Keiner kann sich eine größere Portion Fleisch ergaunern, weil er sich besonders gut mit der Betörung weiblicher Herzen auskennt. Nein, jetzt wird für niemanden mehr eine Extrawurst gebraten.


So gegen drei Uhr nachmittags, wenn die Fütterung sämtlicher Raubtiere - laut Resi - vorbei ist, wenn Klara in der Knechtekammer das letzte Geschirr abgeräumt, die herabgefallenen Essensreste weggekehrt, die Dielen geschrubbt, dann auf Knien über die Bänke rutschend, mit Wurzelbürste und Schmierseife auch noch den Tisch blank gescheuert hat, wenn der Raum endlich sauber und verlassen daliegt, schleichen Hermine und Werner hinein.

Es ist soo gemütlich in der engen Koje mit Wänden und Decke aus braunem Holz. Und da ist der GERUCH. Die Mägde können noch soviel putzen, lüften, es riecht immer nach Männern, Schweiß, feuchten Kleidern, nach Pfeifentabak und ...
“Russenfürzen“, sagt Werner und kichert.

Bei schlechtem Wetter hält sich Hermine am allerliebsten in dieser Knechtekammer auf. Sie mag gern, wie es hier riecht.
Während das Herrenhaus ein Stück entfernt auf einer Anhöhe steht, liegt dieser kleine Raum im Erdgeschoss eines der Wirtschaftsgebäude, sodass man vom Fenster aus das Treiben draußen im Hof gut überblicken kann.
Die Kinder müssen nur mucksmäuschenstill sein, damit niemand merkt, dass sie da drin sind. Sonst würden sie nämlich am Schlawittchen gepackt und schnell hinausgeworfen.


Vor dem Haus werden die Tiere - hauptsächlich Stiere und Rinder - auf die Waage getrieben. So eine komische Waage ... eine in die Erde eingelassene, große Eisenplatte. Wie funktioniert sowas nur? Ein Geheimnis, das weder die Stiefmutter, noch die Mägde Hermine erklären können.

Weiter hinten, gegen die Felder zu, sind der Kuh- und Pferdestall, dann die Schweinekoben, die Hühner- Enten- Gänsegehege.

Wenn es geregnet hat, wenn das Fenster der Knechtekammer weit offen steht, kommt der Geruch von aufgepflügter Erde, von nassem Laub und frisch gemähtem Gras herein. Es ist alles wie verzaubert nach dem Sommerregen. Hermine saugt die Lungen voll mit reiner Luft. Und immer hört man das Muhen der Kühe aus der Entfernung. Dazu das helle Pferdewiehern. Alles passt hier gut zusammen. Alles hat so eine ... Ordnung. Hier fühlt man sich geborgen.


Auf Gut Morgenau stehen hundertachtzig Rindviecher im Stall.

O je, so viele ... so weit kann Hermine ja nicht einmal zählen!

Am interessantesten sind die vier Stiere. Riesige Ungetüme. Bäumen sich in ihren Verschlägen. Wollen sich ständig losreißen. Stoßen wild mit den Köpfen um sich. Blicken mit rot unterlaufenen, kleinen Augen. Wüten, zerren, reißen an ihren Ketten. Das Klirren und Rasseln und ihr dunkles Gebrüll dröhnt über den Hof.

Es liegt ein riesiger Misthaufen zwischen den Gebäuden. Auf dem laufen viele schmale Holzplanken wie sich kreuzende Straßen. Über diese wackeligen Planken schaffen die Knechte jeden Tag mit ihren Schubkarren den Mist aus den Ställen. Nicht einfach i r g e n d w o, nein, an ganz bestimmten Punkten wird er ausgekippt. Es gibt da anscheinend Gesetze. So dirigieren die Knechte ihre hoch getürmten Karren geübt in komplizierten Schleifen über die schwankenden Holzplanken, bis sie den richtigen Platz zum Ausleeren der stinkigen Last gefunden haben.
Gespannt beobachten die Kinder das Treiben der Männer. Irgendwann muss einer doch mit so einer Karre, die nur e i n Rad hat, ausrutschen und in den dampfenden, braun-gelben, strohpieksigen Brei fallen ... Darauf lauern Werner und Hermine. Aber so etwas passiert den Männern nie! Den Kindern am Anfang auch nicht. Öfter spielen sie mit ein paar Tagelöhnerjungen auf den Planken des Misthaufens Nachlaufen und Fangen. Das macht Spaß. Man muss nur höllisch aufpassen, dass man nicht ausglitscht ... Aber das ist nur eine Frage von wenigen Tagen. Irgendwann landen die zwei Geschwister kreischend in dem jauchigen Scheißdreck. Da werden sie dann abgeschrubbt und ganz schnell für immer von diesem interessanten Spielplatz verbannt.

*
Eines Tages hört Hermine ein lautes, erbärmliches Quieken ... sieht dann gerade noch durchs Fenster der Knechtekammer, wie Männer ein rosa Schweinchen übers Pflaster zerren. Einer hält es beim Schwanz, während ein anderer mit einem Messer ...

Dann plötzliche Stille. Eben noch das schreckliche Gequieke ... nun schlagartig vorbei! Es hilft Minchen nix, dass es sich vom Fenster wegdreht, die Augen zupresst ... denn draußen beginnen schon wieder diese toderschreckten Töne und immer wieder dazu Männerlachen. Hermine ahnt Fürchterliches, ... will das nicht hören. Flüchtet ins Kellergeschoss, in die Waschküche. Stumm sitzt sie dann zwischen Kochkesseln und Zubern. Ihr ist schlecht, schlecht. Ach ... und dann ist da noch die graue, steingemauerte Wanne, in der matt ein paar fette Karpfen herumschwimmen. Sie weiß inzwischen, die sind ein paar Tage hier im klaren Wasser, bis sie ihren Modergeruch vom Teich verlieren, dann werden auch sie geschlachtet!

Nach einer halben Stunde schleicht Hermine auf den Hof hinaus, weil man den ja überqueren muss, wenn man zurück ins Herrenhaus will. Und sie meint, alles wäre vorüber. Oder vielleicht auch überhaupt nicht wahr gewesen ... nur ein böser Traum. Aber da sind Männer mit Wasserschlauch und Besen gerade dabei, blutige Pfützen und Därme vom Pflaster wegzuspritzen, wegzukehren. Und sie zeigen den Kindern komische, runde Dinger ... wie aus Pergament sind die und von lauter roten, noch blutigen Äderchen durchzogen. Sie stinken ekelhaft süß. Nach Pisse. Dann pustet jemand Luft in so einen schlaffen Beutel, er wird dick wie ein Ballon. Eine Schweinsblase.

“Willst du so eine haben?“, fragt ein Knecht grinsend, “so zum Spielen!“.

Da wird Hermine schlecht. Fast fällt sie schon wieder einmal um.


Werner und die Tagelöhnerbuben aber greifen sich die Dinger und rennen unter Triumphgeheul davon.


*

Monate später, als Hermine mit ihrer Schiefertafel in der Esskammer sitzt und Buchstaben malt, wie Marie es ihr beigebracht hat, da schaut sie aus Gewohnheit zufällig durchs geschlossene Fenster und sieht ein paar Männer, die gerade eine Kuh über den Hof zerren. Sie muht leise, dunkel, wie Kühe immer muhen. Sie hat einen Strick um den Hals.
„Also geht‘s auf die Waage“, denkt Hermine. In eben der gleichen Sekunde haut aber ein Knecht der Kuh mit einem dicken Hammer, ( oder ist es ein umgedrehtes Beil? ) über die Stirn. Das Kind hat keine Zeit mehr, wegzugucken. Die Augen des Tieres blicken voller E r s t a u n e n genau in die seinen.
Der mächtige Körper bricht zuerst auf den Vorderbeinen zusammen. Noch muht die Kuh. Da haut ihr der Knecht wieder mit diesem Ding über die Stirn. Die Kuh stürzt vollends hin. Ist auf einmal nur ein großer Haufen Fleisch, ein Brocken Fleisch und Fell da auf dem Pflaster. Hermine hat alles gesehen. Sie presst ihren Kopf auf die Tischplatte. Ihr wird schwindelig. Schwarz vor Augen.

Hermine hat den Moment gesehen, in dem ein Wesen starb. Den Moment zwischen Leben und Tod. Sah die Augen des Tieres ‚brechen‘. wie die Erwachsenen das nennen. Und sie hat es voll begriffen.

Am nächsten Morgen nach dem Aufstehen, beim Zähneputzen, kippt die Kleine wieder einmal um.
„Dieses Kind ist einfach nicht gesund“, sagt Katharina, „wenn man nur herausbekäme, was ihm fehlt.“

„Das war nicht so schlimm ... das Tier hat nicht groß gelitten. Schlachten ist etwas Natürliches“, sagt Klara später zu Hermine.

Etwas Natürliches? Aber der Tod? Der Tod?

*



EINE SCHÖN GEORDNETE WELT

Werner und Hermine dürfen mit den Verwaltersleuten am großen Tisch im Herrenhaus zu Mittag essen. Das hört sich selbstverständlich an, ist es aber nicht. Da gab es lange Diskussionen vorher und zuerst haben die Kinder im Wirtschaftsgebäude in der Küche mit Resi und den Mägden ihre Mahlzeiten bekommen. Denn der Herr Verwalter wollte sie nicht mit bei der Familie haben.
„Das kannst du doch nicht machen“, hatte Katharina gesagt, „die zwei gehören nun einmal zu Lisa ... und damit zu uns, da beißt die Maus keinen Faden ab.“
Endlich hatte die Frau sich durchgesetzt.

Ihr Mann redet aber kaum ein Wort mit den Kindern, die ihm jetzt täglich gegenüber sitzen. Er weiß es ja selbst ... mit so kleinen Wesen kann er nicht umgehen, und mit diesen beiden schon gleich gar nicht. Er hat Lisas Heirat von Anfang an missbilligt.

„Warum um alles in der Welt musstest du, Mädel, dich ausgerechnet mit einem PREUßEN einlassen?“, hatte er an dem eiskalten Winterabend gemurmelt, als sie und die beiden Kinder, mehr tot als lebendig, zur Tür hereingetaumelt waren. Lisa hatte den wuchtigen, schwangeren Bauch vor sich her geschoben. Hermine, dieses hauchdürre, kleine Ding, war ein paar Minuten später schon beim Auslöffeln einer Nudelsuppe ‚umgekippt‘. Das Wernerchen hatte vor Fieber geglüht und das waren ja dann bei ihm auch die Vorboten des Blinddarmdurchbruchs gewesen.

„Du und Dein Saupreiß, dein grauslicher“, hatte der Verwalter am Anfang gerufen und er hatte getan, als meine er es im Scherz, doch im Inneren war er traurig und verletzt. Na ja, vorgeschobene Bayern-Preußen-Animositäten sorgten damals für Witzstoff, man amüsierte sich damit, doch ER war nicht zum Scherzen aufgelegt. Er musste einfach ein Ventil für seinen Ärger finden, für seine Wut auf Lisas unbekannten Ehemann, diesen Witwer, der sich ihm nie vorgestellt, sie prompt geschwängert und ihr noch seine zwei hilflosen Waisen aufgehalst hatte, bevor er an die Ostfront verschwand und nicht mehr gesehen ward.
“Der soll mir nur NIEMALS über den Weg laufen, der Hallodri, der preißische ...“

‚Eifersüchtig ist er, der alte Tropf‘, denkt Katharina. Diese seine verworrene Liebe zu ihrer Lisa - seiner Ziehtochter - hatte sie von Anfang an gespürt. Eine nie eingestandene, nie gelebte Liebe.
„Wer blickt schon ins Herz dieses Kauzes.“

Der Verwalter hat also beschlossen, den ungebetenen Schwiegersohn, sollte er denn einmal auftauchen, einfach zu ignorieren. Die zwei ihm hier untergeschobenen Quasi-Enkel ignoriert er schon jetzt gründlich.

*

Das einzige, unwandelbare, unumstößliche Ereignis auf Morgenau ist das tägliche Mittagessen. Die anderen Mahlzeiten zählen nicht, man lässt sich irgend etwas bringen, da, wo man sich gerade aufhält. Die Kinder frühstücken morgens bei den Mägden in der Küche und bekommen abends dort auch ihren Brei.

Das Mittagsmahl aber wird im ‚schwarzen Salon‘, dem Speisezimmer im ersten Stock des Herrenhauses geradezu zelebriert. Es beginnt pünktlich um halb eins. Ein Gong ertönt und wehe, man kommt zu spät!

Augenweide ist ein mächtiger, ovaler Tisch und seine Platte aus Ebenholz so glatt und glänzend, dass man sich wie in einem Spiegel darin sehen kann. Die Stühle, mit schwarzem Leder gepolstert, haben hohe Lehnen, die sogar ein Stück über die Köpfe der Erwachsenen hinausragen. Die Kinder passen da nicht so richtig hin, weil alles riesenhaft und wuchtig ist in dem Raum. So sitzen die zwei dann dort ... sehr klein ... und mucksmäuschenstill. Die Anderen am Tisch sind: Lisa, der Herr Verwalter, Katharina , die beiden gnädigen Fräuleins Monika und Agnes.
Oft sind Gäste da, der Mon-sig-nore vom Pfarrhaus nebenan kommt fast täglich. - Gut Morgenau hat eine eigene Kapelle und einen eigenen Priester. Die Frau Äbtissin der Blindenschule aus Hohenkirchen macht auch manchmal ausgerechnet zur Mittagszeit ihren Besuch, Schwester Pia heißt sie und bringt noch eine oder zwei Klosterfrauen mit. Auch Freunde der Familie kommen häufig bis von Ingolstadt herüber und schlemmen sich satt. In den Läden gibt es ja kaum mehr etwas Essbares zu kaufen.

Hermine staunt, wie vornehm hier alles zugeht: Das Besteck ist aus Silber, das Geschirr aus weißem Porzellan mit silbernen Rändern. Und jeder hat in einem schönen Ring seine eigene weiße Tuchserviette neben dem Teller liegen. Täglich ist da eine frische.
Die Holzdielen riechen ganz sauber und frisch nach Bohnerwachs. Und bei fast jedem Wetter stehen die riesigen, hohen Fenster weit offen, dass die Luft aus Wiesen und Wäldern hereinweht.


Es schmeckt hier immer wunderbar. Es gibt zartes, feines Kalbfleisch. Oder auch Gulasch, Hühnchenschenkel. Dazu Salzkartoffeln und Spätzle. Lauter gute Sachen. Oder in Butter gebratene Pfifferlinge. Und dann erst die weichen DAMPFNUDELN mit süßer, gebräunter Vanille-Soße darüber - hmm... daran könnte Hermine sich totessen - Und ROHRNUDELN hmm, die ebenso wie die Dampfnudeln gar keine Nudeln sind, sondern ein viereckiges, knuspriges Hefebackwerk, das in der Küche auf riesigen Blechen massenhaft aus dem Ofen kommt.

Ja, das Essen in Morgenau ist gut. Es gibt auch immer Nachspeise: Himbeer- oder Erdbeerpudding, Mirabellen-, Kirschen-, Birnenkompott. Hefekranz mit Rosinen. Und Zwetschgenkuchen ... o jammi... Manchmal ein Stück süße Torte. Hmm, hmm.

Die Speisen werden von Marie serviert, die dann ein weißes Spitzenschürzchen umgebunden hat und ein kleines, niedliches Häubchen auf dem Kopf trägt und richtig schön in die ganze Vornehmheit hineinpasst.

Die Kinder müssen mit Messer und Gabel essen lernen. „Ein Herumgeschlabbere und Gesudel am Tisch gibt es hier nicht“, sagt Lisa und der Herr Verwalter schaut streng und düster und passt ständig auf.

Der Raum hat auf einer Seite ein Podest, darauf steht ein pechschwarzer Flü-gel, auf dem spielt Monika manchmal den Gästen etwas vor. Aber nur Sachen, die Hermine und Werner noch nie gehört haben. Von Schoping und Rach-mi-na-koff. Das sind keine schönen, bekannten Lieder. Keine zum Mitsingen. Es ist langweilig.
Aber Rauslaufen geht nicht.

„Hiergeblieben, ihr zwei!“
Ja, Kinder dürfen erst aufstehen, wenn die Erwachsenen das Zimmer verlassen haben.
*

Bei all dem guten Essen ... ein Wermutstropfen bleibt für Hermine. Denn manchmal gibt es HIRN. Dem Kind dreht sich der Magen um bei dieser ‚Spezialität‘. Eínmal hat es nämlich gesehen, wie Resi in der Küche das grauweiße, waberige, gekröselte Zeug aus einem aufgeschlagenen Kalbskopf herausgeholt hat. Wie es dann grauslich in einer Schüssel geschwommen ist. Hermine krümmte sich vor Ekel ... Es wird ihr so elend dann beim Anblick des Hirns auf ihrem Teller, dass sie gleich brechen laufen muss und fast wieder ohnmächtig geworden wäre.
Aber:
„Was auf den Tisch kommt, wird gegessen, vor allem in diesen schlimmen Zeiten, wo so viele Menschen hungern!“, sagt Katharina.

Hermine macht die Augen zu, stellt sich vor, das Gehirn wäre Rührei, obwohl das kaum was hilft, weil es ja nicht stimmt. Gehirn zu essen ist das Schlimmste, was einem Kind passieren kann. Es bricht in Schweiß aus und in Tränen, der Magen rebelliert furchtbar, die Augen treten ihm aus dem Kopf.
„Also ... so ein Theater gibt es hier nicht“, sagt Lisa.
Ja, das Zeug MUSS hinuntergewürgt werden.


Aber alle andere Nahrung in Morgenau - außer der Kuhmilch - schmeckt Hermine gut. Vor allem der knusprige Gänsebraten. Hmm ... hmm ... fein.

Beim Geflügelschlachten ist sie zum Glück noch nicht dabei gewesen!

*



JETZT ERSCHEINT AUCH NOCH DIE MUTTER GOTTES

Eines Tages bekommt Hermine einen Mai-Altar. Die Frau holt aus einer Holzschatulle all die schönen, kostbaren Sachen heraus, die man dafür braucht und zeigt ihr, wie man ihn herrichtet. Im Zimmer, wo die beiden Kinder schlafen, ist auf der Kommode ein guter Platz dafür.

Hermine ist eine Weile wie entrückt. Ihr gefällt die kleine weiße Muttergottesstatue aus Porzellan mit der Blütenkrone ... die Maienkönigin. Diese steht jetzt in der Mitte des Möbelstücks auf einem Spitzendeckchen. Und um sie herum die vielen silbern gerahmten Heiligenbildchen, nicht viel größer als eine Briefmarke und die winzigen Engelfiguren mit den lieblichen Gesichtern ... die sind ja sooo süß.
In ein Dutzend Blumenväschen, nicht größer als Eierbecher oder Fingerhüte, stellt Hermine jetzt jeden Tag neue Anemonen, Schlüsselblumen, Veilchen. Dann verharrt sie lange atemlos vor dem Maialtar und betrachtet ihr Werk.

Die strohhalmdünnen, weißen Kerzen brennen in niedlichen, verschnörkelten Kerzenständern aus Kristall. Das Ganze gefällt Hermine über alle Maßen. So gut, dass sie meistens gar nicht abwarten kann, bis der Abend kommt, sondern öfter am Tag hinrennt und die lindgrünen, winzigen Kerzen in ihren schillernden Leuchtern anzündet. Die Blumen, Engel, Bildchen ordnet sie ständig neu um und richtet alles immer wieder noch schöner her.


Die Frau und Lisa lächeln sich gegenseitig zu, als sie sehen, wie gern sich das kleine Mädchen mit dem Mai-Altar beschäftigt.
“Hätte ich ihm nicht zugetraut“, sagt die Stiefmutter.

Aber irgendwann wird dem Minchen die Sache langweilig. Es ist sogar ein bisschen erleichtert, als die heiligen Dinge am Ende des Monats Mai wieder in der Schachtel verschwinden und weggeräumt werden.

Wirkliche Nähe zu Maria spürt Lisas Töchterchen nämlich nicht. Es merkt - so jung es ist - dass ihm da irgendwie etwas fehlt. Seine neue Mama und die Katharina erwarten von ihm, was es nicht hat: Frömmigkeit, richtige Liebe zur heiligen Mutter Gottes. Nein, die spürt es nicht ...

Aber ein paar Tage später am helllichten Morgen, als sie im Erkerzimmer gerade einmal so aus dem Fenster schaut, erblickt Hermine auf einmal ... Maria. Mit dem Jesuskind auf dem Arm schwebt sie am Himmel, hoch über den Äckern von Morgenau. Das Herrenhaus steht nämlich auf einem Hügel und man kann weit über das Land sehen.

Die Muttergottes ist in einen wunderbaren, blauen Mantel gehüllt, der reicht bis zur Erde. Sie lächelt rosig und so schön wie ein gedrucktes Heiligenbildchen aus dem Gebetbuch. Ihr blauer Mantel deckt den ganzen Himmel zu. Das Kind starrt verwundert hin ... da ist sie schon wieder verschwunden.

Hermine rennt ganz schnell zu Lisa, denn sie kann es gar nicht für sich behalten. Sie stottert aber, weil es doch seltsam ist und kaum zu glauben, dass gerade sie so etwas gesehen hat. Und gesehen hat sie Maria. Daran gibt es nichts zu zweifeln. Obwohl sie doch kein braves Kind ist und die heilige Jungfrau sonst nur den wirklich Guten erscheint, wie damals in Fatima oder Lourdes.

Aber ... Hermine glaubt der Stiefmutter nicht, als die sagt, sie hätte das einfach nur geträumt... Wo sie doch am Fenster GESTANDEN ist und nicht geschlafen hat! Und Träume sind sowieso ANDERS. Sie weiß, dass Träume anders sind. Sie hat schon oft geträumt. Aber diesmal ... Alles ist so wahr gewesen, so wirklich, das Gesicht der Muttergottes so ... lebendig.

Und dass sie ihr jetzt erschienen ist, daran glaubt Hermine fest. Und dass sie wunderschön und ganz freundlich ist, hat sie ja gesehen. Deswegen fühlt sie sich aber nicht froher oder frömmer als vorher. Innen drin hat sie Maria jetzt auch kein bisschen lieber. Das ist alles ... ziemlich komisch !


*




12
EVAKUIERUNG 2


was vorherging:
Hermine wird 1939 geboren. Als sie ungefähr 1 Jahr alt ist, bei der Geburt des Bruders Werner, stirbt ihre Mutter. Die Kleine wächst mit Haushälterinnen, später bei einer Tante auf. Der Vater ist ständig im Krieg. Nachdem er 1943 während eines Urlaubs wieder geheiratet hat, kommt Hermine nach Marienstock zu Lisa, der ‚zweiten Mutter‘. Dort trifft sie auch mit dem ihr bis dahin unbekannten Bruder, Werner, zusammen. Papa ist noch immer an der Front.
1944 fährt Lisa mit den beiden Stiefkindern in die ‚Evakuierung‘ nach Bayern. Lisas Mutter ist dort verheiratet mit dem Verwalter des Gutshofes Morgenau. Nach der Zugfahrt durchs zerstörte Deutschland kommen sie auf dem Hof an. Dort wohnen noch Lisas zwei Halbschwestern Agnes und Monika, auch Mägde, männliche und weibliche ‚Fremdarbeiter‘, russische und französische Kriegsgefangene.
.....




EINE INSEL IM TEICH

Ostersonntag. An diesem Morgen geht die Familie zur Messe. Die Frau trägt heute ihre knöchellange Dirndl-Festtagstracht aus schwarz-grün-dunkelrot gemustertem Seidenbrokat mit einer ebenfalls langen, schwarzen Seidenschürze.
Dann kommt Monika, hoch, blond, im engen, weißen Leinenkostüm.
Dahinter Lisa mit den Kindern Werner und Hermine. Auch sie aufgeschönt in lauter frisch-Gewaschenem und -Gebügeltem.
Die Agnes, schief, mit verwachsenen Hüften und ihrem knochigen Hexengesicht muss ihr metallenes Gehgestell oben an der Straße stehen lassen, denn es gibt irgendwann keinen Fußweg mehr. Klara und Resi hängen sie rechts und links in den Arm ein. Sie ziehen, schleifen sie durch die Wiesen mit. Agnes hat mit dieser Art Fortbewegung Probleme und stößt wieder einmal ihre drastischen Flüche aus. Lisas Vater, der Herr Verwalter, ist zu Hause geblieben.
"Er glaubt nicht an Gott“, sagt Resi, als Hermine nach ihm fragt.

Sie stapfen nun querfeldein durch knöchelhohes, feuchtes Gras, dann auf einem schmalen, schwankenden Holzsteg hinüber auf die Insel im kleinen See, der das Gut Morgenau an drei Seiten einfasst. Und das Inselchen - nur wenige Meter vom Land entfernt, kaum größer als ein Küchengarten - ist heute ein einziger grüner Teppich, übersät mit dicken Polstern von gelben Schlüsselblumen und weißen Anemonen und in der Mitte die jahrhundertealte Kapelle. Tief sinken die Füße in die Blütenpolster ein. Die Natur strömt ihren reinen Duft aus ... erste Morgenfrühe.

Sie betreten die kleine Kirche mit dem Zwiebelturm.
Katharina und ein paar Polinnen haben das Innere am Abend vorher geschmückt. Haben Arme voller Osterglocken, Anemonen und Primeln hineingetragen und in großen Vasen um den Altar gestellt. Ein Blütenmeer.
Jetzt knien schon viele Menschen in den Bänken. Nur das besonders schön geschnitzte, etwas erhöhte, separate Betgestühl ist noch leer. Es war eigentlich ursprünglich für die gräflichen Besitzer von Gut Morgenau gedacht. Nun nehmen Katharina, Monika, Agnes, Lisa und auch die Kinder darin Platz. Das Betgestühl - die Rücken- und Seitenwände sind voller geschnitzter Blütenmotive, Heiligen- und Engelsköpfe - besteht aus separaten, durch eine Zwischenwand getrennten Bänke, in die jeweils nur zwei Leute hineinpassen und jede Abteilung kann man vorne durch ein ebenfalls schön ziseliertes Türchen verschließen, das allerdings nur bis zur Hüfte eines Erwachsenen reicht. Werner und Hermine sitzen zusammen in einem Betstuhl.
Jahrhundertelange Benutzung hat die Bänke und die Verzierungen glatt und glänzend gewetzt. Das Türchen vor ihnen kann man mit einem eisernen Riegel von innen absperren. Als Werner sich neugierig daran macht, den verrosteten Riegel vorzuschieben, hört man ein lautes Knarren und Knarzen. Da will Hermine das Ding schnell wieder zurück drücken, aber jetzt knarzt es noch viel mehr und hallt durch die ganze Kirche.
Die Leute drehen sich um und grinsen.
„PST, pst“, macht die Frau.


Die deutschen Mägde sind da, die polnischen Fremdarbeiter, Russen, Ukrainerinnen, die gesamte Gruppe der französischen Kriegsgefangenen, die einheimischen Tagelöhnerinnen mit ihren Kindern.

Außer dem alten Monsignore aus Morgenau ist auch Pater Bernhard vom Klosterberg in Hohenkirchen gekommen. Drei Messdiener hat er mitgebracht, die schwenken jetzt auf den Stufen vor dem Altar ihre duftschweren Weihrauchkessel. Die ganze Luft ist durchströmt von diesem Aroma.

Heiligenfiguren stehen mit segnenden Händen auf Wandkonsolen neben vergoldeten Säulen. Dazu Kerzen ... Kerzen überall. In einer Hängelampe unter der Kuppel glüht dunkelrot das ‘ewige Licht’. Schaukelt im aufsteigenden Hauch des Weihrauchs.
Hermine wird ganz HEILIG zumute.

Monika sitzt oben auf der ‘Empore’ an der Orgel und spielt. Gewaltig tönt die Musik.

Am Schluss der Messe singen alle:

"Großer Gott, wir loben dich,
Herr wir preisen Deine Stärke,
vor dir beugt die Erde sich
und bewundert deine Werke.
Wie du warst vor aller Zeit,
so bleibst du in Ewigkeit".

Brausend klingt das Orgelspiel, holprig, aber herzhaft der Gesang der Leute, von denen einige in ihrer fremden Sprache mithalten, hell dazu das Gebimmel der Glöckchen, die die Messdiener unablässig schwingen.
Vom Turm dröhnt die schwere, eiserne Glocke, dass es weithin übers Land schallt.
‘Christ ist erstanden von der Marter allen’, singen in der kleinen Kirche die frommen Leute. Viele glauben daran in dieser Stunde.

Nach der Messe, draußen auf der Inselwiese, umfängt einen erst recht die Schönheit des Ostermorgens.
Betäubend ist der Duft der Blüten im Frühtau. Man spürt mit jeder Pore, wie die Natur atmet.
Vorsichtig schreiten sogar die Männer über den dichten Teppich aus Schlüsselblumen und Anemonen. Hermine setzt langsam Fuß vor Fuß, macht sich so leicht wie möglich. Trotzdem knickt auch sie viele Blütenköpfchen ein. Das darf man doch eigentlich nicht machen!
"Die erholen sich bald wieder", sagt Resi..

*


DER TONI IST EIN DEPP

Das geschieht auch im Sommer 1944. Schnell verschwinden jetzt die letzten deutschen Knechte aus Morgenau. Sie werden eingezogen. Dafür bringen Lastautos immer mehr Kriegsgefangene auf den Hof.
Die Leute im Herrschaftshaus machen sich Sorgen. Herr Vogt geht düster und gedrückt umher, redet noch weniger als sonst.

In der Küche sagt Klara:
"Ist doch komisch ... außer dem Herrn Verwalter gibt es hier nur einen, der eine Waffe hat ... und das ist ... ? "
"Der Toooooni", schreien die Frauen im Chor.
Hermine weiß: der Toni muss alle diese Menschen bewachen, die jetzt auf dem Hof arbeiten, die nicht freiwillig, vielleicht nicht einmal gern nach Deutschland gekommen sind.
"Da haben sie aber den rechten gfunden", murmelt Marie, "Geh, der ist doch ein Depp!"

Der Toni ist so mager und klein, dass er Hermine wie ein verhutzeltes Nussknacker-Männchen vorkommt. Er ist uralt. Mit seiner Flinte hat er sich, scheint es, noch nicht recht angefreundet. Sie ist sehr lang, ihm vielleicht auch zu schwer. Er schleift sie immer mit dem einen Ende am Boden nach.

Die Polinnen im Feld hören schlagartig mit der Arbeit auf, wenn sich ihr Wächter nähert.
"Toni, Toni komm du her, du Schliiimmer", rufen sie neckisch. Die eine oder andere spitzt dann den Mund wie zum Kuss. Malenka lüpft gar den Rock bis zu den strammen Schenkeln und tanzt lachend vor ihm herum.
Dem alten Mann scheint es mulmig zu werden bei soviel ungezügelter Weiblichkeit und die fremden Sprachen irritieren ihn erst recht, die man hinter seinem Rücken flüstert. Wenn ihn kräftige, ausländische Männer dann noch frech von oben herunter angrinsen, erwacht aber sein Germanenstolz.
"Hände hoch oder ich schieße!", soll er schon ein paarmal geschrieen haben. Alle hätten dann die Arme in die Höhe gerissen und stramm gestanden, heißt es.

"Und wenn der wirklich schießt?", fragt Werner.
"Ach, da brauchst dich nicht fürchten, Bub", sagt Resi, "der Toni hat mehr Angst vor seiner Knarre als vor den Gefangenen. Das Ding könnte ja nach hinten losgehen."

Was die Mägde und die Polinnen nicht wissen und was Minchen beim Mittagessen aus der Unterhaltung der Erwachsenen erlauscht: der Toni ist im ersten Weltkrieg Ober-feld-we-bel gewesen, hat sogar Or-den bekommen.

*

Minchen ist eigentlich recht gebeutelt. Langsam hat es sich endlich an die stallwarme Milch gewöhnt, von der es jeden Morgen einen Halbliter-Humpen austrinken muss.

"Wie dürr das Kind ist ... und es sieht so SCHLECHT aus." Manchmal sagen sie es leise hinter Hermines Rücken, manchmal nehmen sie kein Blatt vor den Mund, auch wenn es dabei steht.

"Dieses Kind ist irgendwie ZURÜCKGEBLIEBEN, hinkt Gleichaltrigen in der Entwicklung um Jahre nach", hört Hermine die ‚Frau‘ eines Tages zu Lisa sagen.
"Ja, ja, normal ist die nicht ...", antwortet Lisa.

Hermine begreift nur halb, was die zwei Frauen meinen: aber dass sie nicht so gut ist wie andere Kinder, das hat sie verstanden. Die Worte tun weh, als ob sie jemand ins Gesicht geschlagen hätte. Ja, sie gefällt der Stiefmutter nicht, das spürt sie. Und jetzt hat sie nicht nur vor dem Herrn Verwalter Angst, jetzt geht sie auch noch der ‘Frau’ aus dem Weg. Sie fürchtet sich vor ihren strengen Blicken. Und Lisa ist ohnehin so weit weg und kümmert sich wenig. Das macht Hermine nichts aus ... dass Lisa eigentlich die ‘Mutter’ ist, hat die Kleine schon vergessen. Sie sehen sich meistens nur beim Mittagessen im schwarzen Salon.

Aber da sind so viele Menschen auf dem Hof, so viele Tiere ... jeden Tag gibt es Neues anzustaunen. Und die Mägde, auch die meisten Kriegsgefangenen, sind freundlich zu ihr und dem Werner. Der Eugen, ein junger Franzose, schnitzt ihnen sogar Flöten, auf denen man richtig spielen kann. Nein, traurig ist Hermine eigentlich nur manchmal.



Die Kleine hört immer gespannt zu, wenn die Großen sich beim Essen unterhalten. Sie versteht das meiste nur halb, vieles gar nicht. Man merkt, dass die Erwachsenen Kummer haben. Der Herr Verwalter ist ernst und traurig. Und was die reden!

Was ist der ‚Kessel von Sta-lin-grad’? Der ‘Welt-bol-sche-wis-mus’?, Die ‘a-lli-ir-te Offen-sie-fe in der Nor-man-di’. Sie fragt später Resi oder Klara später danach. Aber von denen hört sie auch nur rätselhafte Worte. Nur eines weiß Hermine: dass alles mit dem Krieg zusammenhängt ...

*


HALENAS SCHÄTZE

Halena, die Ukrainerin, ist eine Hoheitsvolle. Und sehr schön. Sie geht wie eine Königin. Sie ist stark. Stolz und aufrecht. Auch im Winter hat sie keine Strümpfe an und nur Holzschuhe an den Füßen. Manchmal läuft Halena barfuß. Einmal sogar im Schnee.
Hermine denkt oft über Halena nach. Vielleicht war sie eine Prinzessin zu Hause in ihrem Land.

Halena hat auch ein Kind gekriegt. Nur drei Wochen nachdem Lisa den Maxl bekam. Den ganzen Tag trägt sie es in einem Tuch an sich gebunden mit sich herum. Halenas Mann ist der Iwan. Einer der russischen Kriegsgefangenen. Vielleicht nennen ihn die Deutschen nur Iwan und er heißt in Wirklichkeit ganz anders. Weil die Deutschen hier zu allen Russen ‘Iwan’ sagen.

Halena hat ihr Baby auch im Krankenhaus in Hohenkirchen bekommen, genau wie Lisa.
"Sie ist im gleichen Einzelzimmer gelegen und hat die gleiche Pflege gehabt wie meine eigene Tochter", sagt Katharina beim Essen zu den Gästen.
"Das ist doch normal", wehrt sie ab, als jemand sie loben will.

Halena nimmt Hermine eines Tages mit in ihre Kammer in einer der Baracken. Sie hat einen Raum nur für sich und das Baby. Aber Halenas Kammer ist voller SCHÄTZE. Da sind nämlich viele h u n d e r t Postkarten, die sie mit Reißzwicken an die Wände geheftet hat. Es sind darauf keine Landschaften, keine Feriengrüße, wie Leute sie sich sonst schicken ... nein, wunderschöne Damen sind da zu sehen mit fantastischen Kleidern und breiten Hüten mit Federn darauf. Oder Kinder. Oder Liebespärchen, die sich küssen. Alle Karten sind bunt. Leuchten, glühen vor lauter schönen Farben ... Mädchengesichter mit goldenen und silbernen Herzen um sie herum. Kinder mit Veilchen- und Rosensträußen, mit so süßen Hunden, Katzen, weißen Tauben und blauen Vergiss-mein-nicht. Eine Karte immer herrlicher als die andere. So, dass Hermine jede davon eine halbe Stunde lang anschauen könnte. Etwas schöneres hat sie ja noch nie im Leben gesehen. Sie sind wunderbar. Und dann gleich so unzählig viele davon! Und jede anders!

Halena erlaubt ihr, sich auf den Stuhl zu stellen, - den einzigen im Raum - damit sie auch die höher hängenden Postkarten betrachten kann.
"Gefallen dir wirklich ... diese?", fragt die Ukrainerin und lächelt zufrieden.
Am Schluss nimmt sie Hermine noch auf den Arm, damit sie die Karten ganz oben auch in Ruhe angucken kann. Zum ersten Mal im Leben beneidet Hermine einen Menschen um etwas.

‘O, wenn die mir gehören würden ...’, denkt sie und ihr wird ganz heiß. Überhaupt nicht auszumalen ...

"Darf ich sie nochmal sehen?", bettelt sie am nächsten Tag.
"Wenn du willst."

"Du sollst nicht ständig mit der Ukrainerin herumlaufen", sagt Lisa beim Mittagessen, "du hältst sie von der Arbeit ab ..."

*



DER WILDE STIER

Die Stiere werden von Zeit zu Zeit auf die Waage geführt. Was mit viel Männergeschrei und Remmidemmi geschieht und an sich schon ein riesiges Spektakel ist. Eines Tages aber reißt sich eines dieser Ungetüme plötzlich los.

Da schnaubt das tonnenschwere Vieh mit blutunterlaufenen Augen über den Hof. Schleift seine Eisenketten nach, dass sie wie wild übers Pflaster rasseln. Das Tier biegt um die Ecke, stiebt wie der Teufel davon. Und die verwirrten Verfolger immer hinter ihm her. Sie brüllen sich in ihren fremden Sprachen zu. Wer sich im Freien aufhält, flüchtet in die Gebäude, auch Werner, Hermine und die Tagelöhnerkinder.

Dann läuft Hermine schnell zum Gangfenster, will sehen, wie das weiter geht.

Was für ein gutes Gefühl: man selbst ist hier drinnen so sicher ...
und draußen prescht das Ungetüm in einer Staubwolke durch den Hof, bleibt manchmal stehen, reibt sich schnaubend an einer Mauer, scharrt mit den Hufen, rast dann wieder los.

Niemand hat aber bemerkt, dass die schneckenlangsame Agnes mit ihrem Gehgestell unterwegs ist. Jetzt, als Hermine durchs Gangfenster guckt, da ist die Agnes genau auf der Strecke zwischen Pferdestall und Herrenhaus. Und der Stier stürmt ihr entgegen, Kopf bis fast zum Boden gesenkt, die Augen klein und boshaft. Die Agnes schreit erbärmlich.

‘Geschieht dir recht!’, denkt Hermine. Ob das riesige Vieh jetzt die Tante totstampfen wird? Sie hat es nicht anders verdient. Fressen Stiere Menschen?
Sie ist so eine alte, boshafte Schachtel, das hat sogar Lisa gesagt ... so eine, die den Maxl fast erstochen hätte ...
‘Jetzt geht es ihr an den Kragen. Die Strafe Gottes folgt auf dem Fuß!’, denkt Hermine.


Die arme Krüppelin draußen, als sie das Ungeheuer heranbrausen sieht, fällt vor Schreck mit ihrem Metallgestell um. Liegt mitten im Weg. Hermine wird es auf einmal schlecht. Jetzt hat sie Angst um die böse, blöde Tante. "Hilfe", schreit Hermine.

Der Stier kommt geradewegs auf die Agnes zu. Rast dann aber nah an ihr vorbei, biegt nach rechts. Schnaubend, brüllend stiebt er in Richtung der Felder davon, gejagt jetzt von fünf Polen.

Schnell kommen Jacques, ein Franzose, und Halena gerannt, heben die Agnes auf und tragen sie in die Küche. Gott sei Dank hat sie sich nichts gebrochen. Halena wischt mit einem Tuch den Dreck und die Tränen aus dem Gesicht der armen Tante.

Auf der Gänse- und Hühnerwiese hat sich das Untier unterdessen gemütlich ans Grasen gemacht, nachdem es das Vogelvieh in einer rasenden Wutattacke in alle Richtungen zerstäubt hat, dass die Federn nur so flogen. Nun locken die Polen mit Befehlen und Schmeichelworten das Monstrum. Aber das hustet ihnen was. Jedoch ... die polnischen Männer sind mutig. Gemeinsam stürzen sie sich dem wilden Stier entgegen. Endlich bekommt ein Verfolger namens Ivo ihn mit einer Eisenstange bei dem stählernen Nasenring zu fassen. Wundersamerweise wird das rasende Biest sanft wie ein Lamm und lässt sich ohne Mucken in den Stall zurückführen.

Die Kinder sind nachher ganz aus dem Häuschen. So etwas haben sie ja noch nie erlebt!
*



MONIKA und GERD

Die schöne Monika geht bleich und wortlos umher. Seit kurzem ist Gerd, ihr Freund, in Russland. Sie hatte in München mit ihm zusammengelebt wie Frau und Mann. Deshalb hatte sie ihn den Eltern als Verlobten vorgestellt – obwohl - in Wahrheit war von zukünftiger Ehe nie die Rede gewesen.

Das war ungewöhnlich, denn Paare heirateten in diesen Zeiten rasch. Viele junge Männer, bevor sie in den Krieg gingen, machten noch schnell reinen Tisch, bekannten sich zu ihren Mädchen, setzten die Liebe, die Hoffnung, die Gründung einer Familie sozusagen dem Tod entgegen. Es war gut, eine Frau zu Hause zu wissen, und noch besser, wenn sie vielleicht sogar schon ein gemeinsames Kind unter dem Herzen trug... Pfand für ein romantisches, häusliches Glück ... für die Zukunft ... wenn das Leben wieder NORMAL sein würde. Die Hoffnung auf das Schöne, das bei der Heimkehr wartete, half ein wenig über die Sinnlosigkeit all dieses Mordens hinweg. So war man weniger verloren, weniger ins Nichts geworfen, wenn einem an der Front der Tod auf Schritt und Tritt entgegen kam.

Monika und Gerd hatten aber NICHT geheiratet. Beide waren nicht mutig genug, auch unsicher, ob es nun die wirkliche, einzige Liebe ...
und dann eskalierten die Ereignisse. Gerd, Student der Medizin, hatte plötzlich seine Einberufung an die Front bekommen und war zwei Tage nach seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag mit einem Truppentransport abgefahren.

Monika hatte weiter in der gemeinsamen Wohnung in München gelebt, Vorlesungen besucht. Philosophie. Biologie. Man musste die äußere Ordnung wahren. Sie vermisste Gerd immer mehr. Jetzt merkte sie erst, dass sie ihn mit jeder Faser liebte. Nun schrieben sie sich lange Feldpostbriefe voller beiderseitiger leidenschaftlicher Worte und einem Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie sich vorher nie einzugestehen gewagt hatten. Mit jedem Schreiben wurde Monikas Sehnsucht nach einer dauerhaften Beziehung stärker.

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VERSUCH EINES WIDERSTANDS: DIE WEIßE ROSE

Aus dem Tagebuch der Monika Vogt:
Am 22. Februar 1943 wurden hier in München drei Kommilitonen, die mit mir an der Universität studierten, hingerichtet: Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst, den wir Christl nannten.

Parolen gegen Reich und Führer hatten die drei nachts in riesigen Lettern an Hauswände geschrieben:
FREIHEIT. NIEDER - MIT - HITLER.

Und Flugblätter der WEIßEN ROSE waren aufgetaucht, darin war zur offenen Konfrontation gegen das Regime aufgefordert worden. So stand wörtlich in diesen Flugblättern:

Wie kann man gegen den gegenwärtigen (Staat) am wirksamsten ankämpfen,
wie ihm die empfindlichsten Schläge beibringen?
Sabotage ... ist die Antwort.

Sabotage in den Rüstungs- und kriegswichtigen Betrieben.

Sabotage in allen Versammlungen, Kundgebungen, Festlichkeiten, Organisationen,
die durch die nationalsozialistische Partei ins Leben gerufen werden.

Sabotage auf allen wissenschaftlichen und geistigen Gebieten,
die für eine Fortführung des gegenwärtigen Krieges tätig sind -
seien es Universitäten, Hochschulen, Laboratorien,
Forschungsanstalten, technische Büros.

Sabotage in allen Veranstaltungen kultureller Art,
die das Ansehen der Faschisten im Volke heben könnten.

Sabotage in allen Zweigen der bildenden Künste,
die nur im geringsten im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus stehen
und ihm dienen.

Sabotage in allem Schrifttum, allen Zeitungen, die im Solde der Regierung stehen,
die für ihre Ideen, für die Verbreitung der braunen Lüge kämpfen.

Opfert nicht einen Pfennig bei Straßensammlungen (auch wenn sie unter dem Deckmantel wohltätiger Zwecke durchgeführt werden). Denn dies ist nur eine Tarnung. In Wirklichkeit kommt das Ergebnis weder dem Roten Kreuz noch den Notleidenden zugute. Die Regierung braucht das Geld nicht, ist auf diese Sammlungen nicht angewiesen - die Druckmaschinen laufen ja ununterbrochen und stellen jede beliebige Menge Papiergeld her. Das Volk muß aber dauernd in Spannung gehalten werden, nie darf der Druck der Kandare nachlassen! Gebt nichts für die Metall-, Spinnstoff- und andere Sammlungen.


Ende von Monikas Aufzeichnung.


Flugblätter, auf denen das stand, hatten die Geschwister Scholl vervielfältigt, in Hausbriefkästen geworfen und mit einigen Gleichgesinnten heimlich an verschiedenen Universitäten in ganz Deutschland verbreitet. Aber dann auch wieder NICHT heimlich genug. Überzeugt von der Gerechtigkeit ihrer Sache hatten sie gehofft, wie eben nur junge Menschen hoffen können, dass ein studentischer Aufstand gegen die Nationalsozialisten sich rasch wie ein Lauffeuer ausbreiten, dass der Funke dann von den Universitäten auf die Bevölkerung überspringen würde. Aber das war nicht geschehen. Beim Auslegen der fünften oder sechsten Flugblatt-Serie hatte man die drei Hauptakteure überrascht und verhaftet.

Sie standen einsam, auf sich gestellt, als man ihnen einen sprichwörtlich kurzen Prozess machte. Von vielen bedauert, von vielen bewundert, waren sie tapfer und stark geblieben, als die Staatsmacht sie mit stählerner Strenge abgeurteilt hatte. Weniger als Verbrecher, denn als gefährliche, krankhafte Abgeirrte wurden sie behandelt. Als Träger eines zerstörerischen Virus, der WIDERSTAND hieß. Als solche mussten sie vernichtet werden .... Krebsgeschwüre am gesunden Volkskörper, hieß es, eine Geschwulst, die es an der Wurzel, die es in ihren Anfängen schon auszumerzen galt, noch bevor sie sich ausbreitete. Das war die Einstellung der Ideologen jener Zeit.

Tod durch Enthauptung lautete der schnelle Urteilsspruch, damals nannte man das ‘Köpfen’, und das Urteil wurde noch am gleichen Tag vollzogen. Der ‘Prozess’ hatte 3 Stunden gedauert.

Monika war mit Sophie Scholl bekannt. Auf Vorlesungen der biologischen Fakultät waren sie sich manchmal im Hörsaal über den Weg gelaufen. Von Sophies Gesinnung hatte Monika gewusst ... halbwegs ... aber sie hatte diese Gesinnung nicht geteilt ... Und auch das Handeln der Kommilitonin konnte sie nicht gutheißen. Zu sehr war sie selbst mit dem Nationalsozialismus aufgewachsen. Adolf Hitler ... stand noch immer für Ordnung, Kraft. Zukunft. Stand für alles, was Monikas emotionale Heimat seit ihrer BdM-Zeit war.( Bund deutscher Mädchen ) Die Ideologie des Nationalsozialismus hatten ihr die Lehrer, später die Professoren eingepflanzt. Dieses Gedankengut, das von der Kraft der Rasse sprach, von der Unterordnung aller unter das große Ganze, von der zukünftigen Macht und Herrlichkeit eines ‘anständigen’ Volkes, mit diesen Parolen war Monika Vogt aufgewachsen. Sie gehörten so selbstverständlich zu ihrem Leben wie die geliebte Stadt München, wie die Universität, wie die Eltern, wie Morgenau im schönen bayrischen Land. Auch wenn Morgenau nicht Familienbesitz war, so liebte sie diesen Gutshof doch sehr. Auf unklare, verworrene Weise liebte sie auch alle Menschen, die dort lebten und arbeiteten. Selbst die Fremden, die man aus anderen Ländern hergebracht hatte. Dies war Deutschland. IHR Deutschland. Und die Ordnung, wie der Führer sie schuf, das war IHRE Ordnung. Etwas anderes kannte sie nicht. Nie und nimmer würde sie das Land und seine Menschen und den Führer verraten. So sehr jetzt auch alles um sie herum zusammenbrach, es waren die Feinde von außen, die Deutschland das antaten. S i e, Monika Vogt, würde sich NICHT auf die Seite der Feinde schlagen ...Wie viele Gleichaltrige hing sie noch immer dem neuen Glauben an, dem Traum von Deutschlands Größe, so verworren ihr das jetzt in letzter Zeit auch vorkommen mochte.

Monika hatte in München noch mehr Flugblätter gesehen, die Sophie Scholl und ihre Helfer heimlich auf dem Unigelände ausgelegt hatten:

FREIHEIT und EHRE! Zehn lange Jahre haben Hitler und seine Genossen die beiden herrlichen deutschen Worte bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht, wie es nur Dilettanten vermögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen. Was ihnen Freiheit und Ehre gilt, das haben sie in zehn Jahren der Zerstörung aller materiellen und geistigen Freiheit, aller sittlichen Substanz im deutschen Volk genügsam gezeigt ... Studentinnen! Studenten! Auf uns sieht das deutsche Volk! Von uns erwartet es, wie 1813 die Brechung des Napoleonischen, so 1943 die Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes."

Auf einem anderen stand zu lesen:

Jedes Wort, das aus Hitlers Mund kommt, ist Lüge. Wenn er Frieden sagt, meint er den Krieg, und wenn er in frevelhafter Weise den Namen des Allmächtigen nennt, meint er die Macht des Bösen, den gefallenen Engel, den Satan. ( ...) Wohl muß man mit rationalen Mitteln den Kampf wider den nationalsozialistischen Terrorstaat führen; wer aber heute noch an der realen Existenz der dämonischen Mächte zweifelt, hat den metaphysischen Hintergrund dieses Krieges bei weitem nicht begriffen. ( ...) Gibt es Dich, der Du ein Christ bist, gibt es in diesem Ringen um die Erhaltung Deiner höchsten Güter ein Zögern, ein Spiel mit Intrigen, ein Hinausschieben der Entscheidung in der Hoffnung, daß ein anderer die Waffe erhebt, um Dich zu verteidigen? Hat Dir nicht Gott selbst die Kraft und den Mut gegeben zu kämpfen. Wir müssen das Böse dort angreifen, wo es am mächtigsten ist, und es ist am mächtigsten in der Macht Hitlers.

Nein, das waren keine Gedanken, die eine Monika Vogt zum Umdenken bewegen konnten. Aber Monika las, wie so viele andere Studenten, die Flugblätter, von denen am Anfang niemand wusste, woher sie kamen, sehr aufmerksam und nachdenklich. Hätte sie gewusst, dass Sophie Scholl es war, die sie in Umlauf brachte, so hätte sie die Kommilitonin trotzdem niemals verraten. Denn auch ihre, Monikas Seele, war aufs höchste verwirrt, hilflos und unglücklich.


Ebenso wenig hätte sie sich aber den Forderungen der ‘weißen Rose’ angeschlossen. Nein, ‘ehrlos’ wäre es, das zusammenbrechende heimatliche System von innen heraus durch Angriff und Sabotage noch mehr zu schwächen ... Von einer solchen Bewegung, wie sie die Geschwister Scholl im Sinn hatten, davon würde SIE nie ein Teil sein. Dennoch konnte sie Sophies Gedankengängen folgen. Monika selbst war von Adolf Hitler bitter enttäuscht, von SEINER mangelnden Kompetenz in fast allen Fragen, die die Menschen jetzt stellten ... Wie kläglich er versagte! Er versteckte sich ja nur noch hinter dem Apparat, den er aufgebaut und jetzt nicht mehr im Griff hatte. Dennoch ... sie würde ihn und damit Deutschland nicht verraten, dieses gebeutelte Deutschland in DIESER Zeit, ihr Deutschland, das einzig und allein ihre INNERE Heimat war, ( gewesen war ... denn tief in der Seele wurde sie von Tag zu Tag unschlüssiger, ihr Glaube bekam immer größere Risse ) und dennoch: sie würde nie feige einem System in den Rücken fallen, das ihr imponiert hatte, solang es stark und mächtig gewesen war. Auf das sie in ihrem Herzen alle Zukunftshoffnungen gehäuft hatte. Sie würde es nicht verleugnen, jetzt, wo es schutzlos dem Schicksal und der Willkür fremder Mächte ausgeliefert war. Eine düstere Treue war ihr geblieben.

‘Götterdämmerung ... Der Nibelungen Not ... der Nibelungen Tod - eine wehmütige Schönheit schien in all dem auch noch zu liegen!
"Nein, Monika, so nicht", hatte sie sich selbst wütend angeschrieen, - langsam verlor sie die Nerven, wenn sie allein war - "nein, versuch du es nicht auf die theatralische Tour. Entscheide dich klar und ehrlich!"
Aber sie konnte sich nicht entscheiden. Denn ... innen spürte sie: sie war noch immer im Bann dieser Gedanken, träumte den Traum von Größe, eherner Moral, Auserlesenheit, der den Deutschen zum Verhängnis werden sollte. Das allerschlimmste geschah dann auch noch: es kamen auf einmal keine Briefe mehr von Gerd.
Es konnte nur eine vorübergehende Verzögerung sein! Monika durfte sich nicht hängen lassen. Sie musste nur warten und Geduld haben. Es schien ganz einfach nur die Kommunikation zwischen der Front und der Heimat vorübergehend abgebrochen zu sein. Viele Angehörige der Soldaten klagten darüber.


Ende 1943 waren Monika und ihre Mitstudentin Gabriele Bauer, mit der sie zuletzt das kleine Apartment in der Nähe des Königsplatzes, also im Zentrum Münchens, geteilt hatte, zum zweitenmal Opfer allierter Bombenangriffe geworden. War das Haus nach dem ersten Mal nur stark lädiert, aber noch bewohnbar, so war es am Ende einer langen Schreckensnacht, die sie im Luftschutzbunker zugebracht hatten, am Morgen so durch Sprengbomben zerstört, dass von ihm und der gesamten umgebenden Straßenzeile kaum ein Stein auf dem anderen geblieben war. Da hatten die beiden jungen Mädchen das Studium endgültig fahren lassen und waren heim aufs Land zu ihren Eltern geflüchtet. Seither wohnt Monika wieder in Morgenau.


Aus dem Tagebuch der Monika Vogt:
‚Deutschlands Untergang ist nicht mehr aufzuhalten. Ich werde nie mehr im Leben studieren und habe mich an der Universität abgemeldet. Es ist wie ein böser Traum, als ob es einfach nicht wahr sein könnte, aber plötzlich habe ich von Gerds Eltern die Nachricht erhalten, dass man ihnen vor einigen Tagen offiziell mitgeteilt hat, Gerd sei ‘vermisst’. Himmel, erbarme dich meiner ... denn das ist ja noch keine Todesmeldung. Auch, einer, der in Russland vermisst ist, vielleicht kommt er ja wieder! Wenn ich nur zu Gott beten könnte. Aber ich habe keine Beziehung zu Gott.‘
Manchmal meine ich, dass ich langsam dabei bin, den Verstand zu verlieren.'

Monika, die jede Nacht unbemerkt in ihrem Bett weint, schreibt weiter:

'Wir müssen mit wie vieansehen, wie unsere jungen Männer an den Fronten zugrunde gehen. Hunderttausend unschuldige Frauen und Kinder sind schon im Bombenhagel der Städte verbrannt, verglüht.
Ich stricke mit den Mägden für die Soldaten in Russland Handschuhe und Strümpfe. Vor Kälte sterben ihnen die Gliedmaßen bei lebendigem Leib ab, heißt es. Aber es heißt auch hinter vorgehaltener Hand, die Mühe sei sinnlos und die Hilfsgüter kämen auch nicht mehr durch.
Wir beginnen hier in Morgenau jetzt lieber Socken für unsere Fremdarbeiter zu stricken. Die besitzen keine mehr und schaben sich in den schlechten, holzharten Stiefeln die Füße blutig.

Kaum auszuhalten ist das Leben. Sogar am Tag sehen wir die Vorboten von Deutschlands nahendem Ende. Feindliche Flugzeugverbände überziehen den Himmel mit grauen, dröhnenden Wogen aus Stahl. Man darf sich nicht vorstellen, wie viel hunderttausend Tonnen Bomben sie jedes Mal bei sich tragen und über unseren Städten abladen. Wir hoffen, dass sie bei uns hier auf dem Land keinen Schaden anrichten. Aber was hilft das schon? In München habe ich erlebt, wie diese herrliche, alte Stadt ständig aufs Neue angegriffen, am Ende sozusagen ins Nichts zurückgesunken ist.

Auch über Morgenau war eines Tages ein seltsamer, bedrohlicher Laut in der Luft. Ein immer näher kommendes, anhaltendes, monotones Dröhnen. Dann sahen wir sie: den Gutshof überflogen sie in einer zugvogelartigen Formation von mehreren hundert Flugzeugen. Es war am helllichten Tag, an einem Vormittag gegen zehn Uhr. Einen solchen Laut hatte hier noch niemand vernommen. Als es anfing, rannten die Mägde, die Fremdarbeiter und Gefangenen aus den einzelnen Gebäuden heraus. Alle blickten gebannt zum Himmel. Da zog also ein endloser Schwarm dickbauchiger Maschinen, nicht einmal sehr hoch, auch nicht schnell, aber unerbittlich und mit diesem tödlichen, bösartigen Brummen über den Dächern unserer Gebäude dahin. Dunkle, metallene Ungetüme. In ihren Innereien tragen sie den tausendfachen Tod in unser Land. Und wir stehen da und müssen zusehen. Die Kriegsgefangenen haben genauso schweigend nach oben gestarrt wie wir Deutschen.

Soweit das, was Monika niedergeschrieben hat.

*



SPEKTAKEL AM HIMMEL

An dem Tag, an dem Minchen zum erstenmal die Flugzeuge sieht, bleibt ihm vor Staunen der Mund offen stehen. Wie fette, schwarze, riesige Hornissen brummen sie durch das Blau. Einen andauernden, gleichmäßigen, dunklen Ton machen sie, breiten diesen Ton wie einen Teppich über ganz Morgenau, so schwer, dass die Luft davon zittert und der Erdboden bebt.
Das KANN kaum die Wirklichkeit sein. Wie halten sie sich nur da oben ? Warum plumpsen sie nicht herunter, diese Maschinen, dick, fett und bleischwer wie sie doch sind?
Natürlich hat das Kind keine Angst. Im Gegenteil – das Ganze ist hochinteressant. Wie Vögel, wenn sie nach Süden ziehen, wie ein großer Buchstabe V sieht es aus. For-ma-tion. Erst vorne eine Maschine als Spitze, dann in der nächsten Reihe drei, in der nächsten fünf, dann sieben und danach immer sieben. Hintereinander halten sie sich, keines kommt dem anderen zu nah, keines schert zur Seite aus. Viele sind es und es werden immer mehr, dass Hermine sie nicht zählen kann. Eigentlich sind sie grau. Aber hin und wieder trifft ein Sonnenstrahl eine Seite von so einem Ungetüm, dann funkelt es hell wie Silber.

Der Herr Verwalter ist aus seiner Kanzlei gekommen, steht jetzt mit Hermine auf der Treppe.
"Es geht zu Ende", sagt er leise zu Hermine. Er hatte bisher niemals ein Wort mit ihr gesprochen, so als ob sie gar nicht da wäre.
"Das sind fliegende Festungen", murmelt er und sie erschrickt, weil er ihr plötzlich die Hand auf den Kopf legt. Die Hand ist schwer.
"Fliegende Festungen sind das. Da ist nichts mehr zu machen!"

"Es geht zu Ende ...", sagt der alte Mann wieder. Solche geheimnisvollen Worte für Hermine! ‚Fliegende Festungen‘... ‚es geht zu Ende.‘

Monika, die die ganze Zeit drinnen in der Kanzlei am Funkgerät saß, kommt jetzt heraus gerannt:
"München brennt ... Das ist doch nicht möglich, dass die EINEN München bombardieren, während die ANDEREN noch über unsere Köpfe ziehen. Aber sie melden es: Das gesamte Stadtzentrum ist ein einziges Flammenmeer!" sagt Monika.

*


DER EISKELLER

Doch so schnell kommt das Ende nicht.
Sommer 1944.
Eines Nachts fährt Hermine aus tiefem Schlaf hoch, weil es draußen kracht.

Es kracht viel schlimmer als beim stärksten Gewitter, so, dass sie nur noch denken kann, das Haus breche zusammen. Ein solcher Knall ist das. Ex-plo-sion?? Da steht sie senkrecht im Bett. Lisa ist nicht da, sie schläft mit Maxl in einem anderen Zimmer. Der Werner hat anscheinend nichts mitbekommen, schaut zu ihr her, ist noch gar nicht richtig wach.

Durch das Fenster sieht Hermine: unten im Hof laufen die Leute schon zusammen. Blutrot ist der Himmel ... eine Feuersbrunst weiter weg ... aber wo? Es rummst und bummst und scheppert noch immer laut. Hermine rennt in Nachthemd und Mäntelchen mit dem kleinen Bruder an der Hand Richtung ‘Eiskeller.’

Die alliierten Bomber verschonen für gewöhnlich einzelne Gehöfte auf dem Land, aber jetzt geht schon alles drunter und drüber. Die Verwaltersfrau versteht die Angst ihrer Leute, begreift, dass niemand mehr im Bett bleiben will, wenn mitten in der Nacht nicht nur feindliche Bomberverbände über die Dächer ziehen, sondern es auch ständig in nächster Nähe - was ja eigentlich nur in den Äckern und Wäldern um Morgenau sein kann - diese furchtbaren, ohrenbetäubenden Detonationen gibt.

Für Werner und Hermine ist das Ganze ein verworrenes, aber auch spannendes Abenteuer.

Jetzt geht alles schnell. Man hat in letzter Zeit schon einige Male Zuflucht in diesem Keller gesucht. Lisa rennt mit Maxl auf dem Arm über den Hof, hinterher japsen Klara und Marie. Die beiden Mägde schleppen Brotlaibe, einen Tiegel Buttermilch ... Verpflegung halt.

Monika und Katharina haben Agnes untergefasst, die sich wieder einmal vehement wehrt und wild vor sich hin brüllt. Doch man zerrt sie vorwärts. Die restlichen deutschen Frauen, die Tagelöhnerinnen samt deren Kindern, die Ostarbeiterinnen, darunter Halena mit ihrem Säugling ... aus allen Richtungen kommen sie gerannt ... alle hasten zum Eiskeller.
Er ist durch eine massive Stahltür geschützt. Ein Gang führt metertief unter die Erde. Dort ein gemauertes Gewölbe voller Eisblöcke, die im Winter am Rand des Teiches geschlagen, dann zerteilt werden und in diesen unterirdischen Räumen zwischen Sägespänen ein ganzes Jahr lang in gefrorenem Zustand bleiben. In dem so gefrosteten Keller hängen massenhaft Rinder-, Schweinehälften, Speckseiten. In entfernteren, weniger kalten Kammern lagern Kartoffeln, Zwiebeln, Gelbrüben. In einem anderen Stollen baumeln Schinken und Dauerwürste von der Decke. Überall da, wo es am wenigsten kalt ist, machen es sich die Frauen und Kinder auf Pritschen, auf Stühlen halbwegs bequem. Man hängt den Kleinen Decken und Felle über. Aber sie frieren natürlich trotzdem.

Für wenige Männer wäre schon auch noch Platz hier unter der Erde. Doch weil sie nicht alle in diesen Keller passen, darf KEINER hinein. Die einfachste, gerechteste Lösung. So hat es der Herr Verwalter bestimmt. Er selbst hält sich ebenfalls an die Regel ...

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SOMMERGLÜCK, HERBSTSPAß, WINTERZAUBER

Aber auch das gibt es noch: Juli 1944. Es ist brütend heiß. Im Teich, der Morgenau von drei Seiten her umgibt, fluten ein paar rindenlose Baumstämme herum. An denen klammern sich die Kinder fest und dann heissa ... ab geht die Post. Obwohl Werner, Hermine und die meisten Tagelöhnerbuben nicht schwimmen können, überqueren sie so, an den Baumstämmen hängend, den ganzen Weiher, der an manchen Stellen seicht, an anderen richtig tief ist. Die Kinder paddeln mit den Füßen, kommen so mit ihren Flößen vom Fleck, während ganze Fischschwärme rundum verwirrt Reißaus nehmen.
Größere Jungen, die an manchen Stellen noch auf dem Grund stehen können, drücken und schieben manchmal ein bisschen. Es gibt auch eine kleine Strömung, die von dem Bach herrührt, der den Teich speist. Langsam gelangen die Kinder so über den Weiher bis zum Garten des Herrn Pfarrer und bis auf ein paar Meter vor sein Haus, das man sonst nie sehen kann, weil der Zutritt verboten ist und es sich hinter hohen Bäumen und Hecken verbirgt.


Herbst.Die Scheunen sind bis unters Dach vollgestopft mit stäubendem, duftendem Heu. So eine Scheune hat mehrere hölzerne Zwischenböden. Die Kinder klettern dort über Leitern von einem ‘Stockwerk’ zum anderen, denn auf drei Ebenen ist das trockene Gras gelagert. Tief unten stehen dicht an dicht die hoch bepackten Heuwagen. Die Kinder holen tief Luft und springen von der obersten, der dritten Etage in die weichen, federnden Nester hinunter.

Für Hermine ist das Spiel dann doch nicht so leicht und locker, wie es für die Buben zu sein scheint. Vor jedem Absprung wird ihr schwindlig vor Angst, wenn sie da hinunter guckt. Dann macht sie die Augen zu ... springt. Und ist glücklich, dass sie sich zusammengerissen hat. Denn es ist s o o schön, wenn man tief unten im Weichen landet. Dann lässt man sich zwischen zwei der hohen, mit Heu aufgeplusterten Wagen hindurch wie zwischen Polstern sanft zur Erde gleiten. Anschließend klettert man wieder hoch bis unters Dach der Scheune und tut den nächsten Sprung.
"Da könnt ihr euch ja den Hals brechen", ruft Resi entsetzt, als die Kinder ihr von dem Abenteuer erzählen. Und doch wird es ihnen nicht verboten.


Im Winter von 1944 auf 45 herrscht in Bayern klirrende Kälte. Über dem Eis des Teiches liegt eine meterhohe, festgefrorene Schneeschicht. Die Kinder haben Holzschlitten, und da das Land um Morgenau flach ist wie ein Brett und es keine Rodelbahnen gibt, können sie mit den Schlitten nicht wahnsinnig viel tun: so ziehen die Großen die Kleinen über den zugefrorenen, verschneiten See, dann über die Wiesen bis nach Hohenkirchen hinüber. Viele, viele Kilometer weit. Was für eine wunderbare Winterwelt! Bis zum Horizont nichts zu sehen als eine glatte, weiße Fläche. Man stiefelt immer weiter über die schimmernde Ebene oder lässt sich auf dem Schlitten von anderen mitziehen. Niemand kann erkennen, wo der kleine See aufhört und die Auen beginnen, weil die ganze Gegend gleich aussieht unter der unendlichen Decke aus Schnee.
Weiß ist auch der Himmel. Es ist eine so trockene Kälte, dass man nicht einmal nasse Füße bekommt. Die Luft ist frisch, dringt tief in die Lungen. Hermine fühlt sich überhaupt nicht müde, als sie an diesem späten Nachmittag nach all dem Toben und einer riesigen Schneeballschlacht dann in der Küche beim Abendbrot sitzt. Ihr ist herrlich warm, ihr Gesicht glüht. Tausend Sachen fallen ihr ein und sie hört nicht mehr auf, zu erzählen und zu plappern. "Das Kind ist aufgedreht wie ein Uhrwerk", sagt Resi. Und dazu ist Hermine auch noch hungrig wie ein Wolf.

*



EINE ZUFLUCHT

Aber dies geschieht auch im Winter 1944/45: Als das Reich, das tausend Jahre hatte dauern sollen, in Chaos und Trümmern untergeht, quillt das einsam gelegene Gut Morgenau, ebenso wie die Orte und Gehöfte der Umgebung, über von armseligen, verlumpten Gestalten. Ganze Trecks ausgehungerter Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, von der nachdrückenden russischen Armee vor sich hergetrieben, haben es gerade noch bis nach Bayern geschafft. Aus allen Himmelsrichtungen retten sich nun gebeutelte, entkräftete Menschlein, teils in größeren Gruppen, teils zu zweit oder zu dritt, durch die Wälder hierher. Es ist, als ob die alten Mauern von Morgenau aus den Fugen brechen.

Jedes winzige Zimmer ist bald vollgestopft mit Vertriebenen. In Ställen und Scheuern schlafen zwischen Vieh und Heu Kinder, Mütter, Greise. Jeder Pferch, jede Abstellkammer beherbergt Flüchtlinge. Das ohnehin schon durch die Zahl der Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen aus den Nähten platzende Morgenau ist jetzt gnadenlos übervölkert. Sogar in der Kapelle auf der kleinen Insel lagern die Menschen auf Matratzen und Notbetten. Natürlich gibt es an den meisten Plätzen weder Toilette noch Waschgelegenheiten. Im Herrenhaus hat die Verwaltersfamilie nur noch zwei Räume zum Schlafen. Zwei Zimmer für fünf Erwachsene und zwei Kinder. Monika, Lisa, Hermine und Werner liegen nun nachts auf Matratzen am Boden. Jedes andere Zimmer ist zur Unterkunft für die Flüchtlinge geworden.

In den Kellern lungern siebzehn-, achtzehnjährige deutsche Soldaten. Das letzte Aufgebot des Führers hatten sie sein sollen. Verängstigte Deserteure, denen noch jetzt durch fanatisch den Endsieg beschwörende Kommando-Offiziere der Tod droht. Tatsächlich ... wenn ein solcher Junge ergriffen wird, kann es geschehen, dass man ihn aufhängt oder erschießt.
Kindersoldaten ...Wenn sie Hunger haben, halten sie sich an Resi, die rothaarige Magd, oder an Halena, die Ukrainerin. Beide sind wie Inseln der Ruhe in all der Hektik. Jedem Bedürftigen lassen sie zumindest eine warme Suppe zukommen. Und Brot für die hungrigen Menschen wird massenhaft gebacken, täglich drei mal so viel wie früher. "Bis der letzte Speicher leer und das letzte Getreidekorn verbraucht ist", sagt Resi.
Aber Halena! An ihren Rockschößen möchte Hermine sich am liebsten festklammern, wenn sie ihr im allgemeinen Chaos ab und zu über den Weg läuft. Die Kleine ist ganz aus dem Häuschen. Irrt fremd und doch fasziniert zwischen all diesem Geschehen hin- und her. Morgenau ist überfüllt mit merkwürdigen Leuten. In zerrissenen Kleidern, krank, mit wenigen Sachen sind sie gekommen, mit Leiterwägelchen, manche sogar auf Fuhrwerken, Kinder sind da, mit denen man stundenlang aufgeregt in dem ganzen Trubel herumrennt, aber irgendwie doch nicht richtig sprechen und spielen kann.

Nicht als ob das Leben immer NUR schlimm wäre in diesen Tagen. Oft ist das Ganze ja auch spannend für Werner und Hermine. Und die Flüchtlinge sind auch geduldig und dankbar und freuen sich, wenn um sie herum doch manchmal noch etwas halbwegs Lustiges passiert.

Die Angekommenen aus dem Osten werden nach zirka zwei Wochen mit Lastautos abgeholt und in rasch errichtete Notquartiere in die Nähe von Städten gebracht, wo die Kranken ärztliche Betreuung haben, wo alle besser untergebracht und verpflegt werden können. So versucht das zusammenbrechende Regime - oder eher seine kleinen, korrekten Beamten und Hilfskräfte - noch immer eine Art Ordnung aufrecht zu erhalten und die Menschen vor dem größten Elend zu bewahren.

Die jungen Soldaten bleiben natürlich bis auf weiteres im Keller versteckt.
In Morgenau kehrt wieder eine Spur von Alltag ein.

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* Zur Beachtung: Die in Fett gedruckten Abschnitte sind Originalauszüge aus den Flugblättern der 'weißen Rose'.

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Evakuierung 3


Was vorherging:
Töten sie tiere
Hermine wird 1939 geboren. Als sie ungefähr 1 Jahr alt ist, bei der Geburt des Bruders Werner, stirbt ihre Mutter. Die Kleine wächst mit Haushälterinnen, später bei einer Tante auf. Der Vater ist im Krieg. Als er 1943 wieder heiratet, kommt Hermine nach Marienstock zu Lisa, der ‚zweiten Mutter‘. Dort trifft sie auch mit dem ihr unbekannten, jüngeren Bruder, Werner, zusammen. Papa ist noch immer an der Front.
1944 fährt Lisa mit den beiden Stiefkindern in die ‚Evakuierung‘ nach Bayern. Lisas Mutter ist dort die Ehefrau des Verwalters des Gutshofes Morgenau. Nach mühsamer Zugfahrt durchs zerstörte Deutschland kommen sie an. Auf Gut Morgenau wohnen noch Lisas zwei Halbschwestern Agnes und Monika,auch Mägde, männliche und weibliche ‚Fremdarbeiter‘,russische und französische Kriegsgefangene. Es kommt die Zeit der feindlichen Luftangriffe. Über Morgenau ziehen allierte Bombergeschwader hinweg.
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DER KONVOI

Monika Vogt schreibt in ihr Notizbuch:

Auf der Straße zwischen den Kartoffeläckern, zirka dreihundert Meter vom Herrenhaus entfernt, ragen heute morgen die teils verkohlten, teils noch glimmenden Ruinen zweier Jeeps auf. Und da sind noch zwei ausgebrannte, größere Kastenfahrzeuge, auf deren Dachresten man undeutlich die Zeichen des Roten Kreuzes erkennt. Es ist ein Konvoi gewesen, mit dem sich offensichtlich eine Gruppe deutscher Offiziere und Ordensträger vor den näher rückenden Feinden hat retten wollen - so sagt zumindest mein Vater. Obwohl ... am besten redet man nicht davon. Tatsache ist - und das hat man nachträglich recherchiert - in diesen Rote-Kreuz-Autos befanden sich vor dem Angriff KEINE Verletzten. Das Emblem sollte wohl eher zur Tarnung dienen. Da es internationales Gesetz ist, dass Krankenfahrzeuge des Roten Kreuzes niemals angegriffen werden dürfen, so hatte man wohl gehofft, auf diese Art von den Tieffliegern verschont zu bleiben. Aber die Amis mussten von dem Betrug gewusst haben, oder vielleicht war ihnen das Rot-Kreuz-Zeichen einfach nichts wert. Auf alle Fälle haben sie im frühen Morgengrauen aus ihren Jagdbombern die Fahrzeuge in Brand gesetzt, wahrscheinlich sogar Bomben geworfen.

Wir wissen nicht genau, wie viel Leute umgekommen sind, noch bevor sie sich haben zu uns ins Haus oder in die Wälder retten können. Vier Männer und eine Frau haben wir tot geborgen. Ihre Leichen(teile) lagen auf dem Feld. Vater hat sie vorläufig in den Eiskeller tragen lassen, denn sie müssen ja untersucht und identifiziert werden. Die Schwerverletzten haben wir ins Krankenhaus gebracht, andere, die leichter davon gekommen sind, möchten eine Weile hier bei uns bleiben. Es sind höchste Offiziere – mit ihren Liebchen - so heißt es hier. Sie haben Getränke und Mahlzeiten gefordert und uns Geld dafür angeboten. Mutter ist ratlos, Vater wütend. Er verabscheut, wie er sagt, solche verantwortungslosen, feigen Kreaturen, die an dem ganzen Elend mitgestrickt haben und nun mit allen Mitteln versuchen, ihre eigene Haut zu retten. Denen ist es doch gleichgültig, dass sie alle Menschen hier durch ihre bloße Anwesenheit in größte Gefahr bringen.

*

Auch Hermine sieht die verkohlten Autowracks auf der Straße zwischen den Äckern, als sie am Morgen aus dem Fenster schaut.
"Gestern waren die nicht da!"
"Komm weg hier!", sagt Resi.
Sie und Werner dürfen heute nicht einmal hinüber ins Wirtschaftsgebäude zum Frühstück. Sie bekommen es auf ihrem Zimmer.

Hermine weiß genau: In der Frühe ist hier etwas passiert. Da war ein Rummsen, da waren schreckliche Explosionen draußen. Etwas später Rufen und Fußgetrappel im Haus. Dann war Monika gekommen und hatte den beiden Kindern befohlen, schön im Bett zu bleiben. Hermine hatte keine Angst gehabt, sie war nur aufgeregt. Es war klar: etwas stimmte nicht.

Irgendwann hatte sie aber aufs Klo gemusst. Auf dem Weg dahin hat sie dann im schwarzen Salon eine todmüde, blasse Frau liegen sehen in einem grauen Kostüm, ohne Schuhe, ihr Gesicht, ihr Haar, die Seidenstrumpf-Beine ganz blutig. Ein paar Männer mit zerrissenen Uniformen lagen auch blutig da.

"Ach, du hast das geträumt!", sagt Resi.
"Nein, nein!"
Hermine hatte es nur ganz kurz gesehen, weil Halena herbei gerannt war und sie gleich von der Tür weggezogen hatte...
Jetzt sind alle so komisch und wollen den Kindern weismachen, alles wäre in Ordnung ...

"Und die Menschen in den Autos?" jammert die Kleine.
"Die sind in den Wald gelaufen. Es ist ihnen nichts passiert", sagt Resi.
"Nein, es ist niemand gestorben", beteuert sie, weil sie ahnt, um was die Gedanken Hermines kreisen.
"Glaub ich nicht, glaub ich nicht !"
"Die Leute sind alle am Leben", sagt jetzt auch Marie.
"Ich will aber wissen, was los ist!"
"Es ist nichts, komm, trink die Milch!"
"Ihr lügt, ihr lügt", schreit Hermine.

Nachher dann werden die beiden Kinder von Marie in die Baracke am Waldrand und dort in die Kammer der Franzosen gebracht. Damit sie die Vorgänge im Haus nicht mitkriegen sollen. Pierre und sein Freund tun ganz ahnungslos. Als Werner vor die Tür will, hält ihn Pierre aber fest.
"Ihr müsst eine Zeitlang hier drin bleiben, eure Grandpère hat es befohlen."

*





DIE AMERIKANISCHEN PILOTEN

Eines Tages werden neue Kriegsgefangene nach Morgenau gebracht. Amerikaner diesmal. Zirka fünfzehn.
Männer in Uniformen, turmhohe Gestalten, so marschieren sie lässig und mit recht vergnügten Gesichtern über den Hof.

Hermine starrt ehrfurchtsvoll. Allein schon, weil sie A-me-ri-ka-ner sind, sind sie besonders. In letzter Zeit drehten sich die Gespräche der Erwachsenen beim Mittagessen meistens um Amerika und dass nur Amerika Schuld ist, wenn Deutschland jetzt den Krieg verliert. Mit Furcht, aber auch mit versteckter Bewunderung spricht man von diesem Land und seinen Menschen, denen vor allem Lisa, die Stiefmutter, trotz der Luftangriffe noch immer Anstand, Fairness und Edelmut zutraut. Ja, auf die Amerikaner bauen manche Menschen hier in einer vagen, merkwürdigen Hoffnung.

Es herrscht große Aufregung auch unter den Mägden und Ostarbeiterinnen, als man die ersten Vertreter dieses sagenhaften Volkes auf Morgenau erblickt. Es seien abgeschossene Flugzeugpiloten, die sich mit ihren Fallschirmen über der Normandie hätten retten können, so geht bald das Gerücht um ... Wie hochinteressant.

"Ei ei, da sind ja ein paar schöne Kerle drunter", meint Klara in der Küche. Auch ein Schwarzer gehört zu den Gefangenen und das setzt ihrer aller Neugier die Krone auf. Einen ‘Neger’ hat bisher niemand von ihnen je zu Gesicht bekommen.

"Heil Hitler"–grüßend fahren die SS-Leute auf dem LKW, der die Amerikaner gebracht hat, bald wieder davon.
- Einer oder zwei dieser Uniformierten müssen doch wohl zur Bewachung der Gefangenen auf dem Gut geblieben sein, würde einem der gesunde Menschenverstand sagen. Hermine hat in späteren Jahren lang überlegt. Aber tatsächlich war ihr außer dem schon früher erwähnten, alten Toni, nie ein Gefangenenbewacher in Morgenau aufgefallen. Und sie glaubt noch heute, dass tatsächlich sonst keiner da war. -

‚Wenn Amerika so mächtig ist, warum sind dann seine Soldaten als Gefangene nach Morgenau gekommen? Und warum wehren sie sich nicht? Wo doch hier niemand auch nur halb so stark ist wie sie?‘, zerbricht sich Minchen den Kopf.

Die ‘Kanzlei’, der letzte, noch zu entbehrende Raum im Herrenhaus, wird ausgeräumt und für die Männer hergerichtet. Man zimmert rasch für die langen Kerle Holzbetten. Aus Platzmangel jeweils drei übereinander.

"Geht mit diesen Gefangenen gefälligst höflich um!", schärft der Herr Verwalter den Mägden ein. Das hätten die ohnehin getan. Wo das doch so hübsche, lachende Burschen sind.
Staunend stehen Werner und Hermine an der Tür und spitzen mit erregten Gesichtern in die Kanzlei hinein, in der jetzt die fremden Gefangenen sind. Einer von ihnen ruft den Kindern ein paar Worte zu und lacht. Herminchen flüchtet schnell ein paar Schritte zurück, kommt dann wieder langsam herbei geschlichen und schwupp-di-wupp, da hat der Mann es schon auf den Arm genommen und fragt nach seinem Namen. Sie schenken den Kindern auch in silbriges Papier eingewickelt, dünne, feste, rosa Streifen ... Schuing Gam ist das. Es schmeckt pfefferminzig. Man darf es nicht essen, nur lutschen und kauen, bis alles Aroma langsam raus ist.
"Dann klebt man es unter den Tisch", erklären die Männer und machen es gleich vor...
"No, no, verboten ... itse Tschook". Sie lachen.

Die Amerikaner freuen sich, wenn die Kinder kommen. Brian malt ihnen Bambis und bunte Mäuse, als sie Papier und Farbstifte mitbringen. Sie lernen ein bisschen Englisch und die Amerikaner von ihnen ein paar Brocken Deutsch.
Die Männer halten sich immer in diesem engen Zimmer auf, rauchen und spielen Karten. Sie haben keine Arbeit wie die anderen Gefangenen. Es gibt in Morgenau einfach nichts zu tun für amerikanische Piloten.
Manchmal singen sie zusammen Lieder.
Jeden Tag gehen die Kinder ihre Freunde besuchen. ‚Fränds‘.

Aber nach einer Weile hört man die Männer nicht mehr so viel lachen. Und es riecht schlecht in ihrem Zimmer, obwohl die zwei Fenster weit offen stehen. Fast wie auf einem Klo. Matt liegen die meisten Amerikaner auch am Tag in den Bettkojen. Sie spielen nicht mehr mit den Kindern und Zigaretten haben sie auch keine mehr. Wo doch vorher immer der heimelig würzige Geruch des Tabaks im warmen Zimmer schwebte. Alles hat sich verändert. Herminchen sieht nur noch in traurige Gesichter und müde Augen.

Später lässt man die Kinder nicht mehr zu ihnen hinein, denn die Amerikaner sind krank geworden. Sie haben fast alle furchtbare Durchfälle bekommen von dem guten, deutschen Essen und sind dünn. Das sieht nicht schön aus, weil sie ja so große Männer sind und jetzt fast wie Knochengestelle.


Herr Vogt, der Gutsverwalter, sitzt am Fernsprecher und versucht, eine halbwegs kompetente Amtsperson in die Leitung zu bekommen. Wird von Pontius zu Pilatus weiter verbunden.
"Unsere amerikanischen Kriegsgefangenen brauchen ärztliche Hilfe", behauptet er, "sie scheinen sich einen Virus eingefangen zu haben und gehören dringend in ein Lazarett..."
Es geht nicht", wird er gleich abgeschmettert. "Wie stellen Sie Sich das vor.
"Kultivierte Leute sind das, die kann man nicht krepieren lassen wie Vieh."
"Ja und ... Deutsche sterben auch. Diese Amis interessieren mich einen feuchten Kehricht!", sagt der nationalsozialistische Funktionär am anderen Ende der Strippe.
"Diese Männer sind nicht irgendwer... HOCHRANGIGE Offiziere sind das ... also, wenn die noch länger auf Morgenau bleiben, kann ich für nichts garantieren!"
"Mir sind die Hände gebunden!"
"Wenn auch nur einer von ihnen wegstirbt, werden wir eines Tages ein großes Problem haben ... Sie wissen, was ich meine? Sollten wir die Sache nicht lieber mit Klugheit ..."
"Mmmmmh"
"Wenn diesen Leuten etwas passiert, ist dies gewiss NICHT im Sinne des Führers!", fügt der Verwalter noch hinzu, obwohl inzwischen jeder Trottel weiß, dass längst nichts mehr im Sinn des Führers ist.
"Ein zweites, zögerndes ‘hmmmmh’ kommt durch die Leitung.

Herrn Vogts Hilferuf zeigt aber doch Wirkung. Die Piloten werden am nächsten Tag mit einem LKW in Begleitung zweier deutscher Krankenschwestern abgeholt.

*



Hinter dem Wirtschaftsgebäude wird von den französischen Kriegsgefangenen ein mannstiefer Graben ausgehoben. Nur mit Muskelkraft und Spaten. Auch Herr Vogt, der Verwalter, legt kräftig mit Hand an.

Hermine geht täglich nachschauen. Jedes Mal ist der Graben ein ganzes Stück tiefer und länger geworden. Das Kind steht staunend, guckt zu, wie die Männer sich abmühen. Am Schluss, nach zirka einer Woche, zieht sich der Graben fast fünfzig Meter weit und ist so tief, dass die Köpfe der Arbeiter nicht mehr herausschauen, wenn sie drin stehen. Sie hätten immer weitermachen können damit, aber anscheinend hat auf einmal niemand mehr Lust. Vielleicht auch deswegen, weil eines Morgens kniehoch Wasser darin steht. Grundwasser.
"Wozu macht ihr das Ding?", hatte sie gleich am Anfang gefragt. Aber die Gefangenen hatten nur mit den Schultern gezuckt und gegrinst ...
"Ist Versteck, aus dem man Feind ganz schnell totschießen kann", hatte Jean Pierre lachend gesagt.

Natürlich redet auch die Familie beim Mittagessen über das wundersame Projekt.
"Da stehen die Amis in Thüringen und die Russen vor Berlin und du Schlauberger hebst hier Panzergräben aus. Bist du noch zu retten?" sagt die Frau.
"Ist ein Befehl von oben", antwortet ihr Mann müde.
*



EINE VISION VON MACHT UND GLORIE

Gegen zehn Uhr morgens an einem sonnendurchfluteten Maitag des Jahres 1945 sitzt Hermine an ihrem Lieblingsfenster im Erker im zweiten Stock des Haupt- oder Herrenhauses. Resi kämmt ihr mit dem Staubkamm weiße Nissen vom Kopf, was nur halbwegs funktioniert, denn die Dinger kleben an jedem einzelnen Haar fest..

Fast alle Kinder sind von Läusen befallen. Die Frau Verwalterin hatte im Ernst gemeint, das einzig vernünftige wäre, Hermines ganze Schnittlauchlockenpracht abzuschneiden, am besten noch den Rest ratzeputz wegzurasieren.
"NEIN, nein!", hatte Hermine geschrieen und gleich losgeflennt.
"Muss ja nicht sein", hatte es dann geheißen.

Seither nimmt sich Resi der langen Haare des Mädchens an. Wenn man auch die Nissen nicht so gut herausbekommt, die Läuse kriegt man schon weg mit dem engzahnigen Kamm. - Und wenn die Scheusale fort sind, können sie auch keine Eier mehr legen und sterben so auf einem Kinderkopf langsam aus - So weit Resis Theorie.

Auch an diesem Morgen suchen ein paar flinke Läuslein, von den Zähnen des Kammes beschleunigt, fluchtartig das Weite. Eigentlich knackt man sie zwischen den Fingernägeln, aber Herminchen bringt das nicht fertig: "Die armen, armen Läuse!" Resi lässt deshalb die armen Läuse am Leben. Weil es der Kleinen sonst womöglich wieder schlecht wird.. Zwei, drei blutgenährte Parasiten laufen also hastig übers Fensterbrett davon...

Als Hermine ihnen nachschaut und dann zufällig durch die Scheibe nach draußen sieht - das Haus steht auf einer Anhöhe -, da stößt sie einen Schrei aus, zeigt mit der Hand nach vorne, wird starr, kriegt vor Staunen den Mund nicht mehr zu..

Panzer rollen am Horizont entlang. Unzählige. Hermine hat schon in der Zeitung Bilder davon gesehen. Jetzt sind die Echten da. Hunderte. Hunderte. Einer dicht hinter dem anderen. Ein unendliches Band von Panzern zieht sich über die Serpentinen der Landstraße, die sich zirka einen Kilometer hinter Morgenau zwischen Wiesen und Äckern dahin schlängelt. Auch Lastautos sind in der riesigen Kolonne. Fahrzeug auf Fahrzeug, wie eine mächtige Raupe, gleiten sie ruhig in endlos langer Prozession über die Straße, Panzer und grün-braun gefleckte offene LKWs. Aber eines ist dabei seltsam ... Hermine hört keinen Ton.
So unendlich viele Fahrzeuge am Horizont und dazu die Stille ... Jetzt denkt Hermine, dass sie wirklich träumt.
Inzwischen sind alle Hausbewohner an die Fenster gelaufen.
Und die Kolonne rollt und rollt. Immer neue Panzer sieht man weit hinten auf der Straße vorbeiziehen, LAUTLOS, während die Umrisse der anderen sich schon verschwommen in der blauen Ferne verlieren. Oben auf den Lastautos stehen im Licht der Morgensonne die fremden Soldaten. Die erkennt man aber nur mit einem Fernrohr, das Monika herumreicht. Auch aus den Panzerluken hängen sie wie Trauben heraus mit ihren gefleckten Uniformen. Blätter und Büsche ragen auf ihren Stahlhelmen.



Aus dem Notizbuch der Monika Vogt:

Die U.S. Army unter General Patton, die anscheinend seit Tagen Deutschland überrollt, hat jetzt auch Morgenau erreicht. Wir sind inzwischen von jeder Radio-Kommunikation abgeschnitten. Sogar das Stromnetz ist zusammengebrochen. Wir konnten hier nur ahnen, wie nah das Ende war.

Es ist ein unglaublicher Anblick. Seit Stunden wälzt sich die größte Kriegsmaschinerie der Welt wenige Kilometer von unserem Haus entfernt, über die Landstraße. Unaufhörlich. Es muss am Fön liegen, denn das Geschehen scheint viel näher, als es wirklich ist. Es ist tatsächlich so weit entfernt, dass zwar die Bilder sichtbar sind, aber kein Laut zu uns dringt.

Was für eine geballte Militärmacht!
"Eine Vision von Macht und Glorie", nennt es meine Mutter. Macht und Glorie! Ja, wird wohl so sein. WIR sind am Ende. Aber die Alliierten hätten nie den Krieg gewonnen, hätten sie nicht zuvor mit ihrer Luftwaffe so viele Menschen getötet und unsere Städte in Schutt und Asche gelegt.
So schreibt Monika.



Auf der nahen Landstraße rollen also die amerikanischen Panzer mit den Siegern langsam in endloser Flut vorüber, um Deutschland zu ‚besetzen.‘
Die Frau Verwalterin schickt schnell ein paar Leute zur Kapelle auf der Insel im Teich. Oben vom Turm flattert bald ein weißes Betttuch im Frühlingswind. Auch aus den Fenstern des Herrenhauses und der anderen Gebäude quellen die schneeigen Zeichen der Unterwerfung. Katharina hat jetzt das Kommando übernommen. Ihr Mann liegt mit einem Schwäche- oder gar Herzanfall - im Bett.

Mägde mühen sich, die Hitlerbilder und diversen hakenkreuzgeschmückten Urkunden wegzuschaffen, die schon vor Wochen von den Wänden abgenommen worden waren.
Die Bilder sind groß und die Rahmen sperrig, wollen nicht brennen. In der Aufregung findet man kein Benzin, um sie zu übergießen. Und unter den Tagelöhnerinnen geht hartnäckig das Gerücht, alle, bei denen die Amerikaner verbotene Bilder oder Nazisachen fänden, würden auf der Stelle erschossen. Da schmeißt man dann in Todesangst den ganzen Klimbim mitsamt den vergoldeten oder eichenhölzernen Rahmen in den frisch ausgehobenen Schützengraben und schüttet Erde darauf.

*




‘O WHEN THE SAINTS COME MARCHING IN’

Am Morgen, an dem General Pattons siegreiche Armee über die Landstraße rollt, herrscht auf Morgenau, wie überall im ländlichen Bayern, erst einmal ein irres Durcheinander. An diesem ebenso sonnenheiteren wie geschichtsträchtigen Frühlingstag befiehlt die Verwalterin den deutschen Mägden, sich hässlich zu machen und in Scheunen und auf Dachböden im Heu zu verstecken. Denn man hat aus Thüringen schreckliche Nachrichten gehört: Dass die Feinde wie Tiere über das Land hereinbrächen. Nach ‘deutschen Fräuleins’ gierten sie, vor allem die schwarzen Soldaten. Jedes halbwegs passable weibliche Wesen, das ihnen in die Hände falle, würde vergewaltigt, heißt es. Einige Unglückliche seien sogar schon umgebracht worden.

Inzwischen sind ein paar amerikanische LKWs aus der Schlange ausgeschert und im Innenhof von Morgenau angekommen. Baumlange, athletisch gebaute Soldaten, die Waffe im Anschlag, beginnen ihren Erkundungsgang.

Lisa ist die einzige junge, deutsche Frau, die man nicht versteckt hat. Denn sie spricht Englisch. Monika spricht auch Englisch, aber sie ist wohl zu schön, als dass man sie der soldatesken Wollust hätte aussetzen dürfen. Höchstwahrscheinlich hat Lisa sich freiwillig geopfert, um für Morgenau die Situation so gut wie möglich zu entschärfen.

Denn Lisa ist ja Mutter mit einem Winzling von Söhnchen. Und wenn man den Amis eine Familienidylle vor die Augen setzt, stimmt sie das vielleicht mild. Irgendwie weiß man, dass sie Kinder besonders mögen ... Vielleicht ist die Idee also gar nicht so verkehrt. Man platziert Lisa also in der Eingangshalle des Herrenhauses, denn dort kommen die Amerikaner auf alle Fälle durch, wenn sie zum Plündern weiter vordringen wollen. Die Frau Verwalterin bleibt ebenfalls da und tut, als ob sie an einem Strumpf stricke.
Hermine und Werner sind schnell schön angezogen worden, müssen nun brav dabei sitzen. Daneben, in seinem hellblau mit Spitzen verzierten Stubenwagen liegt der Maxl in seiner besten Garnitur. Ein blonder Wonneproppen. Man hat außerdem Halenas Baby mitsamt seinem Bettchen herein geschoben. Auch Halena selbst ist anwesend und hält ihre kostbaren russischen? ukrainischen? Ausweispapiere bereit. Zwar spricht sie kein Englisch, aber sie könnte sehr wertvoll sein als Vermittlerin zwischen den Deutschen hier und den Siegern, zu denen ihr Heimatland ja nun ebenfalls gehört. So hofft man nun, alles Menschenmögliche getan zu haben, um ein schlimmes Schicksal von Morgenau abzuwenden.

Dann kommen die fremden Soldaten. Nicht viele, wenn man bedenkt, was für eine riesige Kriegsmacht da draußen vorbeirollt. Höchstens dreißig kommen im Lauf des ganzen Tages ins Haus, meistens in Dreier- oder Vierergruppen.

Sie nehmen die Radios, Armband- und Wanduhren, die Photoapparate, sogar Monikas wertvolles Fernrohr. Und alles, was ein bisschen schön und kostbar aussieht. Sie bekommen das auf lässige Weise, indem sie Katharina mit der Pistole an der Schläfe durch die einzelnen Zimmer schieben, wo sie Schranktüren und Schubladen öffnen muss. Da kennen die Amis kein Pardon.

Ein anderer Pulk von Soldaten sieht sich in den Wirtschaftsgebäuden um. Man nimmt die riesigen Aluminiumkannen voll Milch und den Käse aus der Küchenkammer. Den Eiskeller haben die Amerikaner noch nicht entdeckt. Da hätten sie erst recht lukullische Beute gemacht.

Dann hält einer Halena - ausgerechnet Halena! - die Pistole an den Kopf und verlangt ihren einzigen Ring. Den scheuen Einwand, dass sie ‘Friend’ sei, versteht er nicht. Oder will er nicht verstehen. Aber dann schon, als Lisa es ihm auf englisch erklärt und man ihm Halenas Ausweis zeigt. Das ist natürlich etwas anderes. Da lacht er übers ganze Gesicht und gibt Halena feierlich die Hand.

Ob sie Nazis im Haus hätten, guns, gold, jewelry?, fragen die nächsten, bald darauf eintreffenden Amis. Natürlich wieder mit drohender Pistole. Lisa sagt beherzt "no". Sowas habe man nicht im Haus.
Es könnte höchstens sein, dass ein paar kranke, achtzehnjährige deutsche Soldaten noch immer in verborgenen Kellerlöchern herumlungern! Aber das brauchen die Amis wirklich nicht wissen.

Nein, die Sieger dringen in keine unterirdischen Kammern ein, nehmen nur das, was sie sehen und sich leicht im Vorbeigehen unter den Nagel reißen können, interessieren sich einen Dreck für eventuell noch vorhandene Feinde oder zu vergewaltigende deutsche Fräuleins. Und nachdem alle Wertsachen weg sind, zeigen sie ihre Vorliebe für Radis,(Rettich) Dampfnudels, Eggs und frisch gebackenes Brot. Danach fragen sie immer wieder.

Als nachher auch die plünderbaren Lebensmittel zu Ende sind und Lisa ihnen das in gepflegtem Englisch plausibel macht, da sind die Besucher nicht böse. Es scheint sich unter ihnen schon herumgesprochen zu haben, auf welchen Höfen noch etwas zu holen ist und wo nicht.
Die jetzt trotzdem kommen, scheinen tatsächlich nett zu sein und vor allem locker, fangen sogar an, mit den zwei Frauen zu plaudern.
Sie zeigen auch, dass sie Kinder gern haben.

Zärtlich streichen raue Männerhände über Werners und Hermines Kopf.
Sie seien ‘beautiful ladies’, sagt ein Soldat zu Lisa und Halena ... und ihre Kleinen ‘really cute’... Doch sein Kamerad spuckt auf den Boden:
"You‘re crazy... those sweet kids... are nothing but little nazi-rats."
Die süßen Kinder - inclusive Halenas kleinem Russen! - also nichts als böse Nazi-Ratten!

Lisa wird das später immer und immer wieder grinsend erzählen.

Jetzt gibt ein freundlicher, schwarzer Soldat den Kindern Kaugummi. In weiches Silberpapier eingewickeltes, herrliches Kaugummi. Und jedem eine große Tafel Schokolade dazu. Werner ist ganz aus dem Häuschen. Lisa blickt kokett zu dem schwarzen Mann auf.
"Nun bedank dich schön bei dem lieben Onkel", drängt sie den Vierjährigen, "sag: I thank you!"
Aber Werner hat doch schon ein paar viel bessere Worte gelernt. Von den Piloten:
"Juu madderfacking san of e bitch", ruft der kleine Kerl, "juu ahr kreysi." Das haben die gefangenen Amerikaner schließlich auch zueinander gesagt und sich darüber immer sehr gefreut.

Der schwarze Soldat starrt den Werner ein paar Sekunden entgeistert an und packt ihn dann, - vielleicht, um ihm den Hals umzudrehen - dann lacht er schallend los, klatscht sich auf die Schenkel. Auch seine Begleiter finden den Ausspruch des Knirpses auf einmal superlustig und kriegen sich nicht mehr ein vor Lachen. "Say it again, boy", ruft einer. Wernerchen strahlt übers ganze Gesicht.

Lisa erzählt das später als tolle Anekdote überall herum. Wie der Bub - und vielleicht sie alle - hart am Rand einer Katastrophe vorbeigeschrammt seien und nur der Humor der schwarzen Soldaten die Situation gerettet habe...

Das ist aber dann eine ganze Weile später. Da ist die Furcht vor den Siegern schon abgeebbt. Die Leute können bereits wieder über einen Zwischenfall wie diesen schmunzeln.

*

Hermine aber muss, als der Krieg vorbei ist, immer an 'ihre' Amerikaner denken. An Bob, Jim, Carl, die so lustig waren, an Brian, der sie auf seinen Schoß gesetzt hatte, wenn er mit ihr Mickymäuse zeichnete. An Dave, mit dem sie Bilderbücher anschaute und der ihr englische Worte beibrachte. Und Lieder: ‘Rolling home...’ , ‘Lilli Marleen...’
Auch die Stilleren hatten ihr zugelächelt, ihr manchmal sogar übers Haar gestreichelt.
Brian, den hatte sie am allerliebsten gehabt.
Wo die jetzt wohl alle sind?

Sie gibt keine Ruhe und löchert die Leute auf Morgenau mit Fragen. Doch niemand weiß, wie es mit den amerikanischen Gefangenen weitergegangen ist.

"Ich hab genug eigenes Elend, da interessieren mich die Scheiß-Amis nicht", sagt Klara. Sie hat kürzlich die Nachricht bekommen, dass ihr einziger Bruder an der Westfront ( Normandie ) gefallen ist.

Hermine aber gehen die Amerikaner nicht aus dem Sinn.
"Gell Mama, sie sind wieder alle gesund geworden?"
"Natürlich!"
"Schwör es hoch und heilig!"
"Ja doch", sagt Lisa entnervt.

Da fragt das kleine Ding sie ständig nach den amerikanischen Soldaten, während sein Vater irgendwo in den Weiten Russlands in Gefangenschaft geraten oder vielleicht schon tot ist.
"Die Amerikaner ... ist es auch wirklich wahr, dass sie alle leben? Schwör es", sagt Hermine eine Stunde später schon wieder.


"Ja, ja... und jetzt halt endlich deinen Schnabel."

*




EINE FLUCHT

Die russischen Kriegsgefangenen und die polnischen Zwangsarbeiter seien im Siegestaumel ihrer Nationen außer Rand und Band geraten, heißt es. Sie hätten sich Gewehre beschafft und lauerten jetzt ihren ehemaligen Sklaventreibern auf, um sich zu rächen.

"Auf Gut Altmeislingen haben sie den Verwalter mit einem Lastwagen gejagt und durch eine Sackgasse getrieben, sind dann auf ihn losgefahren. An der Mauer haben sie ihn zerquetscht, dass ihm die Därme aus dem Leib hingen. Ich weiß es von meiner Cousine, die arbeitet dort", sagt Resi.

"Aber dann war er ja tot!" Hermine wird weiß wie die Wand.
"Nein, nein, er war nicht tot ... sie haben ihn im Krankenhaus wieder zusammengeflickt".


Herr Vogt und Katharina wagen sich nicht mehr vor die Tür. Im Herrenhaus bleiben in diesen Tagen die Fensterläden geschlossen, denn man hat über Fernsprecher erfahren, dass die befreiten Zwangsarbeiter auf abgelegenen Gutshöfen schon mehrere Verwalter durch die Scheiben erschossen hätten. Nicht, dass es konkrete Beweise für die bösen Absichten der Leute hier in Morgenau gäbe ... obwohl: Tatsache ist, dass der eine oder andere der bisherigen Gefangenen nun offen mit einem Gewehr herumläuft. Unruhe und Verwirrung lähmt nicht nur die Verwaltersfamilie, sondern auch die deutschen Mägde, die ja immer eng mit den Fremdarbeiterinnen Hand in Hand gearbeitet haben. Die einstmals freundschaftliche Kommunikation zwischen den bayrischen Landmädchen und den vom Hitlerregime aus dem Osten heran geschleppten Helfern ist jetzt auch zusammengebrochen.

Dann geht plötzlich das Gerede um, auch für Morgenau hätten die früheren Zwangsarbeiter einen ‘Tag der Vergeltung’ geplant. Von größter Angst getrieben, entschließen sich Lisa und Monika zur Flucht.

‘Wir bleiben hier. W i r haben nichts mehr zu verlieren...", insistieren der Verwalter und Katharina. "Die Agnes bleibt auch da. Was sollte sie allein machen, wenn uns etwas zustößt!"
Nein, die beiden Alten lassen sich nicht umstimmen. Und Agnes? Sie flucht wieder einmal nur hilflos vor sich hin und schlägt auf Monika ein, als die ihre Hand nehmen will.

Lisa zieht sich selbst und den Kindern ein dutzend Wäschestücke und Kleider übereinander, dass sie am Ende alle wie dicke, steife Stoffbündel da stehen. Den Maxl legt sie, umwickelt von Extrawindeln, in einen Tragekorb. Dann schleichen sie in der Dunkelheit aus dem Haus: Lisa und Monika mit dem Baby, Resi, Klara, Hilde und Waltraud, zwei weitere deutsche Mägde, sowie Hermine und Werner. Sie laufen durch die Nacht querfeldein über Wiesen und Äcker. Große Angst haben alle, nur die Kinder nicht, für sie ist die ganze Sache ein neues, geheimnisvolles Abenteuer.
Vielleicht werden sie ja schon verfolgt.

Die größte Furcht flößen ihnen jene angeblich lauernden, bewaffneten Unbekannten ein, die sich, wie es heißt, hordenweise zusammengerottet in der Gegend herumtrieben, die raubten, plünderten, mordeten. Fremdarbeiter aus Industriebetrieben und Überlebende aus den Lagern der Nazis! Endlich durch die Amerikaner befreit, überfielen sie jetzt einsame Gehöfte, ließen ihrem Hass, ihrer Wut auf die Deutschen freien Lauf, so ging die Kunde um.

An all diese Schrecknisse denken sie, während sie vom Einödhof Morgenau in Richtung des ihnen sicherer erscheinenden Ortes Hohenkirchen flüchten.

Die kleine Gruppe eilt also durch die von dünner Mondsichel nur schwach erleuchtete Nacht. Knackende Äste am Wegrand, dräuende Schatten hinter Gebüschen, aus der Ferne der sporadische Knall peitschender Schüsse ... die Kinder sind vor Spannung übererregt, die Erwachsenen halbtot vor Furcht. Endlich erreichen sie zitternd und ausgelaugt den Klosterberg in Hohenkirchen, wo sie bei den katholischen Nonnen Zuflucht finden.
*
In Morgenau haben die befreiten Gefangenen und Zwangsarbeiter es sich inzwischen in ihren Baracken gemütlich gemacht. Sie singen und feiern. Alkohol ist im Spiel.. Und irgendwann dringt man dann johlend ins Herrenhaus ein.

Eine Gruppe Russen zerrt den Verwalter aus seiner Kanzlei. Man packt ihn, traktiert ihn mit Worten, spuckt ihm ins Gesicht. Ein paar gehen mit Fäusten auf ihn los. Es kommt zu einem wilden Handgemenge, weil andere Gefangene sich schützend vor Herrn Vogt stellen und ihren Landsleuten die Gewalt wieder ausreden wollen. Auch hinzugekommene Franzosen schlagen sich auf die Seite ihres früheren Beaufsichtigers. Diese unerwartete Loyalität macht den alten Mann im Nachhinein glücklich. Als später einmal im Familienkreis von dem bewussten Tag die Rede ist, lächelt er unter Tränen.

Es ist aber wohl auch so, dass die provisorische Militärverwaltung - oder was immer das damals für eine Regierung ist - von Anfang an öffentlich Recht und Ordnung befiehlt und grobe Übergriffe auf Deutsche bei Androhung von Strafe verhindert. Wie sich alles genau verhält, erfährt Hermine nie. Aber Lisa, Monika, die vier anderen Frauen, Werner und sie selbst können schon nach drei Tagen zum Gutshof zurückkehren.

"Und DAS ist mir von dieser verflixten Flucht am besten in Erinnerung geblieben", wird Lisa, die Stiefmutter, Jahre später zu Hermine sagen, "nämlich ... als ich dir all deine Unterhöschen, Strumpfhosen, Latzhosen, Pullis übereinander und zuoberst noch dein Mäntelchen angezogen hatte und wir endlich losmarschieren wollten, da musstest du ganz furchtbar dringend aufs Klo ... da habe ich dich wieder ausgewickelt. Vor der ganzen Anzieherei hatte ich dich mehrmals gefragt, da KONNTEST du ums Verrecken NICHT ! Na ja ... das war wieder einmal typisch."

*



UNHEILVOLLER FUND

Das geschieht zirka eine Woche vor dem Einmarsch der Amerikaner:
Sophie, eine Tagelöhnerin, mit deren drei Buben Werner und Hermine manchmal spielen, findet auf dem Kartoffelacker einen Gegenstand, den sie für eine Schnapsflasche, vielleicht einen Flachmann aus Metall, hält. Die naive Frau hebt das Ding auf.
"Da hab ich was, das schenk ich meinem Kurt, wenn er aus Gefangenschaft zurück kommt!", ruft sie noch ihrer Schwester zu, die auf dem gleichen Feld arbeitet. Zumindest erzählt es diese später so ...

Es ist aber eine gefährliche Substanz in dem sonderbaren Behältnis. Sie ergießt sich anscheinend über Gesicht, Brust und Arme von Sophie. Was nun wirklich genau auf dem Feld geschieht, ob das Gefäß in ihren Händen explodiert, darüber mutmaßen die Leute in Morgenau bis zuletzt. Ob es eine Untersuchung gibt? Hermine erfährt das nicht. Der Unfallhergang bleibt sogar den Erwachsenen in jener Zeit verschlossen.

Zuerst ahnen auch die Ärzte im Hohenkirchener Krankenhaus kaum, wie schlimm Sophies Verletzungen sind. Sophie ist bei Bewusstsein und steht unter Schock. Zuerst denkt man nicht an Lebensgefahr, obwohl es der Armen schlecht geht. Sie ist sehr verletzt und hat bald große Schmerzen. Aber es sind ja keine inneren Organe betroffen und sie ist eine gesunde, zweiunddreißigjährige Frau mit schnell wieder stabilisiertem Kreislauf und kräftigem Körper. Bald heißt es, sie habe das Schlimmste überstanden. Bei der guten Nachricht der Ärzte atmet ganz Morgenau und Hohenkirchen auf. Bald aber scheint die Unglückliche wieder in eine kritische Phase zu geraten. Von Tag zu Tag wechselt ihr Zustand. Sie sei mit Phosphor verbrannt, heißt es dann auf einmal. Sophie kämpfe mit mächtigem Lebenswillen, sagen die Ärzte. Dennoch verschlimmert sich ihr Zustand immer mehr.

Sophies Schicksal erschüttert von Anfang an die Menschen.

Als die Amerikaner einmarschieren, hofft man auf Hilfe. Man hält den obskuren Behälter ohnehin für amerikanischer Herkunft, von einem U.S. Flugzeug abgeworfen. Jetzt werden die Amis bestimmt alles wieder gut machen. Man weiß, sie besitzen die modernsten Heilmethoden, die besten Ärzte der Welt. Da muss ja mit Sophie alles wieder in Ordnung kommen. Leider stellt sich heraus, dass selbst die Wundernation nicht helfen kann.. Es verbreitet sich dann das Gerücht, man werde die Patientin in eine Spezialklinik in die USA fliegen. Das geschieht allerdings nicht. Sie bleibt im Krankenhaus von Hohenkirchen.

Sie VERFAULE bei lebendigem Leib und bei vollem Bewusstsein, heißt es ein paar Tage später. Wohin man auch kommt, in der ganzen Gegend ... niemand spricht von etwas anderem. Wenn auch manche diesen rüden Ausdruck für Sophies körperliche Auflösung gebrauchen, die Wahrheit ist: täglich wächst das Mitgefühl mit der armen Frau. Die Leute sind selbst bis ins Innerste getroffen.

Ständig stünden Menschengruppen unter ihrem offenen Fenster im ersten Stock des Hospitals. Man rufe ihr aufmunternde Worte zu, der Gesangverein sänge sogar schöne Lieder für sie, um ihr etwas Gutes zu tun. Alle wollten ihr zeigen: "Du bist nicht allein!" Besuchen dürfe sie ja niemand mehr, erzählt Marie.

Hermine, die sich aus irgend einem – vergessenen - Grund mit Resi eines Tages in Hohenkirchen aufhält, nimmt einen süßlichen, Ekel erregenden, nie gekannten Gestank wahr, der dort aus dem Krankenhaus bis auf die Straße quillt.
"Resi ... was ist das?"
"So riecht es hier doch immer", sagt Resi, "das ist Lysol, ein Desinfektionsmittel, man benutzt es in allen Hospitälern der Welt, glaub mir!"
Aber Hermine glaubt ihr nicht. Sie riecht und spürt, es ist der Todesgeruch: Sophie verfault bei lebendigem Leib.

In Hohenkirchen erzählt man sich später, man habe ihr zuletzt noch die abgestorbenen Unterarme amputiert, in der Hoffnung, ihr Erleichterung zu verschaffen. Die verzweifelten Schreie der Armen seien viele Tage und Nächte lang aus dem Fenster ihres Krankenzimmers gedrungen, bis Gott sie endlich von ihren Qualen erlöst habe.
Hermine kann diese Geschichte mit der Frau lange, lange nicht vergessen.

*



DAS ENDE EINER WIRREN ZEIT


Dann kommt der Tag, an dem die Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen aus dem Osten abgeholt werden. Die Franzosen haben den Gutshof schon eine Weile vorher in Richtung Heimat verlassen.

Die Russen, Polen, Ukrainer mit ihren armseligen Bündeln, sind auf dem Innenhof von Morgenau versammelt, um in ihre Länder zurückgebracht zu werden. Ein paar deutsche Mägde, ein paar Tagelöhnerinnen stehen bei ihnen. Lastwagen fahren vor. Durch rüde Zurufe in rauer Sprache werden die Menschen auf verschiedene offene LKWs dirigiert, auf denen bereits ihre Landsleute aus anderen landwirtschaftlichen Betrieben der Umgebung sitzen..

Lisa, Monika und die Frau Verwalterin sind nicht hinunter gegangen. Auch Werner und Hermine nicht. Den Kindern hat man es verboten. Alle fünf stehen nun hinter den Vorhängen am Fenster des ‚schwarzen Salons.‘ Den Blicken der Leute im Hof verborgen, beobachten sie das Geschehen. Niemand von ihnen sagt ein Wort.

Iwan und Halena mit ihrem Baby sind gerade auf einen Lastwagen geklettert. Halena winkt heftig, die deutschen Mägde winken zurück.

Fast dreißig Menschen sind es, die Morgenau an diesem Tag verlassen. All die vom Krieg Herangespülten. Jetzt gehen sie wieder davon. Morgenau wird danach nie mehr so sein wie vorher. Ist schon jetzt ein Geisterhaus.

Da fahren sie dahin, gestikulierend, rufend, hektisch erregt, die sonst so ruhigen Ukrainer. Die rauen, polternden Russen, die immer freundlich zu den Kindern waren. All die Männer und Frauen. Sergei, der dem Werner ein Pferdchen geschnitzt hat. Janosch, der für alle Leute auf dem Hof die Schuhe flickte. Die Gruppe der stolzen Polinnen, unter ihnen Sonja und Dunja, die Schönen. Mit ihrem herben Charme, ihrem Humor, ihrer Lebenslust hatten die zwei selbst dem freudlosen, alten Toni manchmal ein wieherndes Gelächter entlockt.

Auf dem letzten, überfüllten LKW sitzt Ivo, der Bezwinger des wilden Stieres. Lässig lässt er die Füße von der Laderampe baumeln. Mit einer Hand hält er sich an der Seitenplanke des gerade anfahrenden Autos, die Finger seiner anderen halten die von Marie, der Küchenhilfe, fest umklammert. Marie rennt ein Stück mit dem Vehikel mit, rennt und keucht, bis der LKW schneller wird und sie außer Atem gerät. Am Ende lassen die beiden Menschen den Halt ihrer Hände los.

Marie bleibt wie eine Schlafwandlerin auf der Straße stehen. Starr. Den rechten Arm noch immer ausgestreckt. Dann gibt sie sich einen Ruck, knüpft ihr Kopftuch fester, wendet sich um, geht langsam zurück.

Die Lastwagenkolonne lässt jetzt die Pappelallee hinter sich, biegt auf die leere, sonnendurchglühte Landstraße ein. Hermine kann sie noch eine ganze Weile über die Serpentinen zwischen den Feldern dahinfahren sehen. Kleiner werden die Fahrzeuge, zuletzt kaum größer als Punkte, bis sie sich im flimmernden Blau der Ferne verlieren.

*


Bald darauf kehrt Lisa mit Werner, Hermine und Maxl nach Marienstock zurück.


*
 
H

HFleiss

Gast
Minou 12 Evakuierung Teil 1 -3

Wenn du die Texte, Inu, herausnimmst, weiß ich gar nicht, wohin ich dir schreiben soll. Deshalb schreibe ich dir zu 4 - Eine schöne Zeit bis 7 hier hinein. Aber, wie gesagt, vor Grundlegendem scheue ich mich, ich habe zu wenig Erfahrung. Was ich dir schreiben kann, ist die Sicht der Leserin.

Ganz zu Anfang: Es liest sich gut. Es geht flüssig durch den Text. Du hast eine Marotte: die Ein-Wort-Sätze. Manchmal läse es sich besser, wenn du einfach ein Komma machtest, statt eines Punktes. Mit Punkt kommt es ein bisschen gewollt bedeutungsschwer herüber.

Zum Griechenland-Teil:
Es fiel mir auf, dass dieser Teil im Grunde nur aus Beschreibungen besteht. Es gibt keinerlei Handlung, die Charaktere vertiefen könnten. Aber die Beschreibungen sind schön, sehr genau (beinahe zu penibel). Erinnert sich Minou nicht auch an bestimmte Szenen? Ich habe sie vermisst.

Kleinigkeiten:
Glaubwürdig erscheint es mir nicht, dass ausgerechnet Griechen eine Deutsche an Leni Riefenstahl erinnern. Es sei denn, sie sind alt genug, um sich an deutsche Besetzung zu erinnern. Weiß ich aber nicht, weil ich nicht ganz genau die Zeit weiß, nur, vermute ich mal, sechziger Jahre. Sind die jungen Leute dann älter als 20?

Von dem Wort Statur - gibt es da einen Plural? Es läse sich besser, wenn du schriebst: ihre Statur, und damit meinst die Statur beider.

"Dann in Griechenland geht Minou ihr Schmuck verloren ..."
Besser: der Schmuck. Denn dass es ihrer ist, versteht man.

"Es sind die alten Herrschaftsvillen noch da."
Ein bisschen hintenrum gekratzt. Besser: Die alten Herrschaftsvillen sind noch da.

"... geradewegs aus den hellen Zeiten des alten Griechenland entsprungen, den Kindheitstagen der Menschheit."
Die Kindheitstage der Menschheit sind überstrapaziert, lass sie besser weg.

"Schönheit ist damals für sie wichtiger als alles!"
Warum das Ausrufezeichen, damit schreist du (nicht nur im Internet) den Leser an. Mit Punkt reicht doch.


Zu 05 - 7:
Diesen ganzen Teil finde ich umwerfend lebendig erzählt.
Hier gibt es Szenen, wenn auch kurze, aber sie charakterisieren die Situation, die Zeit und auch die Beteiligten. Finde ich gut gemacht. Manches ist mir zu ausführlich, z. B. die Stelle, wie sie zu ihrem Namen Minou kam. Ein bisschen raffen?

Kleinigkeiten:
"... hast du aber geschrien. Tag und Nacht. Wie eine kaputte Schallplatte."
Ich würde dafür sein, den Schallplattensatz zu streichen. Denn dass sie immer wieder Anna gehen ruft, schreibst du ja.

Kriegerwitwe ohne Binde-s.

"Und als sie die winzige Tante beim Abschied umarmt, sich zu ihr hinunterbeugt und sie auf die Wangen küsst, da spürt sie nur eine sonderbare Traurigkeit."
Lass das "da" weg, liest sich besser.

Das ist alles, was ich bisher gelesen habe. Lass um Himmels Willen die Texte stehen, Inu, sonst weiß ich doch nicht, wohin ich was schreiben soll.

Hanna
 

Inu

Mitglied
Liebe Hanna

Du hast eine Marotte: die Ein-Wort-Sätze. Manchmal läse es sich besser, wenn du einfach ein Komma machtest, statt eines Punktes. Mit Punkt kommt es ein bisschen gewollt bedeutungsschwer herüber.
in manchen Fällen werde ich es beherzigen, oft macht mir diese Marotte auch Spaß.
Zum Griechenland-Teil:
Es fiel mir auf, dass dieser Teil im Grunde nur aus Beschreibungen besteht. Es gibt keinerlei Handlung, die Charaktere vertiefen könnten. Aber die Beschreibungen sind schön, sehr genau (beinahe zu penibel). Erinnert sich Minou nicht auch an bestimmte Szenen? Ich habe sie vermisst.
Das ist nur ein Vorgeschmack. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, diesen Teil schon an den Anfang des Romans zu setzen. Aber da kommt später noch eine große Menge Griechenland und die beschriebenen Personen werden sehr drastisch mitmischen in der Geschichte.
Glaubwürdig erscheint es mir nicht, dass ausgerechnet Griechen eine Deutsche an Leni Riefenstahl erinnern. Es sei denn, sie sind alt genug, um sich an deutsche Besetzung zu erinnern.
Es ist total unglaubwürdig und doch habe ich es mal erlebt. Ich glaub das kam daher: Leni Riefenstahl hatte einen Film über die Olympiade 1936 gedreht und dafür in aller Welt Preise und Bewunderung eingeheimst. Sie war anscheinend so berühmt, dass sogar 25jährige Griechen ihren Namen in den 1960er Jahren kannten.
Von dem Wort Statur - gibt es da einen Plural?
O ja, den gibt es.Ich habe eine gute Internet-Hilfe, da kannst du alle Wörter, auch Wortformen eingeben, z.B auch die verschiedenen Verbformen und es sagt Dir alles Wichtige über jedes Wort. Ganz toll: http://wortschatz.uni-leipzig.de/
Manches ist mir zu ausführlich, z. B. die Stelle, wie sie zu ihrem Namen Minou kam. Ein bisschen raffen?
O.K Das mache ich.

Die Kindheitstage der Menschheit und die gesprungene Schallplatte ... sowas brauch ich manchmal in meinen Geschichten. :)
Deine anderen Verbesserungsvorschläge hab ich schon alle beherzigt und den Text dementspechend geändert.

Großen Dank für die Hilfe und Dir einen schönen Abend
Inu
 

flammarion

Foren-Redakteur
es

liest sich gut. Die Einführungsabsätze könntest du weglassen. manchmal haut es mit der Interpunktion nicht ganz hin, Flüchtigkeitsfehler oder Betriebsblindheit. Einige Worte werden nach der neuen deutschen Rechtschreibung nicht mehr zusammen geschrieben, andere eben doch. Beispiele: rotunterlaufen, hochgetürmt, hergeschoben, stehenlassen, totstampfen, mitansehen, wieviel, jedesmal, offenstehen, herausgerannt, herbeigerannt, herbeigeschlichen, weiterverbunden, hereingeschoben, sowas, herangeschleppt, ekelerregend werden getrennt, irgend etwas und drei mal werden zusammen geschrieben. Weitere Tippfehler: Schlawittchen bitte mit f, bei Qieken fehlt n u, in funktionniert ist ein n zuviel, bei Mahlzeien fehlt das t, grauslig wird hinten mit ch geschrieben, geschrien bekommt ein zweites e nach m i, barfuß nicht mehr mit ß, Sabotage in allen Zweigen der bildenen Künste und Notleidenen - stand das wirklich so auf den Flugblättern? Die Allierten müssen ein zweites i bekommen, der hellichte Tag hat drei l, bei Brotlaiber ist das r am Ende zuviel, Füßegetrampel bitte durch Fußgetrappel ersetzen, furchbare Durchfälle - da fehlt n t, in den Weiten Russland - ein s ans Ende.
Rohrnudeln würde ich auch gerne essen und Hirn - bei uns hieß das Brägen - habe ich immer gern gegessen. Vielleicht, weil ich nie sah, wie geschlachtet wurde.
Bei zwei Worten hast du Silbentrennung angewendet, die hier natürlich mitten in die Zeile gerutscht ist.
Die Leerfelder innerhalb der Klammern vor und nach dem Wort solltest du entfernen.
so, genug gemeckert, jetzt geht s mit Freude in das nächste Kapitel.
lg
 

Inu

Mitglied
Liebe Old Icke

o je, da hab ich das Ganze doch vor dem Posten nochmal 'gründlich' durchgelesen, und dann all diese Fehler! Hätte ich nie für möglich gehalten.
Da kann ich nur noch denken, mein Computer muss absichtlich Buchstaben verschluckt haben, dieser Schelm.:) Also, ich mach mich jetzt mal über den Text her und fange an, zu verbessern.

Danke erstmal. Bis später
Inu
 

Inu

Mitglied
OK, hier bin ich wieder, Icke.

Also die von mir zusammengeschriebenen (pardon zusammen geschriebenen Wörter) also, das hab ich bisher nicht besser gewusst, ich hab sie jetzt nach Deinen Vorgaben verbessert.

[blue]sowas.[/blue] Das hab ich allerdings in einem Wort gelassen. Meine einzige Rechtschreibquelle ist der Wortschatz-Lexikon der Uni Leipzig und dort bleiben sie bei dieser Fassung.
[blue]Irgendetwas oder irgend etwas[/blue]. Da geht beides, oder?

Barfuss - Nein!Ich weiß ( auch aus meinem Wortschatz-Lexikon und jetzt von Dir ) dass es neuerdings so geschrieben werden soll. Aber ich weigere mich und bleibe bei dem ß!
Fuss, Gruss, nein, das kanns doch nicht sein. Das u wird dort langgezogen gesprochen.
Bei Schluss, muss, Stuss ist es ja angebracht. Aber Fuß und co, also das mach ich nicht mit. Rebellion ;)

Noch was: also was manchmal bei mir wie Silbentrennungsstriche am Ende der Zeile aussieht, habe ich bewusst so gemacht bei Worten, die ein Kind von Erwachsenen hört, nachplappert, aber nicht wirklich versteht, sozusagen, um das Mönströse dieser Worte im Kinderempfinden hervor zu heben.

Also, jetzt hab ich den ganzen Text nochmal mühsam durchgeackert und die von Dir genannten Fehler verbessert. Hoffentlich hab ich sie alle.

Das Wegnehmen der Leerstellen vor und nach Klammern, muss das unbedingt sein? Ich müsste dann, alles in allem, zirka 1000 Seiten neu durchgehen. Jammer!

Sonst habe ich alles andere nach Deinem Rat berichtigt.

Hab für heute großen Dank für Deine Hilfe.

Einen schönen Abend wünscht Dir
Inu
 



 
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