Mit den Augen von Rene

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Mit den Augen von Rene
Erinnern sie sich noch an Jim Knopf? Vielleicht haben sie das Buch von Michael Ende gelesen oder sie kennen die Inszenierung der Augsburger Puppenkiste. Mir jedenfalls ist diese wunderbare Geschichte wieder eingefallen, als der Surrealismus wie eine Welle über mich hereinbrach. Dazu gleich noch mehr. Zunächst möchte ich ihnen noch einmal jene Figur aus besagtem Kinderbuch vergegenwärtigen, die aus meiner kindlichen Erinnerung in die Gegenwart geschleudert wurde, wie ein brennender Pechklumpen von einem mittelalterlichen Katapult. Der Scheinriese! Dieses wunderbare Spielzeug der Ende'schen Wahrnehmungsverdrehung. Je weiter man sich von ihm entfernt, desto riesiger erscheint er; tritt man zu ihm hin, wird er scheinbar kleiner, bis man ihm Aug' in Aug' gegenüber steht ohne sich auch nur recken zu müssen. Um ihre Aufmerksamkeit nun nicht unnötig abzulenken: obwohl der Scheinriese in der Geschichte zunächst eine tragische Figur ist, findet er doch ein gutes Ende. Er wird Leuchtturmwächter auf Lummerland, wozu ihm das Phänomen seiner Scheinriesenhaftigkeit natürlich wunderbar gereicht.
Nun aber wieder zu meiner Geschichte: mein Abitur stand bevor und für die Prüfung in Kunst hatte ich mich intensivst mit den Werken von Rene Magritte beschäftigt. Zuweilen hatte ich schon bemerkt, daß sich meine Realität für Augenblicke verschob. Einmal folg ein schneeweißer Rabe an meinem Fenster vorbei, ein andermal regnete es von unten nach oben und in meinem Schirm bildete sich eine Pfütze. Nun, bei diesen Phänomenen half noch ein Augenzwinkern und sie waren wieder verschwunden. Doch bei dem Schlüssel war es anders. Er lag schon lange nutzlos in der Schachtel und niemand aus meiner Familie wußte noch, zu welchem Schloß er gehörte. Als ich wieder mal am Schreibtisch saß und in einem Bildband des Surrealisten blätterte, nahm ich den Schlüssel und ließ ihn durch die Finger gleiten. Schließlich stellte ich ihn auf die Tischplatte, um mich anderen Dingen zuzuwenden. Kaum hatte ich mich aber etwa zwei Meter vom Schreibtisch entfernt, bohrte sich mir das Gefühl starrender Augen in den Nacken. Ich drehte mich nach zwei weiteren Schritten um und der eben noch kleine Schlüssel stand etwa in der Größe eines Kindes auf meinem Tisch und was eben noch als sein Griff zwischen meinen Fingern war, prangte nun als einzelnes großes Auge über dem Körper und sah mich blinzelnd an. Unter dem Auge trug er einen krausen Kragen, wie ich ihn aus Geschichtsbüchern von den Hugenotten kannte. Sein Bart war zu einem Fuß mutiert, der ihm sichern Stand verlieh. Ich blinzelte und rieb mir die Augen, der Schlüssel blieb, was er nicht wahr. Ich trat noch einige Schritte zurück, der Schlüssel wuchs, sein Auge fixierte mich. Vorsichtig ging ich nun auf den Schreibtisch zu und als ich ihn erreichte, stand der Schlüssel wieder in bekannter Größe, metallisch und leblos neben dem Buch. Natürlich wußte ich, wonach ich zu suchen hatte: da war es ja, auf Seite neun des Buches, jenes Bild von Magritte, auf dem menschengroße Schachfiguren mit einem Auge statt einem Kopf auf den Betrachter starren. Trotzdem wollte ich kein Risiko eingehen und steckte den Schlüssel in meine Hosentasche. Dort blieb er bis zur Prüfung, und als der Kunstlehrer fragte, ob ich die wesentlichen Gestaltungsmerkmale des Werkes Rene Magrittes erläutern könnte, nahm ich den Schlüssel heraus, stellte ihn auf den Tisch und begann zu beschreiben, wie dieser Schlüssel sich in den Augen Magrittes verändern könnte. Die Prüfer waren begeistert von meinen plastischen Ausführungen, die Note war eine glatte Eins. Heute sehe ich mir nur selten Bilder von Magritte an und bin von weiteren Realitätsverschiebungen verschont geblieben. Den Schlüssel bewahre ich allerdings in einer kleinen Schachtel auf. Man weiß ja nie.

(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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