Miss Saigon
Das Objekt meiner Angst starte mir direkt in die Augen und ließ mich zum zweiten Mal an diesem Tag aufwachen.
Spinne am Morgen bringt Kummer und Sorgen, schoss es mir durch den Kopf. Ich wusste noch nicht, wie richtig ich mit diesem Sprichwort heute liegen würde.
Glatt und schlüpfrig wie Schneckenschleim seilte sich Johanna an ihrem Silberfaden von der Zimmerdecke talwärts und war im Begriff meine Nasenspitze als Landebahn zu missbrauchen. Mit weiten Pupillen justierte ich ein Stecknadelkopf großes Ungeheuer mit acht unrasierten Beinchen. Sie war nicht gefährlich, nur lästig.
»Gib den Tieren, die du schlachtest, keinen Namen«, sagte der alte Metzgermeister während meiner Ausbildung zu mir.
»Und warum nicht?«
»Mit dem Namen verbindest du dich mit dem Tier. Es bekommt Persönlichkeit. Eine Seele. Verstehst du?«
»Glück gehabt, Johanna«, sagte ich zu dem Spinnentier.
»Wärst du ein einfaches namenloses Insekt geblieben, könnte ich dich mit ruhigem Gewissen in die Kanalisation spülen. Bei einer Johanna geht das nicht mehr. Außerdem gewinnen die Frauen bei mir sowieso immer«, erklärte ich dem kleinen schwebenden Monster.
Vorsichtig umschloss meine Hand den zerbrechlichen Körper. Dann entließ ich Johanna in ihre Freiheit. Der Morgenwind entführte sie aus meiner Handfläche und sie surfte auf ihrem Faden über die Ziegeldächer der aufgehenden Sonne entgegen.
Ich verriegelte das Badezimmerfenster wieder, schlüpfte in meine Klamotten und verließ meine Wohnung. Die Arbeit rief mich und ich folgte ihr brav wie ein Schaf, das vom Hirten gerufen wurde.
Mein beruflicher Ehrgeiz dümpelte im Halbschlaf vor sich hin, obwohl ich zwei Gesellenbriefe in der Tasche hatte, habe ich den Job als Verkäufer in einem Großmarkt angenommen. Es war die geregelte Arbeitszeit und meine Bequemlichkeit, die mich dazu aufforderte.
Koch war mein Traumberuf und die Ausbildung zum Fleischer habe ich mir als Sahnehäubchen gegönnt. Nicht aus Fleiß, sondern nur deshalb, weil Azubis nicht gemustert wurden. Ich hüllte mich in den warmen Deckmantel der Bildung und drückte mich davor, Bundesbürger in kalter Uniform zu werden.
Gemeinsam zu kochen hat etwas Erotisches. Ein kunstvoll angerichteter Teller gleicht einem Gemälde, das nach dem Genuss seine lebensspendende Kraft und Energie in den Körper fließen lässt.
Ich musste dem weiblichen Geschlecht etwas bieten. Meine Hose umfasste keine Wespentalje und mit der kleinen Wohlstandskugel der schweigenden Mehrheit konnte ich bei den Mädels nicht punkten. Mein Aussehen war durchschnittlich und von einem griechischen Adonis so weit entfernt wie der Urknall von meinem Nabel.
Es kam darauf an, was ich sagte und wie ich es sagte.
Liebe geht nicht nur bei Babys durch den Magen und deshalb lud ich meine Auserwählte immer zum gemeinsamen Kochen ein. Die Küche war mein Revier und ich fühlte mich dort selbstsicherer.
Hier ließ ich meinen Gast an frisch geschnittenen Kräutern und zerstoßenen Gewürzen schnuppern. Die Hitze des Herdes tat seine Wirkung auf ihrer Haut, ließ verkrampfte Anspannungen schwinden und lockerte die Stimmung.
Ein Duftschleier aus blubbernden Soßen und dampfenden Töpfen tat sein Übriges und versprach ihnen sinnlichen Genuss. Es entstand eine Intimität und Vorfreude, die nicht immer nur auf das kulinarische Mahl beschränkt war.
Nach einem guten Essen bei Kerzenschein und einem oder zwei Fläschchen Rotwein kam man sich unweigerlich näher und manche Ladys wurden schwach. Wie sonst bekommt ein Gentleman eine Dame in sein Bett?
Nachdem ich mich umgezogen hatte und in meiner Arbeitskluft steckte, verteilte ich eifrig mit einer weißen Kunststoffschaufel zerstoßenes Eis über die Früchte der Weltmeere.
Es roch nach Frische. Es roch nach salzigem Tang und nach grenzenloser Freiheit.
Appetitlich präsentierte ich meine bunte Ware hinter Glas, wie es der Thekenbelegungsplan vorschrieb.
Mein Prachtstück des Tages war ein fünf Kilogramm schwerer Diamant Zackenbarsch. Ich präsentierte ihn für meine Kunden als Blickfang in der Mitte meiner Theke. Ein herrliches Tier, dachte ich, als Peter mich unvermittelt ansprach.
»He. Schau dir das mal an«, sagte er und hielt mir sein Handy unter die Nase.
»Im Augenblick fehlt mir die Zeit für deine Späßchen. Ich habe noch eine Menge zu tun. Ich muss noch ...«
»Jetzt stell dich nicht so an, deine toten Fische laufen dir bestimmt nicht mehr davon. Das musst du unbedingt gesehen haben!", drängelte er.
»Das geht jetzt wirklich nicht. Du kennst doch den Alten. Der schließt in wenigen Minuten den Laden auf und wehe, ich bin nicht verkaufs-bereit. Dann ist die Kacke wieder am Dampfen.«
»Also gut du Weichei. Ich sende dir den Film auf dein Handy. Du wirst dich totlachen, Alter«, sagte er und schlurfte grinsend zurück ins Büro.
Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, dass er den Clip, den er auf seinem Handy hatte, meinen Kollegen zeigte. Ihr Gelächter drang durch die dünne Glasscheibe zu mir herüber und machte mich neugierig.
Endlich war ich verkaufs-bereit und stolz auf mein Werk, das aussah wie ein liebevoll dekoriertes mediterranes Schlemmerbuffet.
Der Job als Fischverkäufer machte mir Spaß.
Der Großteil meiner Kunden stammte aus dem Mittelmeerraum oder aus Asien. Viele bewirtschaften ein Restaurant und waren spezialisiert auf Meerestiere. Ich konnte eine Menge von ihnen lernen. Nicht nur über die Zubereitungsart von exotischen Fischen.
Ömer Asaf habe ich in seinem Restaurant besucht. Er hatte mich zum Ramadan eingeladen. Er trägt seinen Namen mit Stolz vor sich her, wie den teerschwarzen Schnurrbart unter der gewaltigen Nase. Ömer heißt das Leben und Asaf heißt Gott hat gesammelt, erklärte er mir. Er legt Wert auf Nüchternheit und Bildung. Seine Familie bedeutet ihm alles und er sammelt für Bedürftige.
Oder Yoruba, meine Lebenskünstlerin aus Afrika. Bei ihr habe ich Zebragulasch gegessen. So breit wie ihr Hinterteil ist, so groß ist auch ihr Herz. Sie ist Christin und liebt Wudu. Sie singt Gospel und Soul mit Leidenschaft. Sie hat den Rhythmus der Trommeln im Blut und wenn sie richtig loslegt, entwickeln meine Beine ein Eigenleben und ich fange an zu tanzen. Ich sage immer schwarze Perle zu ihr und sie nennt mich dafür liebevoll mein Milchbrötchen.
Auch David ist ein Kunde von mir. Er ist ein würdevoller und ernster Mann. Meistens ist er schwarz gekleidet und trägt einen hohen Hut. Er kocht koscher, ist sehr spirituell und wenn man sich auf ihn einlässt, bringt er einem das logische Denken bei und dem Talmud näher.
Meine Arbeitskollegen waren für Steaks, Schnitzel, Wurst zuständig. Schuppenwild war für sie ein Rätsel mit sieben Siegeln.
Deren Horizont blieb bei panierten Fischstäbchen mit Mayo und Kartoffelsalat hängen.
Ich schaltete die Elektrowaage ein und während diese ihr Programm hochfuhr, zog ich das Handy aus meiner Tasche und sah mir Peters Clip an. Immer das Gleiche. Zum Glück kein ätzender Porno. Natürlich lachte ich. Schon allein deshalb, weil Peter auf meine Reaktion achtete. Er beobachtete mich durch die Panoramascheibe, die das Büro vom Verkaufsraum trennte.
Der lebt in einer falschen Zeit, dachte ich. Der hätte am liebsten den Karabiner in der Hand, den schwarzen Stahlhelm auf dem Kopf.
Den Thor Hammer und das Amulett der schwarzen Sonne habe ich ihm abgekauft, als er mir diese Schmuckstücke angeboten hatte. Schließlich ist er mein Abteilungsleiter und im Betriebsrat. Man weiß ja nie...
»Hallo.«
Ich drehte mich erschrocken um, als wäre ich bei etwas Peinlichem erwischt worden. Vor meiner Theke stand der erste Kunde des Tages und strahlte mich erwartungsvoll mit großen dunklen Mandelaugen an.
»Guten Morgen«, sagte ich, »was darfs denn sein?«
»Neggen«, antwortete sie.
Ich schob mein Handy in die Tasche und starrte sie an.
»Was soll das denn sein?«, entfuhr es mir. Wahrscheinlich etwas zu schroff, denn Miss Saigon senkte den Blick und ihre Wangen röteten sich.
Miss Saigon. Natürlich hieß sie nicht so, aber dieser Name stand spontan auf ihrer Stirn. Vieleicht, weil ich das gleichnamige Musical kannte und mir die Geschichte gut gefallen hatte.
»Entschuldigen Sie bitte. Ich habe Sie nicht richtig verstanden«, sagte ich, jetzt freundlicher werdend, mit ruhiger Stimme und lächelte sie dabei an, um sie aufzumuntern.
»Neggen«, wiederholte sie schüchtern wie ein Schulkind, das die Zeilen eines Gedichtes vergessen hatte.
Sie versteht mich nicht, sagte ich zu mir selbst. Lass dir etwas einfallen. Schnell, sonst ist sie weg und kauft bei der Konkurrenz.
Jetzt meldete sich das Betriebstelefon. Eine Vorbestellung für Freitag, die ich entgegennahm und notierte. Ich suchte Blickkontakt und nickte ihr zu. Sie verstand meine Geste und wartete.
Nach Beendigung des Gesprächs winkte sie mir aufgeregt zu. Ich verließ meinen Thekenbereich durch die Schwingtüre und als ich vor ihr stand, zeigte sie auf meine Brusttasche, aus der ein Kugelschreiber linste.
Ich verstand und mein Schreibgerät wechselte den Besitzer.
Ein Stück Papier wurde auf das Klemmbrett des Einkaufwagens gespannt und darauf zeichnete der Kugelschreiber ein wurmähnliches Gebilde, aus dessen Ende zwei Antennen ragten mit Glubschaugen obendrauf. Weiter malte sie, in kleinen kreisenden Bewegungen ihrer Hand, eine Spirale auf den Rücken des Wurms. »Ich werde verrückt. Eine Schnecke!«, entfuhr es mir verblüfft.
»Neggen. Ocean«, sagte sie lächelnd und nickte eifrig, während ich mein Schreibgerät wieder in Empfang nahm.
Leckermäulchen dachte ich und sagte: »Lebende Tiere darf ich nicht lagern, die muss ich frisch in Frankreich bestellen.«
Ich griff wieder zum Telefon und nach einigen Minuten des Verhandelns war das Geschäft unter Dach und Fach. Stolz legte ich das Telefon zur Seite und notierte ihr das Datum und die Uhrzeit, wann die Meeresschnecken für sie zur Abholung bereitstehen würde.
Sie faltete das Stückchen Papier sorgfältig zusammen und ließ es lächelnd in ihre Tasche gleiten. Mit einer leichten Verbeugung, wobei sie ihre Hände gefaltet vor ihr Gesicht hielt, wollte sie sich von mir verabschieden.
Doch in diesem Moment drängte sie ein wachshäutiger Mann im mittleren Alter unsanft zur Seite und meinte: »Mach mal Platz, Schlitzauge«, und zu mir gewandt, » zwei Lupe de Mare und drei Dorade. Groß und frisch, sonst kannst du sie selber fressen!«
Ich war derben Ton gewohnt und blieb niemanden eine Antwort schuldig, wenn es hart auf hart kommt. Aber irgendetwas war hier anders und ich wachte zum dritten Mal auf an diesem Morgen.
»So benimmt man sich nicht einer Dame gegenüber«, sagte ich.
»Ich sehe keine Dame. Nur ein Schlitzauge wie in Saigon auf dem Straßenstrich.« Dabei grinste er sie hämisch an und wandte sich mit vorgestrecktem Kinn wieder mir zu.
Ich schaute zu dem Mädchen, dass kein Wort zu verstehen schien, aber trotzdem begriff, dass sie ungefragt in dieser Situation die Hauptrolle zugeteilt bekam.
Ich empfand Scham. Keine Scham, die man empfindet, wenn man bei etwas ertappt wird, das besser im Verborgenen geblieben wäre.
Nein, ich schämte mich für sie. Vor einer Fremden, über das Gesagte eines Fremden und dass sie dessen Worte nicht verstehen konnte, spielte für mich keine Rolle.
Sie tat einen Schritt zur Seite, als wolle sie gehen, doch ich hielt sie fest.
»Wenn hier einer geht, dann bestimmt nicht Sie«, sagte ich zu ihr und mein Herz schlug schneller.
»Was erlaubst du dir? Ich bin Kunde«, sagte der Mann.
»Genau, und was für einer«, krächzte ich mit trockenem Hals.
»Ich werde mich beschweren über deine freche Art mit mir zu reden!«
Ich wusste, er hatte Recht. Als Verkäufer hatte ich eine verbotene Linie überschritten, die mir den Kopf kosten konnte.
Ich war verunsichert und suchte verzweifelt die passende Kerbe, in die mein Erwachsensein hineinpassen würde und einrasten ließ.
Mein Lebenskompass kreiselte wild in meinem Kopf. Hilflos versuchte er, die Richtung festzulegen, wohin die Reise in Zukunft gehen sollte. Seither war mein Leben ein Spaßfaktor gewesen. Aber jetzt spürte ich eindeutig, dass ein Wendepunkt erreicht war.
»Ich denke, Sie sollten sich bei dem Mädchen entschuldigen«, sagte ich ruhig. Jedenfalls, so ruhig ich konnte, um das Zittern in meinem Innersten zu verbergen.
»Hast du sie noch alle? Dreckspack, von denen läuft sowieso zu viel herum!«, krakeelte er und drohte mit der Faust.
Inzwischen war meine Diplomatie so weit gesunken, wie die eines Wikingers, der sich mitten im Schlachtgetümmel in Blut watend eine Predigt von Nächstenliebe anhören sollte.
»Also gut.Wie Sie wollen. Ich begebe mich jetzt auf deine Ebene. Auf deinen schmierigen Bereich. Ich glaube, du bist einer von den ewig Gestrigen und bastelst immer noch am tausendjährigen Reich herum.
In deiner Bude hängt bestimmt noch die Reichskriegsflagge vom Kaiserreich an der Wand.
Ehrlich, dein Gehirn besteht in seinen Windungen nur aus bruchstückhaft zusammengesetzten Abflussrohren gefüllt mit brauner Nazischeiße. Du solltest schnellstmöglich deine Spülung betätigen, um den Schlamm aus deiner Birne herauszuwaschen, damit du wieder klar denken kannst!«
»Das hast du nicht umsonst gesagt. Das kostet dich deinen Job, du verdammtes Arschloch!«, schrie er so laut, dass meine Kollegen, die alles mitbekommen hatten, das Genick einzogen und im Büro verschwanden.
Voller Zorn trat er mit dem Fuß gegen die Umrahmung meiner Theke, dass es schepperte. Dann stampfte er mit geballten Fäusten dem Ausgang zu. Seine Ware ließ er auf dem Einkaufswagen zurück.
»Da kommt noch etwas auf mich zu«, sagte ich zu Miss Saigon und atmete tief durch. Diesmal lächelte sie nicht, während sie sich bei mir verabschiedete. Nachdenklich sah ich ihr nach.
Es war mir ein Rätsel und unerklärlich. Noch nie habe ich solche Worte an meinem bildungsbürgerlichen Verstand vorbei, nur aus dem Bauch heraus mit solch einer Wucht auf jemanden abgefeuert.
Als ich an der Bürotür, die ein Spalt offenstand, vorbeiging, hörte ich: »Nazischeiße ......Reichskriegsflagge ... Arschloch.«
Ja, ja. Arschloch nennen mich meine Kollegen und jetzt bin ich stolz darauf, ein Arschloch geworden zu sein. Schließlich habe ich verdammt hart dafür arbeiten müssen. Und morgen ändere ich meine Handynummer.
Zuletzt bearbeitet: