Vasco
Mitglied
xxx, 03.November 1922
Nur ungern berichte ich von jenen unerklärlichen Ereignissen, welche mich noch immer mit Furcht und Grauen erfüllen. Zwar liegen mittlerweile mehr als drei Jahrzehnte zwischen dieser Niederschrift und den Begebenheiten, von welchen ich zu berichten genötigt bin. Längst ist es mir zur Gewohnheit geworden, jegliches Aufkeimen von Erinnerung daran aus meinen Gedanken zu verscheuchen. Leider genügt schon der Südwind, so er denn von den Kanälen herauf zu meiner Wohnung weht, um in mir die Wahrnehmung des Moders jener elenden Gruft vorzugaukeln. Bei Südwind öffne ich nie ein Fenster. Und neugierigen Fragestellern weiche ich in weitem Bogen aus.
Nun aber, da kürzlich dieser Aufsehen erregende Fund gemacht wurde, ist es vorbei mit dem sorgsam gepflegten Frieden. Plötzlich erinnert man sich meiner, bedrängt mich mit Fragen. Erzählen soll ich, wie es genau gewesen ist. Gerade so, als ob ich das nicht bereits in aller Ausführlichkeit getan hätte! Menschen, mit denen ich eine flüchtige Bekanntschaft pflege, nähern sich mir, als wären wir stets nur die besten Freunde gewesen. Verwickeln mich ins Gespräch, um dann nach vielem Herumreden zum Kern ihres Anliegens zu kommen: Herausfinden, ob mir nicht doch noch etwas zum rätselhaften Verschwinden des Missionars Leonhard Tiefel einfallen wird. Etwas bisher nicht Vernommenes. Etwas, das ein wohliges Schaudern beim Zuhörer auslösen, und ihn zudem in die Lage versetzen würde, die vermeintliche Sensation bei nächster Gelegenheit hinausplaudern und dabei die gespannte Aufmerksamkeit und ängstliche Verblüffung seiner Zuhörer genießen zu können.
Auch entfernte Verwandtschaft, welche ich jahrelang nicht zu Gesicht bekommen habe, schreibt mir neuerdings Briefe und lässt darin niemals die Frage aus, ob ich mir die Umstände des neuerlichen Fundes erklären könne. Selbstredend mit der Bitte um alsbaldige Nachricht verbunden.
Und nun, nicht zuletzt, sitzen mir die Schreiberlinge der ‚Neuen Nachrichten’, sowie Beamtete der Stadtkämmerei und sogar Repräsentanten des Senats mit all ihrer hartnäckigen Neugier im Genick.
Da ich es aber endlich leid bin, immer wieder zu diesem rätselhaften Spuk befragt zu werden, gebe ich nun hiermit diese letzte Erklärung ab. Und versichere dabei, dass sich alles genau so zugetragen hat, ich nichts hinzugefügt, und auch nichts ausgelassen habe. Lediglich will ich dafür um Verständnis bitten, dass ich mich weitgehend auf das Wesentliche beschränke, da die groben Umstände ja allenthalben bekannt sind.
So weit ich mich erinnern kann, traf im Frühsommer des Jahres 1891 ein Brief bei meiner damaligen Verlobten und heutigen Frau Constanze ein. Dieser Brief erregte aus mehreren Gründen unser Aufsehen, kam er doch geradezu vom anderen Ende der Welt. Abgestempelt war der Umschlag nämlich in Herbertshöhe, was zu der damaligen Zeit der Verwaltungssitz von Neupommern war. Diese Insel ist natürlich auch heute noch Teil des Bismarck-Archipels, nur haben sie die Engländer in ‚Neubritannien’ umbenannt.
Constanzes’ Schwester, und heutzutage meine Schwägerin, Annabel, war zu der genannten Zeit die Haushaltsgehilfin eines Missionars, welcher in jenen entfernten kolonialen Gebieten tätig war. Dort, in der tropischen Südsee, zwischen Vulkanen und Kokospalmen wollte Leonhard Tiefel Licht in das vermeintliche Dunkel der einheimischen Bevölkerung bringen. Glaubhaften Berichten zufolge herrschte dort nicht nur Kannibalismus vor, sondern auch Brautraub, Vielweiberei und Blutrache. Dazu ein weithin verbreiteter Ahnenkult und ein geradezu unauslöschlicher Glaube an die Wirksamkeit von Zauberei.
Constanze war sehr aufgeregt, als sie mir den Brief zeigte. In solch verwirrten Zustand hatte ich sie nie zuvor gesehen. Sie drängte mich, den Brief ebenfalls zu lesen, was ich tat. Den Inhalt will ich hier wiedergeben, und nur kurz anmerken, dass ich ebenfalls von ängstlicher Bestürzung ergriffen wurde. Das geschriebene Datum bewies uns, dass die Mitteilung Annabels bereits eine lange Seereise hinter sich gebracht hatte, denn das Datum der Niederschrift belegte, dass seither bereits ein Vierteljahr verstrichen war. Sie berichtete darin von der aufopfernden missionarischen Tätigkeit Leonhard Tiefels. Und von Ereignissen, welche sich daraus ergaben und welche sie nun mit beträchtlicher Sorge erfüllte:
Um dem Ahnenkult und daran anhängenden Fetisch- und Aberglauben entgegen zu wirken, hat Herr Tiefel beschlossen, eine Felsengrotte, welche sich in dem an den Pfarrgarten anschließenden Vulkanfuß befindet, als neue Grabstätte zu weihen.
Doch stieß er mit seinem Ansinnen, wie wir erfuhren, bei den Ureinwohnern offenbar auf heftigen Widerstand.
Nach dem Verständnis dieser Amelanesier wohnen die Geister der Verstorbenen nämlich in den Felsen des erkalteten Vulkans. Nachts nehmen sie die Gestalt von Flughunden an und wer sich nicht mit einem Zauber davor schützt, wird gebissen oder sogar blutleer gesaugt. Doch wütet nun seit nahezu einem halben Jahr eine schlimme Malaria-Epidemie unter den Ureinwohnern. Weshalb Leonhard bereits zwei Särge anfertigen ließ und die beiden Toten, einen älteren Mann und ein junges Mädchen, gemäß der Vorgaben unserer Kirche in der Felsengruft beerdigt hatte.
Dazu, schrieb Annabel weiter, mussten mehrere Männer eine schwere Steinplatte herbeischaffen und vor dem Eingang aufrichten. Damit kein Grabfrevel entstehe und die Totenruhe gesichert sei.
Die Malaria hat aber nun schon wieder ein Opfer gefordert, ein jüngerer Mann musste vergangenen Donnerstag zu Grabe getragen werden. Und dabei hat es einen Zwischenfall gegeben, der mich sehr beängstigt. Die Grabplatte wurde von mehreren Männern unter großen Mühen gerade so weit beiseite geschoben, dass man die kleine Höhle betreten konnte. Doch fanden wir beide Särge nicht mehr an ihrer Stätte vor. Der größere Sarg war ganz an die Wand zur Rechten verschoben, und der Kindersarg lehnte schräg daran..
Dieses Vorkommnis führte offenbar dazu, dass die Ureinwohner von Neupommern in Unruhe gerieten und Tiefel genötigt war, den Gouverneur von Deutsch-Neuguinea um Unterstützung zu bitten. Alsbald untersuchte ein Kolonialbeamter namens Treplitz das Grab und kam zu dem Ergebnis, dass wohl ein kleineres Erdbeben oder unterirdische vulkanische Aktivität die Ursache dafür war, dass die Holzsärge in eine andere als die ursprüngliche Lage geraten waren. Man ließ daher beide Särge erneut in die Mitte der Gruft stellen und gab außerdem dem dritten Sarg mit dem jungen Amelanesier einen Platz in gleicher Reihe. In dieser Ordnung ließ Tiefel die schwere Grabplatte wieder vor den Eingang schieben. Annabel führte in dem Schreiben weiter aus, dass ihr Missionar Verdacht gegen einige Einheimische hegte, welche sich teilweise beharrlich der echten Bekehrung verweigerten, und nur der großzügig verteilten Gaben wegen die Missionskirche aufsuchten.
Dazu kommt, dass ich in der vergangenen Nacht mehrmals ein Geräusch aus Richtung der Grotte vernommen habe, als ich für einige Zeit am Fenster stand, um von der kühleren Meeresluft zu atmen. Leonhard will davon nichts wissen. Ich soll mich nicht vor den Geräuschen der Nachttiere fürchten, sagt er. Aber was ich gehört habe, waren Schleifgeräusche, wie wenn ein schwerer Gegenstand bewegt wird. Und nicht etwa die Rufe eines Nachtvogels. Und die Erklärung des Herrn Treplitz stellt mich erst recht nicht zufrieden. Seit Monaten hat die Erde nicht gebebt, noch lässt einer der Vulkane seitdem mehr Rauch als üblich in den Himmel aufsteigen. Das alles ist mir unerklärlich. Es graut mir sehr!
Constanze war in Besorgnis.
„Muss sie auch ans Ende der Welt zu den Menschenfressern gehen! Was um alles in der Welt nur der Kaiser dort will, dass er seine Flagge ausgerechnet dort hissen lässt?“
„Das kann ich dir sogar beantworten“, sagte ich. Damals war ich als Handelsreisender bei der Einkaufsgenossenschaft der deutschen Nährmittelindustrie angestellt, und so waren mir besonders die wirtschaftlichen Aspekte unserer Kolonialbestrebungen durchaus vertraut.
“Man baut dort Kokosnussplantagen und gewinnt Kopra. So wird das getrocknete Fleisch dieser großen Nüsse genannt. Und aus Kopra wird Speiseöl gewonnen. Ein überaus hochwertiges, übrigens.“
„Verschone mich bitte mit deinen Geschäften! Es geht um meine Schwester und darum, dass es dort, wo sie ist, nicht recht zugeht!“, sagte sie empört, so dass ich sie sogleich fürsorglich in den Arm nahm.
„Was können wir nur für sie tun?“, fragte sie mich, als ich vorsichtig eine Träne von ihrer Wange wischte.
Um Constanzes Gemüt zu stärken, schrieb ich einen Brief an den Verkaufsleiter der Neuguinea-Kompagnie, dessen Bekanntschaft ich zuvor anlässlich einer Verkaufsmesse in Leipzig machen durfte. Ich befragte ihn nach Erntemengen und Preisen und versuchte dabei, etwas über die Situation in den Kolonien zu erfahren. Außerdem kam mir die Idee, nach einer geeigneten Schiffslinie zu fragen, freilich ohne ernsthaft in Erwägung zu ziehen, in die malariaverseuchte tropische Wildnis zu reisen.
Zu meiner Überraschung traf das Antwortschreiben kaum eine Woche später ein, dessen Inhalt ich Ihnen nicht vorenthalten will:
Mein lieber Herr…xxx,
überaus erfreut bin ich über das Interesse Ihrer Gesellschaft an der neuen Tranche Kopra und kann ihnen versichern, dass xxx,xx Mark per Doppelzentner ein ausgesprochen günstiger Preis ist, den Ihnen selbst die Holländer nicht bieten werden.
Was Ihre Fragen zu merkwürdigen Begebenheiten auf Neupommern anbelangt, kann ich Ihnen nur raten, sich selbst ein Bild zu machen. Seit die Malaria so erbarmungslos unter den Eingeborenen zuschlägt, ist der Mangel an Arbeitskräften ein bedeutendes Problem geworden. So verlangen die Erntehelfer allen Ernstes, dass ihnen nach jedem Arbeitstag auf der Plantage ein Ruhetag gewährt wird. So, wie sie es seit Urzeiten gewohnt sind. Unsere Einteilung in sechs Tage der Arbeit und einen Sonntag lehnen sie rundweg ab!
Wenn Sie, verehrter …xxx, tatsächlich eine Reise an Ort und Stelle unternehmen wollen, dann rate ich zur Eile. Am 28. Mai legt unser Dampfer ‚Bayern’ von Genua ab mit Kurs Colombo auf Ceylon. Von dort sollten Sie problemlos mit einem englischen Schiff bis Singapur kommen, wo der kleine Versorger ‚S.M.S. Stettin’ dann am 30. Juni nach Neuguinea in See sticht. Über ihre Bestellung freue ich mich genauso, wie über ihre baldige Nachricht.
Mit den besten Grüßen,
yyy
Es war geradezu aberwitzig, aber was soll ich sagen…drei Tage später saßen wir im Zug und durchquerten nicht weniger als 24 Tunnels, bis wir in Genua angekommen waren. Die Details einer siebenwöchigen Seereise möchte ich Ihnen ersparen. Zu erwähnen wäre da bestenfalls die lange Wartezeit im Suezkanal, wo immer nur ein Schiff passieren darf. Sowie die Brecherwellen im Pazifik, nachdem wir Aden einen Tag hinter uns gelassen hatten. Nahezu alle Reisenden waren von arger Seekrankheit geplagt, auch Constanze fühlte sich sterbenselend. An dieser Stelle muss ich noch anmerken, dass unmittelbar vor unserer Abreise ein weiterer Brief Annabels eingetroffen war, welcher erneut verstörende Nachrichten enthielt und unseren Entschluss, diese Reise anzutreten, erst so recht bewirkt hat:
Erneut mussten wir einen Leichnam zu Grabe tragen. Es war die Mutter des Mädchens, welches im Frühjahr verstorben ist. Wieder fanden wir die Särge in Unordnung vor. Alle drei waren auf ihr Kopfende gestellt. Ich kann gar nicht schreiben, wie erschrocken wir waren. Solchen Frevel hat es noch nirgendwo gegeben. Wir haben aber alles wieder so angeordnet, wie es die christliche Totenruhe gebietet. Mein lieber Herr Tiefel ließ zudem den Sarg des Kindes auf jenen der Mutter stellen.
Aber nicht genug! Wir haben den Eingangsstein ausgetauscht gegen einen Brocken, den nur mehr zwei kräftige Ochsen bewegen können. Außerdem haben wir Asche des Vulkans gesammelt und ringsum in der Gruft verstreut. Wer immer hier die Totenruhe stört, wird sich durch Fußabdrücke verraten müssen.
Ach, wenn doch du, liebe Stanzi, und dein geliebter xxx, wenn ihr nur hier wäret, mir wäre es gleich viel wohler. Denn auch wenn der Herr Missionar und ich so ausgezeichnete Übereinkunft in vielen Dingen des Glaubens und des Lebens haben, wünschte ich mir doch auch wieder Vertrautheit in der Gesellschaft geliebter Menschen.
Wie erwähnt, erreichten wir nach sieben Wochen Neuguinea. Von dort gelangten wir mit dem Postschiff hinüber in eine kleine Hafenanlage, welche aus einer Handvoll Bretterbuden bestand.
„Wie kommen wir weiter nach Herbertshöhe?“, fragte ich sogleich den Hafenmeister.
„Das hier ist Herbertshöhe. Wenn Sie weiter die Insel erkunden wollen, dann werden Sie nur noch Eingeborenendörfer finden. Ich kann Ihnen übrigens nur raten, einen Tropenhelm zu tragen, sonst werden Sie von den Einheimischen nicht respektiert“, gab mir der bärtige Mann zur Antwort.
„Und Respekt ist unbedingte Voraussetzung dafür, wenn man nicht aufgefressen werden will“, ergänzte eine Frauenstimme aus dem hinteren Teil des Raumes.
„Annchen!“ entfuhr es Constanze und einen Moment später lagen sich die Schwestern in den Armen.
Kurz darauf lernten wir auch den Heidenmissionar Leonhard Preisegott Tiefel kennen. Eine überaus charismatische Erscheinung mit sonnengegerbter Haut und klarem Blick aus wasserblauen Augen. Seinen Oberlippenbart trug er halb lang nach Art der Engländer. Das Gewand bestand aus einem Seemannshemd und einer Hose, deren Beine erkennbar gekürzt wurden. Am Hals trug er eine eigentümliche Kette, welche aus Muscheln und mit Haut und Haaren gekochten Mäusen bestand, die in gleichem Abstand aufgereiht waren. Daran hing ein fingerlanges Kreuz aus Messing.
„Ein Geschenk des Häuptlings Tinonga“, sagte er, als er unsere erschrockenen Blicke bemerkte, und begrüßte uns freundlich. Dann führte er uns in eine der beiden Holzbaracken, die noch ein oberes Stockwerk aufwiesen.
„Das hier ist Kirche, Missionshaus und Gästehaus. Alles in einem. Ein Raum dient als Geräteschuppen und der kleine Anbau als Hühnerstall. Seht, hier oben, haben wir eine kleine Gaube eingebaut, und hier hängt auch unser Glöcklein.“
Er zog zwei Mal an dem Läutseil und die kleine Glocke gab einen hellen Ton von sich.
„Essenszeit in Herbertshöhe. Nichts ist hier auch nur annähernd so, wie wir es von Europa gewöhnt sind. Nun aber kommt mit in den Raum, wo wir die Gottesdienste abhalten. Das ist nämlich auch gleich der Speisesaal.“
In einem Raum, der eine große Öffnung zum dahinter liegenden Garten hatte, wurde uns Rindfleisch mit Taro-Knollen serviert, einem einheimischen Wurzelgemüse und Hauptspeise der Amelanesier. Dazu gab es heißen Kaffee und Marmeladebrote. Gäbe es die lästigen Stechmücken nicht, es wäre ein wahres Idyll. Im vorderen Teil des Gartens hatte Annabel einige Gemüsebeete angelegt, daneben blühten Tulpen. Im hinteren Bereich gab es ein Palmenwäldchen, dessen kühle Luft wir genossen und das, wenn man dem Pfad weiter folgte, unmerklich anzusteigen begann.
Missionar Tiefel machte gerne den Fremdenführer.
„Hier befinden wir uns am Fuß des ‚Vaterbergs’, und die Spitze, welche ihr hier in der Verlängerung gerade noch im Dunst des Horizonts wahrnehmen könnt, ist die so genannte ‚Mutter’. Fragt nicht warum, die Namen haben die Einheimischen vergeben. Sie haben den größten Respekt selbst vor erloschenen Vulkanen. Nach ihren Legenden schlafen in ihnen die toten Geister der Verstorbenen. Werden diese aber in ihrer Ruhe gestört, so werden sie rebellisch und der Vulkan speit vor lauter Wut seine ganze heiße Lava auf die Frevler.“
Während der hemdsärmelige Missionar die Lage der Dinge erklärte, waren wir ihm entlang des Pfades gefolgt und standen nun vor jener Grotte, von der wir so Beängstigendes erfahren hatten. Ich bemerkte, dass der massive Fels, welcher wohl den geschilderten Eingangsstein darstellte, zur Seite gerückt war.
„Es gibt schon wieder Tote. Ein Knabe, den das böse Fieber verbrannt hat, und ein altes Weib, dessen Tage ohnehin gezählt waren. Sie liegen dort aufgebahrt“, sagte Leonhard Tiefel. Er streckte seinen Arm aus und deutete dabei auf zwei notdürftig zusammen gezimmerte Holzschleppen. Ich trat einige Schritte dorthin, warf einen scheuen, neugierigen Blick auf die Leichen. Doch das Summen der Fliegen wurde mit jedem Schritt lauter. Ein unheimliches Lied der Verwesung, das mich rasch wieder zurückweichen ließ. Constanze war mir nicht gefolgt, sondern starrte mit großen Augen auf den Höhleneingang. Ihre Schwester Annabel hingegen sah betreten zu Boden, als sie mit schwacher Stimme sagte:
„Wir haben die Gruft gestern Nachmittag öffnen lassen. Wenn ihr es wagt, dann werft selbst einen Blick hinein.“
Ich sah Constanze an, aber sie schüttelte den Kopf. So trat ich vorsichtig an dem mächtigen Türstein vorbei in das Dunkel der Grotte hinein. Ein durchdringender Modergeruch, den ich leider nie wieder vergessen kann, schlug mir sofort entgegen. Einige Kerzen gaben ein schwaches Licht, so dass ich des Ausmaßes der Verwüstung alsbald gewahr wurde. Die Särge waren allesamt umgeworfen. Sie lagen seitlich gekippt oder auf ihr Oberteil gedreht, gegen die ursprüngliche Richtung gewendet, teilweise übereinander gestapelt.
Bei zwei Särgen war der Deckel aufgebrochen, so dass die Leichen im einen Fall teilweise, im anderen sogar vollständig aus ihren Holzsärgen geschleudert worden waren. Ohne Zweifel hatten gewaltige Kräfte die schweren Behältnisse in sinnloser Wut in der kleinen Grotte herumgewirbelt.
Ich war zutiefst erschüttert. Doch mein Entsetzen wuchs weiter und unerklärbares Grauen erfüllte mich, als ich entdeckte, dass der mit Asche bedeckte Boden keinerlei Spuren aufwies. Lediglich dort, wo der Missionar nach der Öffnung die Kerzen entzündet hatte, sah man die Eindrücke seiner Sandalen.
„Ich habe vor, dem Spuk ein Ende zu bereiten.“, sagte Leonhard Tiefel bei unserem gemeinsamen Abendmahl, das aus Kokosmilch, Früchten und frisch gebackenem Brot bestand. Wir waren bei diesem Mahl nicht die einzigen Gäste im Gebets- und Speiseraum. Der Hafenmeister und einige Matrosen saßen ebenfalls dabei, und auch einige Einheimische hatten die Gelegenheit zu einer Mahlzeit gerne wahrgenommen.
„Morgen werden die Familien der Toten hier erscheinen und sie werden sicher verlangen, dass wir keine weitere christliche Bestattung in der Gruft mehr vornehmen sollen. Denn in ihren Augen sind die Verstorbenen bereits in Aufruhr. Und eine weitere Steigerung ihres Zorns könnte den ‚Vater’ zum Ausbruch bringen. Aber nicht nur das. Sie fürchten, dass in der Nacht die Vampirhunde in ihre Dörfer fliegen, um sich zu rächen. Ich habe daher vor, dem Spukgeist oder den Geistern, falls es denn mehrere sein sollten, selbst entgegenzutreten. Um den Einwohnern die Überlegenheit unserer Lehre zu beweisen, einerseits. Und um den Frieden dieser Grabstätte wieder herzustellen, andererseits." Der Mut des Missionars beeindruckte mich. Annabel jedoch brach darüber in Tränen aus, wollte es aber vor der Gesellschaft nicht zeigen und verzog sich in die Küche. Constanze folgte ihr einige Zeit später, um sie zu trösten. Es war uns nur zu offensichtlich, dass zwischen diesen beiden Menschen mehr als nur ein Dienstverhältnis bestand.
Am nächsten Tag, jenem 08.Juli 1891, stellte sich die Sache genau so dar, wie Leonhard Tiefel am Vorabend vermutet hatte. Die Familien der Verstorbenen versammelten sich innerhalb des Palmenhains und der Missionar nahm die Aussegnungshandlungen vor. Doch die Einheimischen folgten ihrem eigenen Ritus. Sie stampften auf den Boden oder bewegten sich in wilden Tanzgebärden. Dazu stießen sie wütende Laute aus. Offenbar war diese Art der Trauerbezeugung notwendig, um die Toten zu besänftigen und ihrer Rache zu entgehen. Nach einer Weile zogen sich die Versammelten zu einem Totenmahl zurück, während der Leonhard Tiefel nur mit großer Überredungskunst einige Männer, die nicht der Trauergesellschaft angehörten, dazu brachte, die Totensärge wieder an ihre vorgesehenen Stätten zu tragen und auszurichten. Darüber hinaus ließ er die beiden jüngst Verstorbenen ebenfalls in die bereitgestellten Särge legen und noch während des Leichenmahls in die Gruft tragen.
Ihm war sehr wohl bewusst, dass dies zu großer Empörung unter den Einheimischen führen würde, doch er hatte diese Aufwallung mit in sein Kalkül einbezogen. Während er von den zornigen Männern der Insel umringt wurde, nahm er das Ehrengeschenk, die Muschel-und-Mäuse-Kette von seinem Hals und forderte diejenigen Männer, welche am wildesten auf ihn einschimpften, auf, mit ihm gemeinsam die Mäuse zu verzehren.
Sie können sich sicher mein Befremden vorstellen, als ich zur Kenntnis nehmen musste, dass dies offenbar eine Ehrung für diese Männer bedeutete. Einer der Matrosen musste also die Mäuse häuten, ausnehmen und in der Küche der Kirchenbaracke braten. Die Männer aßen mit großem Appetit davon.
Ich selbst duckte mich in den Schatten der Palmen, doch wurden die Einheimischen leider noch rechtzeitig aufmerksam. Tiefel rief mir zu, um Gottes Willen einen Mausschenkel zu essen, weil wir sonst einen offenen Aufruhr zu fürchten hätten und er für unser Leben nicht mehr garantieren könne. Also habe ich ebenfalls ein Mäusebein abgenagt, was der Grund dafür ist, dass ich heute Vegetarier bin.
Auf diese Weise hatte aber der Missionar wieder die Oberhand gewonnen. Er schwenkte nun die Muschelkette, so dass das Kreuz im Licht der Sonnenstrahlen metallisch funkelte. In Papuasprache richtete er einige Worte an die Trauergemeinschaft, welche uns Annabel mit weinerlicher Stimme übersetzte.
„Er sagt, dass er den Geistern den Frieden geben will und auch den Seelen der Trauernden. Dass er sich deshalb zusammen mit den Toten in die Gruft begeben werde und die Nacht dort verbringen wolle. Er nehme dazu nichts anderes mit, als sein geweihtes Kreuz, welches an der Kette hänge, das er von Häuptling Tinonga erhalten hatte. Treffe er dort auf die Totengeister, so werde das Kreuz und sein Glaube deren Wut besänftigen. Und falls nicht, so hätten sie jemand, an dem sie ihre Wut auslassen könnten und keiner der hier Anwesenden muss sich weiter fürchten.“
„Ich bewundere Ihre Tapferkeit“, sagte ich zu ihm.
„Wer glaubt, der flieht nicht“, antwortete der Missionar mit einem Bibelwort und stieg in die Gruft, wo er sich bereits eine kleine Holzkiste als Sitzgelegenheit bereitgestellt hatte. Der Anweisung gemäß brachten die Einheimischen nun ein Ochsengespann heran und ließen den Türstein bis auf eine Handbreit vor die Öffnung ziehen. Annabel reichte ihm noch eine Karaffe mit Zitronenlimonade und einen Holzbecher hinein. Noch lange hielt sie die Hand des Missionars. Auch als die Nacht hereinbrach und die Trauergemeinde sich bereits seit Stunden wieder auf ihrem Weg in die entlegenen Dörfer befand, saß sie noch auf einem Stein bei der Gruft.
„Annabel, mein Herz und meine Liebe“, hörten wir seine Stimme“, es ist ganz still hier. Ich habe die Kerzen entzündet und sie strahlen ohne jedes Flackern wie es friedlicher nicht sein könnte. Sei daher unbesorgt und lege dich auch etwas hin. Sei aber morgen beizeiten zur Stelle, um mich hier wieder herauszuholen.“
Eine Brise strich vom Meer herüber und fing sich raschelnd in den Palmenblättern. Große Müdigkeit überkam uns. Daher begaben wir uns in die bescheidene Kammer, legten uns auf den gestampften Lehmboden und deckten uns mit einer leichten Baumwolldecke zu.
Mitten in der Nacht wurde ich durch einen heftigen Knall aus dem Schlaf gerissen. Das laute Geräusch hatte den Klang zweier aufeinander stoßenden Felsen. Da wir alle erwacht waren, machte sich große Besorgnis breit, die sich noch verstärkte und gar zur echten Angst auswuchs, als weitere Stöße folgten. Es bestand kein Zweifel, dass diese Geräusche im hinteren Palmengarten ihren Ursprung hatten.
Ich gebe unumwunden zu, dass ich eine Gänsehaut hatte vor Furcht, als ich mit den beiden Frauen, sowie dem ebenfalls aufgeschreckten Hafenmeister den Totenhain betrat. Vorsichtig näherten wir uns im Schein einer Öllampe der Grabstätte und fanden zu unserem Entsetzen, dass der Türstein die Gruft vollständig bedeckte. Welche ungeheuere Kraft mochte diesen Brocken verschoben haben, an dem selbst zwei ausgewachsene Rindviecher mit aller Kraft zu ziehen hatten?
Annabel war der Ohnmacht nahe. Wie von Sinnen schlug sie mit den Fäusten gegen den Fels und schluchzte heftig. Ein dumpfer Schlag aus dem inneren der Gruft ließ uns zusammenfahren. Es war nun ohne Zweifel klar, dass hier Kräfte jenseits unseres wissenschaftlich geschärften Verstandes am Wirken waren. Und es war grausam, dass wir den Missionar Leonhard Preisegott Tiefel in höchster Gefahr wähnen mussten, ihm aber nicht helfen konnten.
Freilich suchten wir noch in der Nacht das nächstgelegene Dorf der Eingeborenen auf, was bei diesem unwegsamen Gelände für sich ein eigenes Abenteuer darstellte. Noch dazu, da wir die Einheimischen dort nicht dazu bewegen konnten, mit uns zu kommen. Im Gegenteil schlug uns Misstrauen entgegen und man machte uns große Vorhaltungen. Dass wir weißen Menschen keinen Respekt vor den Geistern hätten und dergleichen mehr.
Glücklicherweise spricht der Hafenmeister ein paar Brocken ihrer Sprache und konnte ihnen zumindest abringen, wenigstens am Morgen des nächsten Tages mitsamt Ochsengespann bei der Grabstätte zu erscheinen und die Gruft ein weiteres, und wie man aus heutiger Sicht sagen kann: auch ein letztes Mal, zu öffnen.
Es fällt mir schwer, das Schaudern zu beschreiben, das uns überkam, als wir die Höhle betraten. Wieder stieg mir sofort nach dem Betreten dieser unangenehme Geruch von Moder in die Nase. Im Schein der Kerzen, welche allesamt brannten, als habe man sie gerade erst angezündet, bot sich uns dieses rätselhafte Bild: Alle sechs Särge waren nun in zwei Türmen übereinander geschichtet, und zwar geradezu wahllos. Dem linken Turm zuunterst fand sich der kleinste Sarg des Mädchens, dann folgte jener das alten Mannes, schließlich zuoberst, jener der alten Frau. Und ähnlich fand sich auch der rechte Stapel angeordnet.
Freilich wurde unsere Erschütterung erst dadurch vollkommen, als wir daran gingen, die Särge der Ordnung willen zu öffnen. Die Leichen waren ebenfalls in wahlloser Weise verteilt, im Sarge des Mädchens befand sich der Leichnam des jungen Mannes hineingequetscht. Es kostete nicht nur größter Überwindung, sondern auch einer gehörigen Portion Kraft, den Toten aus dem zu engen Sarg zu nehmen. Das Mädchen, dies zur Anmerkung, fand sich hingegen im größten Sarg, zusammen mit dem Leichnam seiner Mutter.
Vom dem Missionar Leonhard Tiefel hingegen fanden wir keine Spur. Lediglich die Karaffe lag in tausend Scherben am Boden und den Holzbecher hielt die Leiche des alten Mannes verkehrt herum in der Hand.
Natürlich gab es eine offizielle Untersuchung durch den Gouverneur von Deutsch-Neuguinea. Sie erbrachte jedoch keine weiteren Erkenntnisse. Der Verlust dieses besonderen Menschen wiegt schwer, und ist auch heute noch ein Rätsel. Soweit ich noch weiß, waren die Meinungen damals in drei Lager gespalten. Die einen waren sich sicher, dass die ständige vulkanische Aktivität für die Vorkommnisse verantwortlich sei, konnten aber das Verschwinden des Missionars nicht erklären.
Das zweite Lager vermutete Einheimische, welche nicht nur den Grabfrevel begangen, sondern den Christenmann in einem heidnischen Ritual verspeist hätten. Doch gegen diese Theorie sprach das Fehlen von Fußspuren in der Vulkanasche. Die Ureinwohner schließlich waren sich sicher, dass die Geister Rache genommen hatten und ihnen somit ein Ausbruch des Vulkans erspart geblieben ist, was natürlich hierzulande niemand ernsthaft annimmt. Jedenfalls hat man danach die Leichen wieder auf die Art der Eingeborenen in die Wälder gebracht und die Gruft offen gelassen. Seitdem herrscht dort Ruhe.
Allerdings, und damit will ich meinen Bericht abschließen, kann ich mir den jüngsten Fund der Muschelkette mit dem Messingkreuz rein gar nicht erklären. Dass diese - nach so vielen Jahren - um den Klöppel des kleinen Glöckleins gewunden, aufgefunden wurde, ist mir ein vollkommenes Rätsel. Denn ich weiß bestimmt, dass Leonhard Preisegott Tiefel sie um den Hals trug, als er in die Gruft gestiegen ist.
Nur ungern berichte ich von jenen unerklärlichen Ereignissen, welche mich noch immer mit Furcht und Grauen erfüllen. Zwar liegen mittlerweile mehr als drei Jahrzehnte zwischen dieser Niederschrift und den Begebenheiten, von welchen ich zu berichten genötigt bin. Längst ist es mir zur Gewohnheit geworden, jegliches Aufkeimen von Erinnerung daran aus meinen Gedanken zu verscheuchen. Leider genügt schon der Südwind, so er denn von den Kanälen herauf zu meiner Wohnung weht, um in mir die Wahrnehmung des Moders jener elenden Gruft vorzugaukeln. Bei Südwind öffne ich nie ein Fenster. Und neugierigen Fragestellern weiche ich in weitem Bogen aus.
Nun aber, da kürzlich dieser Aufsehen erregende Fund gemacht wurde, ist es vorbei mit dem sorgsam gepflegten Frieden. Plötzlich erinnert man sich meiner, bedrängt mich mit Fragen. Erzählen soll ich, wie es genau gewesen ist. Gerade so, als ob ich das nicht bereits in aller Ausführlichkeit getan hätte! Menschen, mit denen ich eine flüchtige Bekanntschaft pflege, nähern sich mir, als wären wir stets nur die besten Freunde gewesen. Verwickeln mich ins Gespräch, um dann nach vielem Herumreden zum Kern ihres Anliegens zu kommen: Herausfinden, ob mir nicht doch noch etwas zum rätselhaften Verschwinden des Missionars Leonhard Tiefel einfallen wird. Etwas bisher nicht Vernommenes. Etwas, das ein wohliges Schaudern beim Zuhörer auslösen, und ihn zudem in die Lage versetzen würde, die vermeintliche Sensation bei nächster Gelegenheit hinausplaudern und dabei die gespannte Aufmerksamkeit und ängstliche Verblüffung seiner Zuhörer genießen zu können.
Auch entfernte Verwandtschaft, welche ich jahrelang nicht zu Gesicht bekommen habe, schreibt mir neuerdings Briefe und lässt darin niemals die Frage aus, ob ich mir die Umstände des neuerlichen Fundes erklären könne. Selbstredend mit der Bitte um alsbaldige Nachricht verbunden.
Und nun, nicht zuletzt, sitzen mir die Schreiberlinge der ‚Neuen Nachrichten’, sowie Beamtete der Stadtkämmerei und sogar Repräsentanten des Senats mit all ihrer hartnäckigen Neugier im Genick.
Da ich es aber endlich leid bin, immer wieder zu diesem rätselhaften Spuk befragt zu werden, gebe ich nun hiermit diese letzte Erklärung ab. Und versichere dabei, dass sich alles genau so zugetragen hat, ich nichts hinzugefügt, und auch nichts ausgelassen habe. Lediglich will ich dafür um Verständnis bitten, dass ich mich weitgehend auf das Wesentliche beschränke, da die groben Umstände ja allenthalben bekannt sind.
So weit ich mich erinnern kann, traf im Frühsommer des Jahres 1891 ein Brief bei meiner damaligen Verlobten und heutigen Frau Constanze ein. Dieser Brief erregte aus mehreren Gründen unser Aufsehen, kam er doch geradezu vom anderen Ende der Welt. Abgestempelt war der Umschlag nämlich in Herbertshöhe, was zu der damaligen Zeit der Verwaltungssitz von Neupommern war. Diese Insel ist natürlich auch heute noch Teil des Bismarck-Archipels, nur haben sie die Engländer in ‚Neubritannien’ umbenannt.
Constanzes’ Schwester, und heutzutage meine Schwägerin, Annabel, war zu der genannten Zeit die Haushaltsgehilfin eines Missionars, welcher in jenen entfernten kolonialen Gebieten tätig war. Dort, in der tropischen Südsee, zwischen Vulkanen und Kokospalmen wollte Leonhard Tiefel Licht in das vermeintliche Dunkel der einheimischen Bevölkerung bringen. Glaubhaften Berichten zufolge herrschte dort nicht nur Kannibalismus vor, sondern auch Brautraub, Vielweiberei und Blutrache. Dazu ein weithin verbreiteter Ahnenkult und ein geradezu unauslöschlicher Glaube an die Wirksamkeit von Zauberei.
Constanze war sehr aufgeregt, als sie mir den Brief zeigte. In solch verwirrten Zustand hatte ich sie nie zuvor gesehen. Sie drängte mich, den Brief ebenfalls zu lesen, was ich tat. Den Inhalt will ich hier wiedergeben, und nur kurz anmerken, dass ich ebenfalls von ängstlicher Bestürzung ergriffen wurde. Das geschriebene Datum bewies uns, dass die Mitteilung Annabels bereits eine lange Seereise hinter sich gebracht hatte, denn das Datum der Niederschrift belegte, dass seither bereits ein Vierteljahr verstrichen war. Sie berichtete darin von der aufopfernden missionarischen Tätigkeit Leonhard Tiefels. Und von Ereignissen, welche sich daraus ergaben und welche sie nun mit beträchtlicher Sorge erfüllte:
Um dem Ahnenkult und daran anhängenden Fetisch- und Aberglauben entgegen zu wirken, hat Herr Tiefel beschlossen, eine Felsengrotte, welche sich in dem an den Pfarrgarten anschließenden Vulkanfuß befindet, als neue Grabstätte zu weihen.
Doch stieß er mit seinem Ansinnen, wie wir erfuhren, bei den Ureinwohnern offenbar auf heftigen Widerstand.
Nach dem Verständnis dieser Amelanesier wohnen die Geister der Verstorbenen nämlich in den Felsen des erkalteten Vulkans. Nachts nehmen sie die Gestalt von Flughunden an und wer sich nicht mit einem Zauber davor schützt, wird gebissen oder sogar blutleer gesaugt. Doch wütet nun seit nahezu einem halben Jahr eine schlimme Malaria-Epidemie unter den Ureinwohnern. Weshalb Leonhard bereits zwei Särge anfertigen ließ und die beiden Toten, einen älteren Mann und ein junges Mädchen, gemäß der Vorgaben unserer Kirche in der Felsengruft beerdigt hatte.
Dazu, schrieb Annabel weiter, mussten mehrere Männer eine schwere Steinplatte herbeischaffen und vor dem Eingang aufrichten. Damit kein Grabfrevel entstehe und die Totenruhe gesichert sei.
Die Malaria hat aber nun schon wieder ein Opfer gefordert, ein jüngerer Mann musste vergangenen Donnerstag zu Grabe getragen werden. Und dabei hat es einen Zwischenfall gegeben, der mich sehr beängstigt. Die Grabplatte wurde von mehreren Männern unter großen Mühen gerade so weit beiseite geschoben, dass man die kleine Höhle betreten konnte. Doch fanden wir beide Särge nicht mehr an ihrer Stätte vor. Der größere Sarg war ganz an die Wand zur Rechten verschoben, und der Kindersarg lehnte schräg daran..
Dieses Vorkommnis führte offenbar dazu, dass die Ureinwohner von Neupommern in Unruhe gerieten und Tiefel genötigt war, den Gouverneur von Deutsch-Neuguinea um Unterstützung zu bitten. Alsbald untersuchte ein Kolonialbeamter namens Treplitz das Grab und kam zu dem Ergebnis, dass wohl ein kleineres Erdbeben oder unterirdische vulkanische Aktivität die Ursache dafür war, dass die Holzsärge in eine andere als die ursprüngliche Lage geraten waren. Man ließ daher beide Särge erneut in die Mitte der Gruft stellen und gab außerdem dem dritten Sarg mit dem jungen Amelanesier einen Platz in gleicher Reihe. In dieser Ordnung ließ Tiefel die schwere Grabplatte wieder vor den Eingang schieben. Annabel führte in dem Schreiben weiter aus, dass ihr Missionar Verdacht gegen einige Einheimische hegte, welche sich teilweise beharrlich der echten Bekehrung verweigerten, und nur der großzügig verteilten Gaben wegen die Missionskirche aufsuchten.
Dazu kommt, dass ich in der vergangenen Nacht mehrmals ein Geräusch aus Richtung der Grotte vernommen habe, als ich für einige Zeit am Fenster stand, um von der kühleren Meeresluft zu atmen. Leonhard will davon nichts wissen. Ich soll mich nicht vor den Geräuschen der Nachttiere fürchten, sagt er. Aber was ich gehört habe, waren Schleifgeräusche, wie wenn ein schwerer Gegenstand bewegt wird. Und nicht etwa die Rufe eines Nachtvogels. Und die Erklärung des Herrn Treplitz stellt mich erst recht nicht zufrieden. Seit Monaten hat die Erde nicht gebebt, noch lässt einer der Vulkane seitdem mehr Rauch als üblich in den Himmel aufsteigen. Das alles ist mir unerklärlich. Es graut mir sehr!
Constanze war in Besorgnis.
„Muss sie auch ans Ende der Welt zu den Menschenfressern gehen! Was um alles in der Welt nur der Kaiser dort will, dass er seine Flagge ausgerechnet dort hissen lässt?“
„Das kann ich dir sogar beantworten“, sagte ich. Damals war ich als Handelsreisender bei der Einkaufsgenossenschaft der deutschen Nährmittelindustrie angestellt, und so waren mir besonders die wirtschaftlichen Aspekte unserer Kolonialbestrebungen durchaus vertraut.
“Man baut dort Kokosnussplantagen und gewinnt Kopra. So wird das getrocknete Fleisch dieser großen Nüsse genannt. Und aus Kopra wird Speiseöl gewonnen. Ein überaus hochwertiges, übrigens.“
„Verschone mich bitte mit deinen Geschäften! Es geht um meine Schwester und darum, dass es dort, wo sie ist, nicht recht zugeht!“, sagte sie empört, so dass ich sie sogleich fürsorglich in den Arm nahm.
„Was können wir nur für sie tun?“, fragte sie mich, als ich vorsichtig eine Träne von ihrer Wange wischte.
Um Constanzes Gemüt zu stärken, schrieb ich einen Brief an den Verkaufsleiter der Neuguinea-Kompagnie, dessen Bekanntschaft ich zuvor anlässlich einer Verkaufsmesse in Leipzig machen durfte. Ich befragte ihn nach Erntemengen und Preisen und versuchte dabei, etwas über die Situation in den Kolonien zu erfahren. Außerdem kam mir die Idee, nach einer geeigneten Schiffslinie zu fragen, freilich ohne ernsthaft in Erwägung zu ziehen, in die malariaverseuchte tropische Wildnis zu reisen.
Zu meiner Überraschung traf das Antwortschreiben kaum eine Woche später ein, dessen Inhalt ich Ihnen nicht vorenthalten will:
Mein lieber Herr…xxx,
überaus erfreut bin ich über das Interesse Ihrer Gesellschaft an der neuen Tranche Kopra und kann ihnen versichern, dass xxx,xx Mark per Doppelzentner ein ausgesprochen günstiger Preis ist, den Ihnen selbst die Holländer nicht bieten werden.
Was Ihre Fragen zu merkwürdigen Begebenheiten auf Neupommern anbelangt, kann ich Ihnen nur raten, sich selbst ein Bild zu machen. Seit die Malaria so erbarmungslos unter den Eingeborenen zuschlägt, ist der Mangel an Arbeitskräften ein bedeutendes Problem geworden. So verlangen die Erntehelfer allen Ernstes, dass ihnen nach jedem Arbeitstag auf der Plantage ein Ruhetag gewährt wird. So, wie sie es seit Urzeiten gewohnt sind. Unsere Einteilung in sechs Tage der Arbeit und einen Sonntag lehnen sie rundweg ab!
Wenn Sie, verehrter …xxx, tatsächlich eine Reise an Ort und Stelle unternehmen wollen, dann rate ich zur Eile. Am 28. Mai legt unser Dampfer ‚Bayern’ von Genua ab mit Kurs Colombo auf Ceylon. Von dort sollten Sie problemlos mit einem englischen Schiff bis Singapur kommen, wo der kleine Versorger ‚S.M.S. Stettin’ dann am 30. Juni nach Neuguinea in See sticht. Über ihre Bestellung freue ich mich genauso, wie über ihre baldige Nachricht.
Mit den besten Grüßen,
yyy
Es war geradezu aberwitzig, aber was soll ich sagen…drei Tage später saßen wir im Zug und durchquerten nicht weniger als 24 Tunnels, bis wir in Genua angekommen waren. Die Details einer siebenwöchigen Seereise möchte ich Ihnen ersparen. Zu erwähnen wäre da bestenfalls die lange Wartezeit im Suezkanal, wo immer nur ein Schiff passieren darf. Sowie die Brecherwellen im Pazifik, nachdem wir Aden einen Tag hinter uns gelassen hatten. Nahezu alle Reisenden waren von arger Seekrankheit geplagt, auch Constanze fühlte sich sterbenselend. An dieser Stelle muss ich noch anmerken, dass unmittelbar vor unserer Abreise ein weiterer Brief Annabels eingetroffen war, welcher erneut verstörende Nachrichten enthielt und unseren Entschluss, diese Reise anzutreten, erst so recht bewirkt hat:
Erneut mussten wir einen Leichnam zu Grabe tragen. Es war die Mutter des Mädchens, welches im Frühjahr verstorben ist. Wieder fanden wir die Särge in Unordnung vor. Alle drei waren auf ihr Kopfende gestellt. Ich kann gar nicht schreiben, wie erschrocken wir waren. Solchen Frevel hat es noch nirgendwo gegeben. Wir haben aber alles wieder so angeordnet, wie es die christliche Totenruhe gebietet. Mein lieber Herr Tiefel ließ zudem den Sarg des Kindes auf jenen der Mutter stellen.
Aber nicht genug! Wir haben den Eingangsstein ausgetauscht gegen einen Brocken, den nur mehr zwei kräftige Ochsen bewegen können. Außerdem haben wir Asche des Vulkans gesammelt und ringsum in der Gruft verstreut. Wer immer hier die Totenruhe stört, wird sich durch Fußabdrücke verraten müssen.
Ach, wenn doch du, liebe Stanzi, und dein geliebter xxx, wenn ihr nur hier wäret, mir wäre es gleich viel wohler. Denn auch wenn der Herr Missionar und ich so ausgezeichnete Übereinkunft in vielen Dingen des Glaubens und des Lebens haben, wünschte ich mir doch auch wieder Vertrautheit in der Gesellschaft geliebter Menschen.
Wie erwähnt, erreichten wir nach sieben Wochen Neuguinea. Von dort gelangten wir mit dem Postschiff hinüber in eine kleine Hafenanlage, welche aus einer Handvoll Bretterbuden bestand.
„Wie kommen wir weiter nach Herbertshöhe?“, fragte ich sogleich den Hafenmeister.
„Das hier ist Herbertshöhe. Wenn Sie weiter die Insel erkunden wollen, dann werden Sie nur noch Eingeborenendörfer finden. Ich kann Ihnen übrigens nur raten, einen Tropenhelm zu tragen, sonst werden Sie von den Einheimischen nicht respektiert“, gab mir der bärtige Mann zur Antwort.
„Und Respekt ist unbedingte Voraussetzung dafür, wenn man nicht aufgefressen werden will“, ergänzte eine Frauenstimme aus dem hinteren Teil des Raumes.
„Annchen!“ entfuhr es Constanze und einen Moment später lagen sich die Schwestern in den Armen.
Kurz darauf lernten wir auch den Heidenmissionar Leonhard Preisegott Tiefel kennen. Eine überaus charismatische Erscheinung mit sonnengegerbter Haut und klarem Blick aus wasserblauen Augen. Seinen Oberlippenbart trug er halb lang nach Art der Engländer. Das Gewand bestand aus einem Seemannshemd und einer Hose, deren Beine erkennbar gekürzt wurden. Am Hals trug er eine eigentümliche Kette, welche aus Muscheln und mit Haut und Haaren gekochten Mäusen bestand, die in gleichem Abstand aufgereiht waren. Daran hing ein fingerlanges Kreuz aus Messing.
„Ein Geschenk des Häuptlings Tinonga“, sagte er, als er unsere erschrockenen Blicke bemerkte, und begrüßte uns freundlich. Dann führte er uns in eine der beiden Holzbaracken, die noch ein oberes Stockwerk aufwiesen.
„Das hier ist Kirche, Missionshaus und Gästehaus. Alles in einem. Ein Raum dient als Geräteschuppen und der kleine Anbau als Hühnerstall. Seht, hier oben, haben wir eine kleine Gaube eingebaut, und hier hängt auch unser Glöcklein.“
Er zog zwei Mal an dem Läutseil und die kleine Glocke gab einen hellen Ton von sich.
„Essenszeit in Herbertshöhe. Nichts ist hier auch nur annähernd so, wie wir es von Europa gewöhnt sind. Nun aber kommt mit in den Raum, wo wir die Gottesdienste abhalten. Das ist nämlich auch gleich der Speisesaal.“
In einem Raum, der eine große Öffnung zum dahinter liegenden Garten hatte, wurde uns Rindfleisch mit Taro-Knollen serviert, einem einheimischen Wurzelgemüse und Hauptspeise der Amelanesier. Dazu gab es heißen Kaffee und Marmeladebrote. Gäbe es die lästigen Stechmücken nicht, es wäre ein wahres Idyll. Im vorderen Teil des Gartens hatte Annabel einige Gemüsebeete angelegt, daneben blühten Tulpen. Im hinteren Bereich gab es ein Palmenwäldchen, dessen kühle Luft wir genossen und das, wenn man dem Pfad weiter folgte, unmerklich anzusteigen begann.
Missionar Tiefel machte gerne den Fremdenführer.
„Hier befinden wir uns am Fuß des ‚Vaterbergs’, und die Spitze, welche ihr hier in der Verlängerung gerade noch im Dunst des Horizonts wahrnehmen könnt, ist die so genannte ‚Mutter’. Fragt nicht warum, die Namen haben die Einheimischen vergeben. Sie haben den größten Respekt selbst vor erloschenen Vulkanen. Nach ihren Legenden schlafen in ihnen die toten Geister der Verstorbenen. Werden diese aber in ihrer Ruhe gestört, so werden sie rebellisch und der Vulkan speit vor lauter Wut seine ganze heiße Lava auf die Frevler.“
Während der hemdsärmelige Missionar die Lage der Dinge erklärte, waren wir ihm entlang des Pfades gefolgt und standen nun vor jener Grotte, von der wir so Beängstigendes erfahren hatten. Ich bemerkte, dass der massive Fels, welcher wohl den geschilderten Eingangsstein darstellte, zur Seite gerückt war.
„Es gibt schon wieder Tote. Ein Knabe, den das böse Fieber verbrannt hat, und ein altes Weib, dessen Tage ohnehin gezählt waren. Sie liegen dort aufgebahrt“, sagte Leonhard Tiefel. Er streckte seinen Arm aus und deutete dabei auf zwei notdürftig zusammen gezimmerte Holzschleppen. Ich trat einige Schritte dorthin, warf einen scheuen, neugierigen Blick auf die Leichen. Doch das Summen der Fliegen wurde mit jedem Schritt lauter. Ein unheimliches Lied der Verwesung, das mich rasch wieder zurückweichen ließ. Constanze war mir nicht gefolgt, sondern starrte mit großen Augen auf den Höhleneingang. Ihre Schwester Annabel hingegen sah betreten zu Boden, als sie mit schwacher Stimme sagte:
„Wir haben die Gruft gestern Nachmittag öffnen lassen. Wenn ihr es wagt, dann werft selbst einen Blick hinein.“
Ich sah Constanze an, aber sie schüttelte den Kopf. So trat ich vorsichtig an dem mächtigen Türstein vorbei in das Dunkel der Grotte hinein. Ein durchdringender Modergeruch, den ich leider nie wieder vergessen kann, schlug mir sofort entgegen. Einige Kerzen gaben ein schwaches Licht, so dass ich des Ausmaßes der Verwüstung alsbald gewahr wurde. Die Särge waren allesamt umgeworfen. Sie lagen seitlich gekippt oder auf ihr Oberteil gedreht, gegen die ursprüngliche Richtung gewendet, teilweise übereinander gestapelt.
Bei zwei Särgen war der Deckel aufgebrochen, so dass die Leichen im einen Fall teilweise, im anderen sogar vollständig aus ihren Holzsärgen geschleudert worden waren. Ohne Zweifel hatten gewaltige Kräfte die schweren Behältnisse in sinnloser Wut in der kleinen Grotte herumgewirbelt.
Ich war zutiefst erschüttert. Doch mein Entsetzen wuchs weiter und unerklärbares Grauen erfüllte mich, als ich entdeckte, dass der mit Asche bedeckte Boden keinerlei Spuren aufwies. Lediglich dort, wo der Missionar nach der Öffnung die Kerzen entzündet hatte, sah man die Eindrücke seiner Sandalen.
„Ich habe vor, dem Spuk ein Ende zu bereiten.“, sagte Leonhard Tiefel bei unserem gemeinsamen Abendmahl, das aus Kokosmilch, Früchten und frisch gebackenem Brot bestand. Wir waren bei diesem Mahl nicht die einzigen Gäste im Gebets- und Speiseraum. Der Hafenmeister und einige Matrosen saßen ebenfalls dabei, und auch einige Einheimische hatten die Gelegenheit zu einer Mahlzeit gerne wahrgenommen.
„Morgen werden die Familien der Toten hier erscheinen und sie werden sicher verlangen, dass wir keine weitere christliche Bestattung in der Gruft mehr vornehmen sollen. Denn in ihren Augen sind die Verstorbenen bereits in Aufruhr. Und eine weitere Steigerung ihres Zorns könnte den ‚Vater’ zum Ausbruch bringen. Aber nicht nur das. Sie fürchten, dass in der Nacht die Vampirhunde in ihre Dörfer fliegen, um sich zu rächen. Ich habe daher vor, dem Spukgeist oder den Geistern, falls es denn mehrere sein sollten, selbst entgegenzutreten. Um den Einwohnern die Überlegenheit unserer Lehre zu beweisen, einerseits. Und um den Frieden dieser Grabstätte wieder herzustellen, andererseits." Der Mut des Missionars beeindruckte mich. Annabel jedoch brach darüber in Tränen aus, wollte es aber vor der Gesellschaft nicht zeigen und verzog sich in die Küche. Constanze folgte ihr einige Zeit später, um sie zu trösten. Es war uns nur zu offensichtlich, dass zwischen diesen beiden Menschen mehr als nur ein Dienstverhältnis bestand.
Am nächsten Tag, jenem 08.Juli 1891, stellte sich die Sache genau so dar, wie Leonhard Tiefel am Vorabend vermutet hatte. Die Familien der Verstorbenen versammelten sich innerhalb des Palmenhains und der Missionar nahm die Aussegnungshandlungen vor. Doch die Einheimischen folgten ihrem eigenen Ritus. Sie stampften auf den Boden oder bewegten sich in wilden Tanzgebärden. Dazu stießen sie wütende Laute aus. Offenbar war diese Art der Trauerbezeugung notwendig, um die Toten zu besänftigen und ihrer Rache zu entgehen. Nach einer Weile zogen sich die Versammelten zu einem Totenmahl zurück, während der Leonhard Tiefel nur mit großer Überredungskunst einige Männer, die nicht der Trauergesellschaft angehörten, dazu brachte, die Totensärge wieder an ihre vorgesehenen Stätten zu tragen und auszurichten. Darüber hinaus ließ er die beiden jüngst Verstorbenen ebenfalls in die bereitgestellten Särge legen und noch während des Leichenmahls in die Gruft tragen.
Ihm war sehr wohl bewusst, dass dies zu großer Empörung unter den Einheimischen führen würde, doch er hatte diese Aufwallung mit in sein Kalkül einbezogen. Während er von den zornigen Männern der Insel umringt wurde, nahm er das Ehrengeschenk, die Muschel-und-Mäuse-Kette von seinem Hals und forderte diejenigen Männer, welche am wildesten auf ihn einschimpften, auf, mit ihm gemeinsam die Mäuse zu verzehren.
Sie können sich sicher mein Befremden vorstellen, als ich zur Kenntnis nehmen musste, dass dies offenbar eine Ehrung für diese Männer bedeutete. Einer der Matrosen musste also die Mäuse häuten, ausnehmen und in der Küche der Kirchenbaracke braten. Die Männer aßen mit großem Appetit davon.
Ich selbst duckte mich in den Schatten der Palmen, doch wurden die Einheimischen leider noch rechtzeitig aufmerksam. Tiefel rief mir zu, um Gottes Willen einen Mausschenkel zu essen, weil wir sonst einen offenen Aufruhr zu fürchten hätten und er für unser Leben nicht mehr garantieren könne. Also habe ich ebenfalls ein Mäusebein abgenagt, was der Grund dafür ist, dass ich heute Vegetarier bin.
Auf diese Weise hatte aber der Missionar wieder die Oberhand gewonnen. Er schwenkte nun die Muschelkette, so dass das Kreuz im Licht der Sonnenstrahlen metallisch funkelte. In Papuasprache richtete er einige Worte an die Trauergemeinschaft, welche uns Annabel mit weinerlicher Stimme übersetzte.
„Er sagt, dass er den Geistern den Frieden geben will und auch den Seelen der Trauernden. Dass er sich deshalb zusammen mit den Toten in die Gruft begeben werde und die Nacht dort verbringen wolle. Er nehme dazu nichts anderes mit, als sein geweihtes Kreuz, welches an der Kette hänge, das er von Häuptling Tinonga erhalten hatte. Treffe er dort auf die Totengeister, so werde das Kreuz und sein Glaube deren Wut besänftigen. Und falls nicht, so hätten sie jemand, an dem sie ihre Wut auslassen könnten und keiner der hier Anwesenden muss sich weiter fürchten.“
„Ich bewundere Ihre Tapferkeit“, sagte ich zu ihm.
„Wer glaubt, der flieht nicht“, antwortete der Missionar mit einem Bibelwort und stieg in die Gruft, wo er sich bereits eine kleine Holzkiste als Sitzgelegenheit bereitgestellt hatte. Der Anweisung gemäß brachten die Einheimischen nun ein Ochsengespann heran und ließen den Türstein bis auf eine Handbreit vor die Öffnung ziehen. Annabel reichte ihm noch eine Karaffe mit Zitronenlimonade und einen Holzbecher hinein. Noch lange hielt sie die Hand des Missionars. Auch als die Nacht hereinbrach und die Trauergemeinde sich bereits seit Stunden wieder auf ihrem Weg in die entlegenen Dörfer befand, saß sie noch auf einem Stein bei der Gruft.
„Annabel, mein Herz und meine Liebe“, hörten wir seine Stimme“, es ist ganz still hier. Ich habe die Kerzen entzündet und sie strahlen ohne jedes Flackern wie es friedlicher nicht sein könnte. Sei daher unbesorgt und lege dich auch etwas hin. Sei aber morgen beizeiten zur Stelle, um mich hier wieder herauszuholen.“
Eine Brise strich vom Meer herüber und fing sich raschelnd in den Palmenblättern. Große Müdigkeit überkam uns. Daher begaben wir uns in die bescheidene Kammer, legten uns auf den gestampften Lehmboden und deckten uns mit einer leichten Baumwolldecke zu.
Mitten in der Nacht wurde ich durch einen heftigen Knall aus dem Schlaf gerissen. Das laute Geräusch hatte den Klang zweier aufeinander stoßenden Felsen. Da wir alle erwacht waren, machte sich große Besorgnis breit, die sich noch verstärkte und gar zur echten Angst auswuchs, als weitere Stöße folgten. Es bestand kein Zweifel, dass diese Geräusche im hinteren Palmengarten ihren Ursprung hatten.
Ich gebe unumwunden zu, dass ich eine Gänsehaut hatte vor Furcht, als ich mit den beiden Frauen, sowie dem ebenfalls aufgeschreckten Hafenmeister den Totenhain betrat. Vorsichtig näherten wir uns im Schein einer Öllampe der Grabstätte und fanden zu unserem Entsetzen, dass der Türstein die Gruft vollständig bedeckte. Welche ungeheuere Kraft mochte diesen Brocken verschoben haben, an dem selbst zwei ausgewachsene Rindviecher mit aller Kraft zu ziehen hatten?
Annabel war der Ohnmacht nahe. Wie von Sinnen schlug sie mit den Fäusten gegen den Fels und schluchzte heftig. Ein dumpfer Schlag aus dem inneren der Gruft ließ uns zusammenfahren. Es war nun ohne Zweifel klar, dass hier Kräfte jenseits unseres wissenschaftlich geschärften Verstandes am Wirken waren. Und es war grausam, dass wir den Missionar Leonhard Preisegott Tiefel in höchster Gefahr wähnen mussten, ihm aber nicht helfen konnten.
Freilich suchten wir noch in der Nacht das nächstgelegene Dorf der Eingeborenen auf, was bei diesem unwegsamen Gelände für sich ein eigenes Abenteuer darstellte. Noch dazu, da wir die Einheimischen dort nicht dazu bewegen konnten, mit uns zu kommen. Im Gegenteil schlug uns Misstrauen entgegen und man machte uns große Vorhaltungen. Dass wir weißen Menschen keinen Respekt vor den Geistern hätten und dergleichen mehr.
Glücklicherweise spricht der Hafenmeister ein paar Brocken ihrer Sprache und konnte ihnen zumindest abringen, wenigstens am Morgen des nächsten Tages mitsamt Ochsengespann bei der Grabstätte zu erscheinen und die Gruft ein weiteres, und wie man aus heutiger Sicht sagen kann: auch ein letztes Mal, zu öffnen.
Es fällt mir schwer, das Schaudern zu beschreiben, das uns überkam, als wir die Höhle betraten. Wieder stieg mir sofort nach dem Betreten dieser unangenehme Geruch von Moder in die Nase. Im Schein der Kerzen, welche allesamt brannten, als habe man sie gerade erst angezündet, bot sich uns dieses rätselhafte Bild: Alle sechs Särge waren nun in zwei Türmen übereinander geschichtet, und zwar geradezu wahllos. Dem linken Turm zuunterst fand sich der kleinste Sarg des Mädchens, dann folgte jener das alten Mannes, schließlich zuoberst, jener der alten Frau. Und ähnlich fand sich auch der rechte Stapel angeordnet.
Freilich wurde unsere Erschütterung erst dadurch vollkommen, als wir daran gingen, die Särge der Ordnung willen zu öffnen. Die Leichen waren ebenfalls in wahlloser Weise verteilt, im Sarge des Mädchens befand sich der Leichnam des jungen Mannes hineingequetscht. Es kostete nicht nur größter Überwindung, sondern auch einer gehörigen Portion Kraft, den Toten aus dem zu engen Sarg zu nehmen. Das Mädchen, dies zur Anmerkung, fand sich hingegen im größten Sarg, zusammen mit dem Leichnam seiner Mutter.
Vom dem Missionar Leonhard Tiefel hingegen fanden wir keine Spur. Lediglich die Karaffe lag in tausend Scherben am Boden und den Holzbecher hielt die Leiche des alten Mannes verkehrt herum in der Hand.
Natürlich gab es eine offizielle Untersuchung durch den Gouverneur von Deutsch-Neuguinea. Sie erbrachte jedoch keine weiteren Erkenntnisse. Der Verlust dieses besonderen Menschen wiegt schwer, und ist auch heute noch ein Rätsel. Soweit ich noch weiß, waren die Meinungen damals in drei Lager gespalten. Die einen waren sich sicher, dass die ständige vulkanische Aktivität für die Vorkommnisse verantwortlich sei, konnten aber das Verschwinden des Missionars nicht erklären.
Das zweite Lager vermutete Einheimische, welche nicht nur den Grabfrevel begangen, sondern den Christenmann in einem heidnischen Ritual verspeist hätten. Doch gegen diese Theorie sprach das Fehlen von Fußspuren in der Vulkanasche. Die Ureinwohner schließlich waren sich sicher, dass die Geister Rache genommen hatten und ihnen somit ein Ausbruch des Vulkans erspart geblieben ist, was natürlich hierzulande niemand ernsthaft annimmt. Jedenfalls hat man danach die Leichen wieder auf die Art der Eingeborenen in die Wälder gebracht und die Gruft offen gelassen. Seitdem herrscht dort Ruhe.
Allerdings, und damit will ich meinen Bericht abschließen, kann ich mir den jüngsten Fund der Muschelkette mit dem Messingkreuz rein gar nicht erklären. Dass diese - nach so vielen Jahren - um den Klöppel des kleinen Glöckleins gewunden, aufgefunden wurde, ist mir ein vollkommenes Rätsel. Denn ich weiß bestimmt, dass Leonhard Preisegott Tiefel sie um den Hals trug, als er in die Gruft gestiegen ist.
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