Missverständing

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Hoch über den Wolken schoss der Jet dahin. Der einzige Passagier, Professor Doktor Joachim Vielzung, genoss eine kleine Zwischenmahlzeit. In ein paar Minuten würde er in Gabun landen, wo er sicher mit einem Bankett begrüßt wurde, besonders an diesem Tag.
Vielzung war nicht nur ein berühmter Ethnologe, sondern auch der erste Mensch außerhalb des gabunischen Dschungels, der die Sprache der Binubunu entziffert hatte. Um diese Leistung ordentlich zu würdigen, musste man wissen, was daran denn so besonders war. Nun, die kleine Stammesgemeinschaft der Binubunu war erst vor etwa zwei Monaten entdeckt worden.

Falsch! - Artefakte in der komplexen Bilder- und Symbolsprache der Eingeborenen hatte man schon lange vorher gelegentlich gefunden, nur konnte sie niemand deuten. Die - zumindest teilweise - Entzifferung der Binubunu-Texte, das war die große Errungenschaft unseres Professors. Er hatte erkannt, dass es sich um eine Art ritueller Zaubersprüche handelte, magische Handlungen, von denen sich die Stammesangehörigen offenbar besondere Fähigkeiten versprachen.
Morgen würde er, wahrscheinlich, den Stamm besuchen! - Das war ebenso speziell, wie die Entzifferung selbst, denn die Binubunu lebten seit Jahrhunderten, vielleicht gar seit Jahrtausenden verborgen in den Regenwäldern Südostafrikas. Nicht umsonst war ihre Existenz bis in unsere moderne Zeit unbekannt geblieben. Nun gut, es gab verschiedene Überlieferungen, Sagen und Märchen, denen man die Existenz eines mystischen Urwaldstammes entnehmen konnte. Aber die waren eben bisher nur genau das gewesen: Mythen.

Auf dem Flugplatz von Libreville wartete eine Abordnung der gabunischen Universität. Man nahm den Professor freundlich in Empfang, begrüßte ihn sehr ehrerbietig und geleitete ihn anschließend ins Hotel, wo er eine hervorragend klimatisierte Suite bezog. Als er den Balkon betrat, von dem aus er einen guten Blick über die Hauptstadt zu haben hoffte, schlug ihm brütende Hitze entgegen. Er betupfte sich die Stirn, auf der sich sofort Schweißperlchen gebildet hatten und beglückwünschte sich zu der Idee, nur leicht zu speisen.
Anschließend legte er Anzug und Krawatte ab und schlüpfte in etwas Bequemeres.
Er unternahm einen kleinen Spaziergang, um die nähere Umgebung zu erkunden. Mit dem Sonnenuntergang kehrte er ins Hotel zurück, wo ihn eine Nachricht erwartete. Er gab dem Portier ein kleines Trinkgeld und fuhr mit dem Lift hinauf, in seine Suite.
Oben angekommen öffnete er das kunstvoll gefaltete Blatt, das sich wie eine Art Pergament oder Leder anfühlte und stieß einen überraschten Laut aus. Der Text war in Bungabinga, der Sprache der Binubunu verfasst.
Sogleich nahm er am Schreibtisch Platz und machte sich an die Entzifferung.

"... soll am Gastmahl teilnehmen? - Findet am Elefantenberg statt ...? Nur der weise weiße Mann allein ...?"

Langsam ergab die Nachricht einen Sinn. Professor Vielzung griff nach dem Telefonhörer ...
"Ja, hallo, hier ist Vielzung, Präsidentensuite. Haben Sie jemanden, der sich im Dschungel auskennt und mich zum Elefantenberg bringen kann? Haben Sie? Ja, danke, ich werde die Person morgen benötigen. Acht Uhr? Das passt gut. Auf wiederhören!"
Joachim Vielzung nahm noch einen Schlummertrunk und begab sich dann zu Bett. Schließlich war morgen der große Tag!

Als um acht Uhr der Ortskundige an die Tür klopfte, war der Professor schon putzmunter und topfit. Er begrüßte den sehr dunkelhäutigen Mann freundlich und lud ihn zu einem kleinen Frühstück ein.
"Ist es weit bis zum Elefantenberg?", fragte er, als sie gemeinsam am Tisch saßen.
Der Fremdenführer schüttelte den Kopf. "Nein, mein Herr. Weit ist es nicht, aber es ist ... nicht einfach, dahin zu gelangen. Die Straßen und Wege enden bald und man muss durch den Gorilla-Dschungel wandern. Das ist gefährlich, besonders wenn man auf Weibchen mit Jungen trifft. Deshalb geht normalerweise niemand da hin."
Vielzung nickte. Irgendeinen Haken gab es ja immer. Und dass die Einladung ausdrücklich ihn allein verlangte, machte das Ganze nicht besser.
Nach dem Frühstück ließ sich der Wissenschaftler von seinem Führer beraten, welche Ausrüstungsgegenstände sinnvoll wären. Zum Glück war der Professor kein Neuling, was Wanderungen im Urwald anging. Er vermied den Anfängerfehler, sich mit nutzlosem Gepäck zu belasten, nahm nur ein paar Dinge mit, zu denen ihm der Waldläufer dringend riet. Und natürlich packte er ein Notizbuch und sein Diktiergerät ein.

Endlich ging es los. Sie fuhren mit einem Jeep bis zum Ende aller Pfade. Dort stieg Vielzung aus und der Führer gab ihm eine Karte, auf der der ungefähre Verlauf seines weiteren Weges verzeichnet war. Am Elefantenberg prangte ein großes blaues Kreuz.
"Viel Glück!", wünschte der Gabunese und schaute neugierig in seine Hand, in die der fremde Professor einen Geldschein gelegt hatte, zusätzlich zum vereinbarten Preis. Er bestieg das Auto und fuhr davon.
Nun war der Forscher auf sich allein gestellt. Die Sonne brannte und die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass die Atmosphäre den Wanderer zu umfließen schien. Er hatte sich einen Tropenhelm auf den Kopf gesetzt, den er aber nach einigen Minuten weg schleuderte, denn er begann, entsetzlich zu drücken. An seiner Statt band sich Vielzung ein feuchtes Tuch um den Schädel, das ihm ein wenig Linderung verschaffte.

Wie lange die Wanderung durch den dichten Dschungel dauerte, wusste der Mann nicht zu sagen. Mit seiner Machete schlug er sich einen schmalen Pfad in das allseits wuchernde Grün. Der Schweiß floss in Strömen über seinen Körper und die Zahl der ihn umschwärmenden Stechinsekten schien sich mit jeder Minute zu potenzieren. Die Riemen seines Rucksacks begannen, die Schultern wund zu scheuern. Wie gut, dass der Eingeborene ihn gewarnt und ihm einen kühlenden Balsam gegeben hatte. Er suchte sich eine freie Stelle und legte das Gepäck ab. Aus der Seitentasche des Rucksacks nahm er den Balsam und trug ein wenig davon auf die wunden Stellen auf. Das war himmlisch. Sofort ließ der Schmerz nach und er meinte, einen kühlen Luftzug zu spüren. Ein Schluck lauwarmen Wassers erfrischte seine Kehle kaum, doch er wusste um die drohende Dehydrierung.
Eile war geboten, denn er hatte keine Ahnung, wie weit er noch gehen musste. Der Kartenausschnitt, dem er folgte, wies keinen Maßstab auf.
Nach einer Weile begann das Gelände deutlich anzusteigen. Sollte der dem Berg näher kommen? Wie auf Kommando knackte es im Dickicht. Vielzung hockte sich sofort hin, wie es ihm der Führer geraten hatte. Hier gab es Gorillas in großer Zahl! - Denen wollte er nicht begegnen.
Das Knacken kam näher. Vorsichtig hob der Professor den Kopf und sah sich einem relativ kleinen Menschen gegenüber.
Der Eingeborene stand schweigend da und betrachtete den Weißen, der da vor ihm hockte.
"Mahangi bworbuluba ong hebangi!", sagte er. Der Wissenschaftler griff langsam in seine Beintasche und brachte das Pergament hervor. Das reichte er dem Buschmann.
Der studierte es und nickte freundlich.
"Du kommen. Essen." Er wandte sich um und bedeutete dem Gast, zu folgen.

Eine Zeit lang wanderten die Beiden nun schweigend durch den Dschungel. Vielzung war baff, wie problemlos das ging. Er musste nicht ein einziges Mal die Machete benutzen und konnte dennoch halbwegs aufrecht laufen. ein paarmal sahen sie Gorillas, einzeln oder im Familienverband, aber die Tiere ließen sich nicht stören. In Joachim Vielzung stieg eine Art Wohlgefühl auf, ein Vertrauen, das schon beinahe Geborgenheit war.
Endlich erreichten sie die Siedlung. Sie befand sich auf einer Lichtung, zwischen Felsen, die sie vollständig gegen unerwünschte Blicke abschirmte.
Es war keine große Siedlung, man sah etwa fünfzig Menschen, die, als sie der Neuankömmlinge gewahr wurden, heraneilten und den weißen Fremden bestaunten.
Ein paar Männer traten heran und betasteten ihn, Arme, Beine, Brust, als versuchten sie, einzuschätzen, ob er ein brauchbarer Krieger sei.
Dann kam der Häuptling heran. Alle machten ihm ehrfürchtig Platz und er trat vor den Gast und machte eine ziemlich komplizierte Geste. Vielzung verkniff es sich, diese Bewegung nachahmen zu wollen. Es wäre nur peinlich gewesen, denn der Ablauf war ... verworren, obwohl er ihm nicht unbekannt vorkam.
Aus einer der Laubhütten trat ein alter Mann, wohl der Schamane des Dorfes. Er humpelte näher und vollführte die gleiche Geste wie der Häuptling.
"Wir will-kom-men, du!", sprach der Medizinmann mit brüchiger Stimme. "Du lesen Bingabunga! Du Gast ... essen!"
"Ich bedanke mich für die Einladung!", erwiderte der Forscher, so langsam und deutlich er konnte.
"Kommen du!" Der Heiler winkte und lief voraus, zu einer der Hütten.
Vielzung folgte ihm.
"Du legen!" Der Medizinmann deutete auf den Rucksack und die Machete, die in ihrer Scheide am Gürtel hing.
Der Professor gehorchte. Er legte alles Gepäck ab und wollte schon das Diktiergerät aus dem Rucksack ...
"Du legen!" Der Alte trat an ihn heran und zupfte an seiner Kleidung. Eine Frau trat herein und brachte eine Art Lendenschurz, der aus großen Blättern gefertigt war.
Joachim Vielzung war nicht verschämt. Er legte seine komplette Kleidung ab und ließ sich von der jungen Frau das Blattkleid anlegen. Auch sie berührte, wie unabsichtlich, verschiedene Stellen an den Armen und der Brust.
"Bilobo Mmunasa bahesi." Sie schien zufrieden zu sein und trat zurück.
"Kommen du!", lockte der Medizinmann nun und verließ die Hütte.

Als der Professor heraus trat, erhob sich ein großer Jubel unter den Bewohnern der Siedlung. Manche taten ein paar Tanzschritte, andere hoben an zu singen. Vier junge Frauen kamen heran. Sie trugen Schalen, die verschiedene Flüssigkeiten und eine Art Pflanzenbreie enthielten. Die Gefäße verströmten einen wunderbaren Duft.
Man nötigte ihn, sich an eine Art Feuerstelle zu setzen. Als er Platz genommen hatte, kam der Häuptling mit einer Kokosnuss-Schale herbei und hielt ihm diese hin.
"Nehmen!", bat der Medizinmann. "Trinken!"
Der Wissenschaftler war unsicher. Nicht dass er befürchtete, man wolle ihn vergiften, aber sein westlich zivilisierter Verdauungstrakt konnte durchaus unvorhersehbar auf solche unbekannten Speisen und Getränke reagieren.
"Trinken!" Der Häuptling hob die Schale an und nahm anschließend demonstrativ einen Schluck vom Inhalt.
"Was soll's?", dachte der Professor und ergriff das Gefäß, dem ein leicht bitterer Duft entströmte. Er erinnerte sich, dass er vom Bwiti-Kult gelesen hatte, den viele der gabunischen Stämme praktizierten. Dieser beinhaltete auch den Verzehr von Iboga-Wurzeln, die eine psychoaktive Wirkung hatten.
Einen Augenblick lang zögerte er. Verschiedene Gedanken tauchten auf. Wie sollte er forschen, wenn er berauscht war? Andererseits konnte es durchaus sein, dass die Eingeborenen beleidigt wären, wenn er ihre Gabe ablehnte.
Schließlich rang er sich zu einer Kostprobe durch.
Das Getränk war hatte eine leicht cremige Konsistenz und schmeckte im ersten Moment widerlich süß. Vielzung zwang sich, das Gebräu zu schlucken.

Als er den zweiten Schluck nahm, drang ein anderer Geschmack ins Bewusstsein. Das Zeug war ... bitter! Nur mit Mühe unterdrückte der Forscher den Brechreiz und reichte die Schale an den Schamanen. Der verbeugte sich leicht und nahm einen anständigen Schluck.
"Friedenspfeife!", kam es Vielzung in den Sinn.
Nach und nach ließen sich immer mehr Einwohner, ausschließlich Männer, im Kreis um den Forscher nieder. Die Frauen traten an ihn heran und begannen, ihn mit den duftenden Essenzen einzureiben.
Er nahm das nur am Rande wahr, denn sein Bewusstsein hatte eine ungewohnte Leichtigkeit gewonnen. Er fühlte sich, als müsse er im nächsten Moment abheben und über den Regenwald aufsteigen.
Wieder reichte man ihm die Kokos-Schale und diesmal schmeckte der Trank nicht mehr so widerwärtig, wie beim ersten Mal. Auch er nahm nun einen ordentlichen Schluck.
Die Umgebung verlor ihre Konturen. Sie löste sich in einem Meer wogender Farben und Schlieren auf.
Wie aus weiter Ferne vernahm der Professor noch die Stimme des Medizinmannes:
"Gut. Du Gast. ... Essen!"

Ehe seine Sinne schwanden, hatte er einen lichten Augenblick.
Die Texte ...
Das waren keine Rituale ...
Das waren ...

Kochrezepte.
 



 
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