Mittelberge

Gerardo

Mitglied










Verona Forster






Mittelberge








Erzählung


































































































Diese Geschichte ist frei erfunden. Copyright: Verona Forster, 2022








I.​


Etwa von meinem siebten Lebensjahr an verbrachte ich alle Schulferien und die meisten Wochenenden und Festtage bei meiner Großmutter mütterlicherseits. Meine Großmutter mütterlicherseits lebte in Berge, genauer gesagt in Mittelberge; genauer gesagt mitten in der Mitte von Mittelberge. Und das war etwas Besonderes.
Berge hatte insgesamt fünf Ortsteile. Es gab Niederberge, Mittelberge, Oberberge, Bergerhammer und Bergerhütte. Die verschiedenen Teile Berges waren durch eine mehrere Kilometer lange Straße miteinander verbunden, die sich im Tal eines Flusses dahinzog, und alle Berges hatten zusammengenommen knapp tausend Einwohner.

Die Mitte von Mittelberge nun war der magische Punkt des ganzen Dorfes. Dort liefen alle Fäden zusammen, die die verschiedenen Teile Berges miteinander, und Berge als Ganzes mit der umliegenden Welt verbanden. Dort befand sich das größte Lebensmittelgeschäft des Dorfes, und direkt daneben lag die Bushaltestelle, an der mehrmals am Tag der Postbus hielt. Dort lag ebenso der beste und älteste Gasthof von Berge, dessen Saal seit undenklichen Zeiten dem Männergesangverein als Probenraum diente. Das einzige Textilgeschäft und das einzige Café-Restaurant nicht nur Berges, sondern auch aller umliegenden Ortschaften waren ebenfalls hier angesiedelt. Und, last but not least, hatte Berge auch noch eine etwas außerhalb liegende Bahnstation, die mit Mittelberge durch eine schmale Straße, Bahnhofstraße genannt, verbunden war. Unweit der Stelle, wo die Bahnhofstraße in die Dorfstraße mündete, stand mitten in Mittelberge meiner Großmutter Haus.
Es war ein großes solide gebautes Haus, dessen besondere Zierde die von meinem Großvater selbst geschreinerte Haustür mit den bunten Butzenscheiben und die Haustreppe waren. Die Haustür und die Haustreppe waren der Dorfstraße zugewandt. Die Treppenstufen mündeten in circa einem Meter Höhe in eine Plattform, die zu beiden Seiten der Haustür von hüfthohen Mauern begrenzt wurde. In diese Mauern waren, je eine auf der rechten und eine auf der linken Seite, hölzerne Sitzbänke eingelassen, die mein Großvater, der Schreiner gewesen war, ebenfalls selbst angefertigt hatte. Jede dieser Bänke bot bequem zwei Erwachsenen Platz.
Wenn es das Wetter nur irgend erlaubte, verbrachten meine Großmutter und ich den späten Nachmittag und die Abendstunden bis zum Einbruch der Dunkelheit auf den Bänken vor dem Haus. Die Bänke vor der Haustür waren die Theaterloge, von der aus wir alles, was sich vor unseren Augen abspielte, mit Spannung verfolgten.
Die Dorfstraße war die Lebensader des ganzen langgestreckten Ortes. Sie wurde an beiden Seiten von hohen alten Lindenbäumen begrenzt und hatte ein festes, solides Katzen-kopfsteinpflaster. Die Linden färbten sich jedes Jahr im Herbst golden, und in die Pflastersteine waren die Spuren von Wagenrädern eingegraben. Unzählige Generationen von Bauern und zahlreiche Heerzüge waren über diese Straße dahingegangen, die ursprünglich Teil einer alten Heeresstraße im Tal der Wenne gewesen war.


Als ich ein Kind war, zog jeden Morgen und jeden Abend durch Mittelberge der Kuhhirte mit den Kühen. Der Kuhhirte war ein kleiner, vollkommen verhutzelter Mann mit einem großen höckerartigen Buckel. Er hieß „Willem“, was eine plattdeutsche Verkürzung von „Wilhelm“ war, und alle im Dorf behaupteten, er sei „nicht ganz richtig im Kopf.“ Willem war bei der Gemeinde als Hirte angestellt. In dieser Funktion sammelte er jeden Morgen die Kühe der Mittelberger Bauern ein und trieb sie auf die Weiden außerhalb des Dorfes. Den Tag über beaufsichtigte er die Kühe dort. Und abends trieb er die Herde zurück ins Dorf und liefert die Kühe wieder bei ihren jeweiligen Besitzern ab.
Wenn er am Abend mit seiner Herde vor Großmutters Haus angelangte, legte Willem für gewöhnlich einen Halt ein, um mit meiner Großmutter zu sprechen. Das war ein so fester Bestandteil seines Heimwegs, dass sogar schon die Kuhherde vor unserer Haustreppe stehen blieb, ohne dass es dazu eines Kommandos von Willem bedurft hätte. „Wie cheits, Willem?“ fragte meine Großmutter. „Chut“, antwortete Willem, „Chut, Frau.“ Dazu lachte er, ohne meine Großmutter anzuschauen, in einer seltsam verlegenen Art. Manchmal blickte Willem aber auch mit schmerzerfülltem Gesicht zum Himmel, fasste sich mit einer verdrehten Armbewegung an den buckligen Rücken und gab tief seufzend die Antwort: „Het Rheuma, Frau, het Rheuma.“ Dann nickte meine Großmutter verständnisvoll.
Als nächstes tauschten Großmutter und Willem sich über die Kühe aus. Wir erfuhren von Willem welche Kuh aus der Herde trächtig war, und welche sich verletzt hatte. Großmutter hörte aufmerksam zu und sparte auch nicht mit passenden Kommentaren.
Allerdings war es oft schwer, zu verstehen, was Willem sagte. Er war beim Sprechen nämlich furchtbar aufgeregt und begleitete deshalb alles, was er sagte, mit weit ausgreifenden und geradezu sinnlos anmutenden Gebärden. Er sprach auch keinen Satz, der nicht von tiefen Seufzern begleitet war. Diese Seufzer gingen durch Willem hindurch wie Erschütterungen, so dass beim Sprechen sein ganzer erbärmlicher Körper ins Wanken geriet. Und wenn Willem gar vom Tode einer Kuh, oder von einem anderen Unglück, das ihn getroffen hatte, sprach, raufte er sich zu alledem noch mit beiden Händen wild das Haar. Es war also nicht einfach, mit Willem Gedanken auszutauschen. Aber meine Großmutter war darin geübt, ihm zuzuhören.
Vor jedem Feiertag und an seinem Namenstag schenkte meine Großmutter Willem eine große Schachtel Zigarillos. Zigarillos rauchte Willem nämlich für sein Leben gern. Wenn er die Zigarillos in Empfang nahm, kam Willem jedes mal näher als sonst an unsere Haustreppe heran. In diesen Momenten konnte ich seine seltsam traurigen, halb vom langen Haar verdeckten, Gesichtszüge genauer studieren. Dabei entdeckte ich, dass Willem, der uralt zu sein schien, in Wirklichkeit kaum vierzig Jahre zählte. Er hatte ernste, tiefblaue Augen, die er vielleicht nur deshalb hinter langen Haarsträhnen versteckte, damit niemand merkte, dass es nicht die Augen eines Idioten waren. Ihn für einen Idioten zu halten, war bequemer für das Dorf. Und Willem gab sich, wohl instinktiv, so, wie die Dorfbevölkerung ihn haben wollte. Das war seine Überlebensmöglichkeit.
Neben allen anderen Seltsamkeiten war Willem auch der schmutzigste Mensch, den ich in meinen Kinder- und Jugendjahren je zu Gesicht bekam. Und ich vermute, diese Tatsache machte einen nicht unwesentlichen Teil der Faszination aus, die er auf mich ausübte. Wie um sein nicht normal Sein für jedermann augenfällig zu machen, starrte Willem in geradezu unglaublicher Weise vor Schmutz und Dreck. Wenn Willem sich schüttelte, hatte ich immer das Gefühl, der Dreck müsse in dicken Brocken von ihm abfallen. Der Gestank, der von ihm ausging, war derart bestialisch, dass meine Großmutter, wenn Willem in ihre Nähe kam, unwillkürlich das Gesicht verzog. Aber wenn Willem gegangen war, sagte meine Großmutter: „Der arme Kerl. Er hatte sehr schlimme Eltern. Sie haben ihn nur getreten und geschlagen. Als Kind ist er von einem Heuboden gefallen. Niemand hat sich um ihn gekümmert. Er haust in einer Kammer neben den Kühen. Wo soll er sich auch waschen?“ Und dann sagte meine Großmutter plötzlich zu mir: „Sein Vater war ein sehr schöner Mann.“ Und dabei bekam sie einen ganz seltsamen Gesichtsausdruck, fast wie verklärt.
Die eigenartigen Gespräche zwischen Willem und meiner Großmutter fanden meist ein Ende, weil die Kühe ungeduldig wurden. Einige Tiere gingen einfach auf der Dorfstraße weiter vor, und andere liefen gar in Hofeinfahrten, in denen sie nichts zu suchen hatten. Dann musste Willem eingreifen. Er setzte hastig sein Hütchen auf und trat, seinen Hütestock schwingend, in Aktion: „Hie Chreta hie! Houd Blesse houd! Kumm hie, Kumm hie!“ schallten seine Rufe über die Dorfstraße. Und sobald er seine Tiere wieder beisammen hat, zog Willem mit der Herde im Abendsonnenschein unter den Lindenbäumen davon.
Manchmal musste Willem aber auch das Gespräch mit meiner Großmutter abbrechen, weil er und seine Herde einem Fahrzeug im Wege waren. Auf dem Land gab es damals erst sehr wenige Autos. Hingegen waren Motorräder und Motorräder mit Beiwagen weit verbreitet. Immer, wenn so ein Kraftfahrzeug auf der Dorfstraße herangefahren kam, bekamen Willems Kühe es mit der Angst zu tun und versuchten nach rechts oder links auszubrechen. Trotzdem fuhren viele Fahrer bis ganz nah an die Herde heran, nur so zum Spaß.
Ein Fahrzeug, das auf die Kuhherde traf, konnte die Herde nicht überholen, denn die Dorfstraße war dafür zu schmal. Aus diesem Grund musste jedes Kraftfahrzeug im Schritttempo so lange hinter den Kühen herfahren, bis die Kuhherde an der nächsten Wegkreuzung von der Dorfstraße abgebogen war.
Es kam aber auch immer wieder vor, dass so ein Motorradfahrer, anstatt im Schritttempo hinter den Kühen herzufahren, vor Großmutters Haus sein Motorrad gleich ganz ausschaltete, zu uns an die Haustreppe kam, und in tiefstem Plattdeutsch ein Gespräch mit meiner Großmutter anfing, von dem ich nur die Hälfte verstand. Nur so viel war klar: Es handelte sich um einen Verwandten, der meiner Großmutter Neuigkeiten überbrachte.
Hier muss ich anmerken, dass meine Großmutter mit ungefähr drei Vierteln aller Einwohner der fünf Ortsteile von Berge, und mit mindestens der Hälfte der Bewohner der umliegenden Ortschaften, mehr oder weniger eng verwandt war. Und mit den wenigen Familien, mit denen meine Großmutter nicht verwandt war, war sie zwangsläufig mehr oder weniger eng bekannt, da diese Familien enge Verwandte von Großmutters entfernten Verwandten waren.
Ich konnte mich nicht genug darüber wundern, wie die Motorradfahrer angezogen waren. Die übliche Motorradkluft der Zeit bestand aus schweren schwarzen oder dunkelbraunen Lederjacken, Hosen aus dickem Segeltuch und Lederstiefeln mit Gamaschen. Dies im Verbund mit der enganliegenden ledernen Motorradmütze, der Motorradbrille und den Lederhandschuhen mit den langen Stulpen, ließ die Motorradfahrer in meinen Augen wie Lebewesen von einem anderen Stern erscheinen, oder wie dicke gepanzerte Insekten. Umso erstaunlicher war, dass diese seltsam bebrillten und gepanzerten Wesen meine Großmutter mit „Chutenabnd, Tante Maria!“ begrüßten, und als nächstes dann, sage und schreibe, sogar mir, dem Kind, zur Begrüßung herablassend die behandschuhte Hand entgegenstreckten.
Als ich ein Kind war, war am Spätnachmittag und am frühen Abend immer das halbe Dorf auf den Beinen. Wer kam da nicht alles vor Großmutters Haus vorbei: Bauern, die mit Fuhrgespannen, oder auch zu Fuß, auf dem Heimweg zu ihren Anwesen waren; Frauen, die im Lebensmittelgeschäft noch schnell ein paar Kleinigkeiten für das Abendessen einkauften; Kinder, die sich die Wartezeit bis zum Abendessen mit anderen Kindern vertrieben. Der Förster mit seinem Hund ging vorbei, und der Pastor, der von einem Krankenbesuch kam; Leute, die mit dem Postbus aus der Kreisstadt zurückkehrten, und deren Angehörige, die sie an der Bushaltestelle abholten; Berufstätige, die in der Kreisstadt arbeiteten und vom Bahnhof nach Hause gingen; die Hebamme, die ihren Abendspaziergang machte; die Steinbrucharbeiter, Sommergäste.
Wenn Leute aus dem Dorf an Großmutters Haus vorbeikamen, begnügten sie sich oft nicht damit, meine Großmutter nur im Vorbeigehen zu grüßen. Sondern sie blieben bei uns an der Haustreppe stehen, und begannen mit meiner Großmutter ein Gespräch. Die Frauen erzählten zum Beispiel, was sie soeben im Lebensmittelgeschäft eingekauft hatten. Und einige von ihnen nutzen häufig die Gelegenheit, um noch schnell ein paar Brocken vom neusten Dorfklatsch zum Besten zu geben: Dass Beckers Agnes seit einigen Tagen ganz besonders unter ihrem offenen Bein zu leiden hätte - da nickte meine Großmutter verständnisvoll, denn sie hatte auch ein offenes Bein; und dass Hildebrandts Josef doch sage und schreibe „im besoffenen Kopp“ in die Jauchegrube hinter dem eigenen Haus gefallen sei! Es gab Frauen, die immer ganz besondere Tratsch-Leckerbissen auf Lager hatten. Verstohlen um sich blickend erzählten sie mit fiebrigem Blick, dass Schleifsteins Mathilde, die doch immer so wirke, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte, es hinter dem Rücken ihres Mannes mit dem Knecht treibe, und das Schlüters Annemarie, die ruhige schüchterne Annemarie, die kaum zwei Jahre verheiratet war und einen so herzigen kleinen Jungen hatte, doch wirklich und wahrhaftig dem Nachbarssohn schöne Augen mache!
Meine Großmutter war eine begnadete Zuhörerin. Mit „Ah“s und „Oh“s und kleinen, wie hingeworfen wirkenden, Bemerkungen, regte sie jeden, der etwas zu berichten hatte, zu wahren erzählerischen Höchstleistungen an.
Die zahlreichen Bauernkinder, die vorbeikamen, Jungen wie Mädchen, fixierten mich dreist. Obwohl ich oft bei meiner Großmutter zu Besuch war, sorgten sie dafür, dass ich für sie eine Fremde blieb. Sie gewährten mir nämlich kaum jemals die Ehre, mit ihnen spielen zu dürfen. Und wenn sie mich mit meiner Großmutter auf den Bänken vor der Haustür sitzen sahen, stolzierten sie hocherhobenen Hauptes vorbei und würdigten mich keines Blickes. Ich war für sie das „Stadtkind“, und ab meinem zehnten Lebensjahr dann noch schlimmer, „die, die auf die höhere Schule geht.“

Der Dorfpfarrer von Berge war damals ein gutaussehender Mann in den Fünfzigern. Er war fast jeden Nachmittag im Dorf unterwegs, um alte Leute zu besuchen oder Krankenbesuche zu machen. Auf dem Nachhauseweg zu seinem in Niederberge gelegenen Pfarrhaus blieb der Pfarrer fast jedes mal an unserer Haustreppe stehen, um meine Großmutter zu begrüßen. Meine Großmutter empfand das als eine große Ehre, denn sie war sehr katholisch. Unter den leutseligen Worten des Pfarrers schmolz sie dahin, wie Butter unter der Sonne. Mir war der Pfarrer entsetzlich zuwider. Er triefte geradezu vor Leutseligkeit und jedes zweite seiner Worte lautete „Gott“: „Gottes Segen, Gottes Kinder, Gottes Wege, Gottes Hilfe.“ Aber ich spürte schon als Kind sehr genau, dass das weiche süßliche Lächeln dieses Mannes nicht Gutes bedeutete. Mir war der Förster auf jeden Fall lieber. Der blieb zwar nicht bei uns an der Haustreppe stehen und verteilte auch nicht Gottes Segen, aber es ging auch keine Gefahr von ihm aus. Er paradierte jeden Abend im grünen Försterkleid, und das Gewehr geschultert, stramm an uns vorbei und tippte zum Gruß nur militärisch knapp mit zwei Fingern an seinen Hut. Neben dem Förster ging an der Leine sein Hund, der Großmutter ebenfalls kannte. Er wackelte, um sie zu begrüßen, ebenfalls militärisch knapp, zweimal mit dem Schwanz.

Die Mittelberger Bushaltestelle lag kaum zwanzig Meter von unserer Haustreppe entfernt vor dem Lebensmittelgeschäft. Jeden Werktagabend um halb sieben war der Bus vollgestopft mit Menschen, die aus der Kreisstadt zurückkehrten. In Scharen verließen sie den Postbus und strömten auf die Dorfstraße. Es war ein buntes Durcheinander, ein Rufen, Winken und Geschiebe. Alle Leute, die nach Bergerhütte, Bergerhammer oder dem nächstgelegenen kleinen Ort Visbeck weiter mussten - zu Fuß, denn dorthin gab es keine Busverbindung - und auch die meisten Reisenden aus Mittelberge, gingen unweigerlich vor der Treppe vorbei, auf der Großmutter und ich saßen. Nicht wenige von ihnen blieben bei uns stehen. Und dann wurde es spannend. Wir erfuhren dann nämlich, was der Betreffende an diesem Tag in der Kreisstadt gemacht hatte. So saßen dann meine Großmutter und ich auf unserem Logenplatz und hörten zu wie Bornemanns Wilhelm in höchsten Tönen von dem Trecker schwärmte, den er soeben beim Händler in der Kreisstadt käuflich erworben hatte. Und wie Königs Hubert, der beim Landratsamt gewesen war, aus voller Kehle auf das Landratsamt schimpfte, wegen einer Genehmigung, die ihm wieder nicht erteilt worden war. Und wenn Schreibers Hildegard von ihrem kranken Vater berichtete, der wegen eines Schlaganfalls ins Krankenhaus gekommen war, und der immer noch mit dem Tod kämpfte, dann stiegen nicht nur Schreibers Hildegard die Tränen in die Augen, sondern auch meiner Großmutter und mir.
Auch eine Gruppe von Arbeitern aus dem bei Berge gelegenen Steinbruch ging von Montag bis Freitag allabendlich vor Großmutters Haus vorbei. Es waren seltsame Menschen; staubbedeckt und wie blind trotteten sie die Straße entlang. Es war immer die gleiche Gruppe von fünf oder sechs Arbeitern. Sie kamen mir vor wie Gefängnisinsassen. Vor allem wohl deshalb, weil sie im Unterschied zu den anderen Menschen, die vorbeikamen, in tiefes Schweigen gehüllt waren. Meine Großmutter hatte mir erzählt, dass die Steinbrucharbeiter Flüchtlinge aus Ostpreußen waren, und dass sie mit ihren Familien in einer ehemaligen Fabrik außerhalb des Ortes lebten.
Maria Mertens war die Hebamme von Berge. Als ich sie kennenlernte war sie ungefähr fünfzig Jahre alt. Sie war eine kräftige und resolute Frau, eine Kriegerwitwe. Wenn sie nicht mit einer Wöchnerin beschäftigt war, machte sie jeden Abend einen Spaziergang, um, wie sie sagte, nachzugucken, ob im Dorf „alles beim Rechten“ sei. Von Großmutters Haustreppe aus konnte Maria Mertens das offenbar besonders gut feststellen, denn sie saß fast jeden Abend, an dem es nicht regnete oder schneite, ein Stündchen lang bei Großmutter und mir auf den Bänken vor der Haustür.
Maria Mertens war die einzige Frau im Dorf, die mich nicht wie ein Kind behandelte. Ungeachtet der Tatsache, dass ich daneben saß und mit großen Augen zuhörte, erzählte sie in allen Details von den Geburten, bei denen sie in letzter Zeit mitgewirkt hatte, und fachsimpelte über die Probleme, die dabei aufgetreten waren. Meine Großmutter hatte sieben Kinder zur Welt gebracht, da konnte Maria Mertens davon ausgehen, dass meine Großmutter vom Kinderkriegen auch etwas verstand.
Die Geschichten, die die Hebamme zum Besten gab, waren für mich spannender als jedes Buch. Zwar verstand ich längst nicht alle Details der Dramen, die da vor meinen Augen ausgebreitet wurden, aber ich wusste doch, dass alles, was bei so einer Geburt geschah, eines Tages auch mir passieren konnte. Das war bei den meisten Büchern, die ich las, doch eher fraglich. Ich liebte Maria Mertens, und am meisten liebte ich sie dafür, dass in ihren Geschichten die Männer keine Helden waren.

Alle Drei, die Hebamme, meine Großmutter, und ich, lachten wir uns halb kaputt, wenn Maria Mertens sich über Männer lustig machte, indem sie mit spitzer Zunge drastisch zum Besten gab, wie Männer bei Geburten den Kopf verloren hatten. Da hatte sich doch Beckers Hubert, während seine Frau im Schlafzimmer stöhnte und schrie, in Nullkommanichts besoffen und war dann anschließend aus Versehen mit Volldampf gegen die geschlossene Klotür gerannt. „Stellt euch das vor! Stellt euch das vor!“ sagte Maria Mertens und schüttelte sich vor Lachen: „De het sich vor Angst in de Buxe geschieten!“ Und Heiermanns Franz erst, der war als seine Frau in den Wehen lag, zu seinem Nachbarn weggelaufen. Und als dann seine Frau die Zwillinge zur Welt gebracht hatte, traute er sich nicht, zu ihr zu gehen; so ein Waschlappen war das! Für Maria Mertens waren die Frauen die wahren Helden des Daseins; Männer waren nur Kulisse, ängstliche, schlappe Randfiguren, und nicht weiter wichtig.
Maria Mertens hatte ein scharfe Zunge, und die machte auch vor den Sommergästen nicht halt. Die ersten Touristen, von den Einheimischen „Sommergäste“ genannt, tauchten in Berge Ende der Fünfzigerjahre auf. Sie wohnten privat bei Familien, die während der Sommermonate Zimmer vermieteten. Die Sommergäste brachten Geld ins Dorf, aber sie waren seltsame Menschen. Sie kamen aus der Großstadt, und das gab ihnen eine andere Art sich zu bewegen, eine andere Art zu sprechen, und vollkommen andere Gesichter, als wir sie hatten. Und obwohl die Sommergäste sich bewusst „ländlich“ kleideten - Knickerbocker, Trachtenkniestrümpfe und Jägerhütchen mit Gamsbart waren die übliche Ausstattung der Männer, während die Frauen, obwohl meistens übergewichtig, in knapp sitzende Dirndlkleider gewandet waren - rochen wir ihnen die Großstadt förmlich an.
Großmutter und ich kannten keine Großstadt. Wir hatten noch nie eine gesehen, auch nicht im Fernsehen, weil man damals noch kein Fernsehen hatte. Unter einer Großstadt stellten meine Großmutter und ich uns ein infernalisches Durcheinander aus Hochhäusern, wie wir sie in Büchern über Amerika gesehen hatten, hin und her rasenden Motorrädern und Lastwagen, und wild herumlaufenden Menschenmengen vor. Deshalb konnte, wer aus einer Großstadt kam, nach Ansicht meiner Großmutter unmöglich ein normaler Mensch sein.
Maria Mertens dachte genauso. Und wenn dann wieder so ein Sommergästepaar vor unserer Treppe vorbeiflanierte, gab sie lauthals ihre Kommentare ab. Ganz besonders hatte es ihr die Art und Weise angetan, wie die Sommergäste sprachen. „Hör‘ mal wie die kuiern!“ sagte sie zu meiner Großmutter, und schlug sich dabei auf die Schenkel. „Hör‘ mal, wie die kuiern!“ wiederholte sie, und lachte sich dabei halb kaputt. Sie konnte sich endlos darüber amüsieren, dass die Sommergäste Hochdeutsch sprachen; oder doch jedenfalls irgendeinen einen anderen, von dem der Sauerländer sehr verschiedenen, Zungenschlag. Meine Großmutter hingegen erregte sich am meisten über die Dirndlkleider des weiblichen Teils der Sommergäste. „Wir sind doch hier nicht in Bayern!“ war ihr Lieblingskommentar, wenn wieder mal eine Sommergäste-Frau im Dirndlkleid vor unserer Treppe vorbeistolzierte. Und auch Maria Mertens fand, daß Dirndlkleider und Hüte mit Gamsbart im Sauerland nun wirklich nichts zu suchen hätten.
Sonntagsmittags bot Mittelberge noch eine ganz besondere Attraktion für ein aufgewecktes Kind. Diese Attraktion wurde kaum einen Steinwurf von Großmutters Haus entfernt vor dem Gasthof Schulte geboten.
Im Saal von Schultes Gasthof probte seit undenklichen Zeiten jeden Sonntagmorgen nach der Acht-Uhr-Messe der Berger Männergesangverein „MGV Agatha“. Mein Onkel Hubert, der damals noch bei meiner Großmutter lebte, hatte eine wunderbare kräftige Bassstimme, die die besondere Zierde des Gesangsvereins war. Wenn Sonntagsvormittags der Probengesang aus dem Gasthofsaal in Großmutters Küche herüberschallte, lächelte meine Großmutter stolz, und beide waren wir fest davon überzeugt, Onkel Huberts Stimme ganz deutlich aus dem Chorgesang herauszuhören. Nach der Chorprobe gesellten sich die Sänger zu den anderen Männern aus dem Dorf, die in Schultes Gasthof ihren Sonntagsfrühschoppen machten. Und wenn schließlich die Wanduhr in Großmutters Küche „Zwölf“ zeigte, lief ich zu Schultes Gasthof hinüber und nahm dort meinen Beobachterposten an der Treppe ein.
Wohl wegen der vielen Überschwemmungen, die es in Mittelberge früher gegeben hatte, lag die unterste Etage von Schultes Gasthof nicht zu ebener Erde, sondern ein ganzes Stück weit über dem Erdboden. Aus diesem Grund führte zum Haupteingang des Gebäudes eine Treppe, die jeder hochsteigen musste, der die Gastwirtschaft betreten wollte. Aus unerfindlichen Gründen war diese Treppe eine Freitreppe. Sie führte auf eine kleine Plattform vor der Eingangstür, war an den Seiten halbrund geschwungen, und hatte kein Treppengeländer.

Sonntags um Zwölf versteckte ich mich hinter dem Stamm der großen Linde, die in der Nähe der Treppe stand, und schon ging das Schauspiel los: Die Tür des Gasthofs öffnet sich. Gläsergeklirr, ein Gewirr von Männerstimmen und eine Wolke von Zigarrenrauch dringen ins Freie. Und dann kommt im Türrahmen der erste Betrunkene zum Vorschein. Schwankend und stolpernd betritt er die Plattform vor der Gasthaustür. Er findet mühsam das Gleichgewicht wieder, verschnauft einen Moment, und schaut blinzelnd die Freitreppe hinunter. Schließlich gibt er sich einen Ruck und beschließt den Abstieg zu wagen. Langsam bewegt er sich bis zur obersten Treppenstufe vor, tut einen Schritt hinab, einen zweiten Schritt; auf der dritten Stufe gerät er ins Fallen. Und holterdipolter kullert der Mann, wie ein Sack Kartoffeln, alle weiteren Treppenstufen hinunter! Ich stehe hinter dem Baum und schaue zu, und halte mir ganz fest den Mund zu, um mich nicht durch ein Lachen zu verraten.
Es gab Betrunkene, die erst auf der vierten Treppenstufe ins Fallen gerieten, und andere, die schon beim allerersten Abwärtsschritt das Gleichgewicht verloren. Manche fielen auch nicht wie Kartoffelsäcke, sondern wild fluchend und um sich schlagend abwärts. Ich fand sie allesamt urkomisch. Und wie sie sich dann, nachdem sie die Treppe heruntergefallen waren, wieder aufrappelten! Beine und Arme zusammensuchen und sich aufrichten, wie ein Rohr im Winde schwankend mühsam den Schmutz vom Sonntagsanzug abschlagen, die Krawatte zurechtzupfen, einen würdevollen Gesichtsausdruck annehmen und dann, ja dann so tun, als ob überhaupt nichts gewesen wäre!

Jeden Sonntag zur Mittagszeit fielen erwachsene Männer die Treppe vor Schultes Gasthof hinunter. Kaum jemand verletzte sich, alkoholisierte Muskeln sind ja bekanntlich weich. Ich war ein Kind und wusste nichts von den Schrecken des Alkoholismus. Ich genoss die Selbstdemontage von Erwachsenenautorität, die sich da vor meinen Augen abspielte, über alle Maßen.
Bis schließlich mein Onkel Hubert vor Tür des Gasthofs trat. Er wusste, dass ich hinter dem Baum auf der Lauer lag, und winkte mir gut gelaunt zu. Onkel Hubert brachte mir ein Eis am Stil mit. Und weil er ein ganz klein wenig beschwipst war, erlaubte er mir, das Eis gleich zu essen, obwohl doch Eis Essen vor der Mittagsmahlzeit strengstens verboten war!





II.
Ich war ungefähr zwölf Jahre alt, da wurde die Berger Dorfstraße asphaltiert. Wo bisher ein graubeiges Pflaster mit Dorf und Tal harmoniert hatte, legten die Straßenbauer ein schwarzes Band. Es hieß, der Autoverkehr habe so zugenommen, dass die Asphaltierung unumgänglich geworden sei. Es sei den Auto- und Motorradfahrern doch wirklich nicht mehr zuzumuten, auf dem holprigen alten Pflaster mühsam dahin Zukriechen. Auf einer Asphaltstraße könnten Autos und Motorräder endlich so schnell fahren, wie es die Kraft Motoren​
erlaubte.
Diese Argumente leuchteten den Dorfbewohnern ein, zumal die Befürworter der Asphaltierung auch meinten, eine bessere Straße locke sicher auch mehr Sommergäste in das Berger Tal. Die Dorfbewohner freuten sich, als die Straßenbauer anrückten. Die Straßenbauarbeiter machten sich nicht die Mühe, die alten Pflastersteine auszureißen, sondern sie deckten das Kopfsteinpflaster einfach mit einer dicken Asphaltschicht zu. Die alte Zeit war zu Ende; eine neue Zeit brach an.
Fortan fuhren Autos und Motorräder in der Tat in Berge sehr viel schneller. Durch Mittelberge, wo die Dorfstraße wenig kurvenreich war, fuhren sie für gewöhnlich in einem solchen Tempo, dass meine Großmutter und ich von der Haustreppe aus kaum mehr erkennen konnten, wer vorbeifuhr. An die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit hielten sich höchstens Ortsfremde, wenn sie damit beschäftigt waren, sich das Dorf vom Auto aus anzuschauen.
Wenn uns aus einem Auto jemand zuwinkte, sagt meine Großmutter zum Beispiel zu mir: „War das nicht Schlossers Franz aus Visbeck? Der hat doch einen dunkelblauen VW, oder?“ So wurde für Großmutter und mich das Auto zum Erkennungszeichen eines Menschen. Das verwirrte uns sehr.
Die Asphaltierung veränderte das Leben auch für die Kinder, denn die Dorfstraße war, zum ersten Mal in ihrer Geschichte, zu einer Gefahrenquelle geworden. „Paß op“, sagte meine Großmutter jetzt jedes mal zu mir, wenn ich das Haus verließ. „Paß op“, sagte sie, wenn ich mich auf den Weg machte, um im Café für uns Kuchen zu kaufen. Und wenn ich gar einer Besorgung wegen nach Oberberge gehen musste, blickte meine Großmutter mir von ihrem Küchenfenster aus noch lange besorgt nach.
Die Berger Dorfstraße hatte keinen Bürgersteig. Wer dort ging, ging direkt am Fahrbahnrand. Die Fahrbahn war, der Linden wegen, schmal und zwischen den Ortsteilen auch kurvenreich. Wer zu Fuß auf der Dorfstraße unterwegs war, ging, seit die Straße asphaltiert war, mit eingezogenen Schultern, stets einer Gefahr gegenwärtig. Alte Leute und Kinder zuckten erschreckt zusammen, wenn ihnen aus einer Kurve plötzlich ein Fahrzeug entgegengerast kam, oder wenn sich ihnen von hinten mit hoher Geschwindigkeit ein Fahrzeug näherte. Kein Fußgänger blieb mehr am Straßenrand stehen, um sich mit jemandem zu unterhalten. Jeder wollte nur möglichst schnell von der Straße wieder weg. Seit die Dorfstraße asphaltiert war, gingen die Berger auf der ganzen langen Straße, die durch den Ort führte, nur noch dann zu Fuß, wenn es gar nicht zu vermeiden war.

Aus unerfindlichen Gründen lag die Pfarrkirche aller fünf Ortsteile von Berge in Niederberge, fast am nördlichen Ende des Dorfes. Wie die meisten Dorfbewohner musste deshalb auch meine Großmutter zur Kirche weit laufen. Der lange Fußweg dorthin war für sie beschwerlich, denn außer, daß sie Probleme mit den Beinen hatte, war sie auch noch herzkrank. Dennoch hatte meine Großmutter es sich nie nehmen lassen, nicht nur an Sonn- und Feiertagen, sondern ebenfalls auch an vielen Werktagen zur Heiligen Messe zu gehen.
In der damaligen Zeit wurden in der Pfarrkirche von Berge auch an Werktagen noch oft Gottesdienste zelebriert. Meistens waren es Gottesdienste zum Gedenken an Verstorbene, und mit vielen dieser Verstorbenen war meine Großmutter ja verwandt oder bekannt gewesen. Auch war meine Großmutter sehr gläubig. Sie kam aus einer Familie, die viele katholische Priester und Ordensschwestern hervorgebracht hat. Meine Großmutter betrachtete es eine religiöse Pflicht, so oft wie möglich eine Heilige Messe zu besuchen. Gleichzeitig empfand sie es aber auch als ein Vergnügen. Sie liebte Weihrauch, Kerzenschein und die geheimnisvollen, in Latein gesprochenen, rituellen Worte des Priesters. Den, in deutscher Sprache gehaltenen, Predigten lauschte sie mit großem Interesse.
Aber seit die Dorfstraße asphaltiert worden war, ging meine Großmutter nur noch sonntags nach Niederberge in die Heilige Messe. An Werktagen ging sie überhaupt nicht mehr in die Kirche, auch nicht im Sommer. Mein Großmutter war siebzig Jahre alt geworden, und seit die Autos auf der Dorfstraße so viel schneller fuhren, hatte sie Angst, auf dem Weg zur Kirche von einem vorbeirasenden Auto angefahren zu werden. Meine Großmutter ging auch nicht mehr nach Bergerhammer, um ihre Schwägerin zu besuchen, und auch nicht mehr nach Oberberge zum Friseur. Die Friseuse kam jetzt in Haus. „Ich bin zu alt, um diese langen Wege zu laufen“, sagte meine Großmutter in Plattdeutsch zu mir.
Ich war oft verärgert gewesen, wenn meine Großmutter frühmorgens im Schlafzimmer herumgeraschelt hatte, um sich für den Kirchgang anzuziehen, denn ich war durch das Geraschel immer wach geworden. Seit die Dorfstraße asphaltiert worden war, schliefen Großmutter und ich in der Woche immer aus. Aber ich konnte mich darüber nicht freuen. Ich spürte deutlich, daß meine Großmutter lieber zur Heiligen Messe gegangen wäre, anstatt länger zu schlafen.
Überall nahm der Autoverkehr rapide zu. Eine Menge Leute, die ich kannte, unter ihnen auch meine Eltern, kauften ihr allererstes Auto und fuhren voller Stolz, und oft sinnlos, damit durch die Gegend. Es kam in Mode, mit dem Auto spazieren zu fahren. Und auf der Treppe vor Großmutters Haus wurde es sehr ungemütlich.





III.​


Ich war fünfzehn Jahre alt, und es war an einem Sonntag vor Ostern. Da entdeckte ich, als ich mit dem Postbus in den Ort einfuhr, dass längs der Dorfstraße alle Linden abgesägt worden waren. Vom Ortsschild in Niederberge bis nach Mittelberge, und von dort weiter in Richtung Oberberge, waren zu beiden Seiten der Straße alle Lindenbäume abgesägt worden. In Mittelberge waren die Bäume erst vor kurzem gefällt worden. Die Baumstümpfe waren noch ganz frisch, und am Straßenrand lagen Reste von Astwerk und Sägemehl.
Ich setzte mich an Großmutters Küchenfenster und starrte auf die zerstörte Lindenallee. Drei Tage lang trauerte ich, erst dann ging ich wieder aus dem Haus. Ich betastete das herumliegende Astwerk und stieß meine Füße in das Sägemehl. Ich umkreiste die Baumstümpfe und versuchte, die Jahresringe zu zählen. Ich setzte mich auf Baumstümpfe. Das war sogar bequem; kein Baumstumpf hatte weniger als fünfzig Zentimeter Durchmesser.
Die Leute beobachteten mich, wie ich am Straßenrand zwischen den Baumstümpfen umherlief. „Wat mogt die denn do?“ sagten sie zu meiner Großmutter und meinten, ich solle von da weggehen. Ich würde mich schmutzig machen, oder mir am herumliegenden Astwerk das Kleid zerreißen
Meine Großmutter erzählte, in Oberberge und Bergerhammer ständen an der Straße noch Bäume, aber die sollten auch bald weg. Das stimmte, und in der Woche nach Ostern sägten Arbeiterkolonnen auch in Oberberge und Bergerhammer zu beiden Seite der Dorfstraße alle Bäume ab. Die Lindenallee war zerstört. Ich fuhr extra mit dem Postbus durch das ganze Berger Tal. Ich konnte nicht glauben, dass wirklich kein Baum mehr stand. Ich fuhr bis zur Ortsgrenze, erst dort gab es wieder Bäume. Aber dort begann auch schon der Wald. Auf der Rückfahrt zählte ich vom Busfenster aus die Baumstümpfe. Es waren Hunderte von Linden gewesen, eine mehrere Kilometer lange Allee.
Die Berger waren jetzt doch etwas betroffen, über das, was sie zugelassen hatten. Ihr Gemeinderat hatte der Beseitigung der Straßenbäume zugestimmt. Als neue Arbeiterkolonnen anrückten, um die Baumstümpfe auszureißen, atmeten alle auf. Jetzt fanden die meisten Leute im Dorf es plötzlich ganz richtig, dass die Bäume gefällt worden waren. Es hieß, die Linden hätten so viel Licht weggenommen und furchtbar viel Ungeziefer in die Häuser gebracht. Und vor allem seien sie ja auch eine ständige Gefahr für die Auto- und Motorradfahrer gewesen.

Die Beseitigung der Baumstümpfe längs der Dorfstraße dauerte mehrere Wochen. Bei jedem Baumstumpf wurde zunächst ein Teil des Wurzelwerks freigelegt. Um die dicksten Wurzeln legten die Arbeiter Ketten, und dann riss, auf ein Kommando hin, eine extra für diesen Zweck herbeigeschaffte schwere Maschine den ganzen Baumstumpf mitsamt aller Wurzel aus dem Erdreich. Die Maschine war sehr groß und machte einen Höllenlärm. Aber die jungen Männer aus dem Dorf waren schier begeistert über ein solches Wunderwerk der Technik und schauten, natürlich in gebührendem Abstand, gerne beim Ausreißen der Baumstümpfe zu.
Den ganzen Sommer hindurch war die Berger Dorfstraße abschnittsweise gesperrt. Für den Kraftverkehr wurden extra Umleitungsstrecken angelegt. Einige schmale Seitenwege mussten asphaltiert werden, damit die Autos dort fahren konnten. In jedem Winkel stieß man plötzlich auf Autos und Motorräder. Im ganzen Ort machten sich Lärm und Unruhe breit, so sehr, dass viele Berger um die gute Laune ihrer Sommergäste zu fürchten begannen und meinten, die Arbeiten an der Straße müssten doch nicht unbedingt im Sommer gemacht werden
Im Herbst, nachdem auch die letzten Reste der Linden beseitigt worden waren, begann der Bau der neuen Dorfstraße. Diesmal gingen die Straßenbauer gründlich vor. Sie beseitigten die Reste der Asphaltdecke und gruben, Kilometer für Kilometer, die darunter liegenden Pflastersteine aus dem Erdreich. Die neue Straße bekam einen soliden Schotteruntergrund, erst dann wurde asphaltiert.
Die Straßenbauarbeiten dauerten ein ganzes Jahr. Nur wenige Leute im Dorf murrten noch über den Lärm und Dreck, den die Baukolonnen mit ihren schweren Maschinen überall in Berge verbreiteten. Die Mehrheit ergriff heftig für den Straßenbau Partei. Das ausführende Straßenbauunternehmen hatte einige junge Männer aus Berge eingestellt. Und der Steinbruch am Ortsrand, aus dem der ganze Schotter für die Straße kam, beschäftigte jetzt auch mehr Leute als früher. Das waren wichtige Argumente in einer Zeit als das deutsche „Wirtschaftswunder“ noch in seinen Anfängen steckte und Arbeitsplätze auf dem Land Mangelware waren. Der Straßenbau bringe mehr Geld in das Berger Tal. Das sei doch sehr gut, sagten die Leute. Und im übrigen hätten die Linden schon allein deshalb beseitigt werden müssen, weil sie eine ständige Gefahrenquelle für den Kraftverkehr gewesen seien. Jeder im Dorf wollte nun plötzlich jemanden gekannt haben, der sich mit dem Motorrad oder Auto am Stamm einer Linde zu Tode gefahren hatte.

Eineinhalb Jahre nach jenem Sonntag vor Ostern wurde die neue Dorfstraße eingeweiht. Sie verlief genau dort, wo die alte verlaufen war, aber sie war wesentlich breiter. Es war ein Festtag, und ganz Berge war auf den Beinen. Viele Familien hängten die Schützenfahne aus dem Fenster und stellten, wie es sonst nur zu Fronleichnam üblich war, frisch geschlagene junge Birken zu beiden Seiten ihrer Hauseingänge auf. Eine große Zahl von Dorfbewohnern war anwesend, als der Oberkreisdirektor am Ortsschild in Niederberge eine Rede auf die neue Straße hielt und anschließend das über die Fahrbahn gespannte Band durchschnitt. Der Pfarrer verlas feierlich ein Gebet und segnete die neue Straße mit Weihwasser. Dann begann der Festzug. Der Oberkreisdirektor schritt zusammen mit den Honoratioren von Berge die neue Dorfstraße ab. Hinter den Honoratioren marschierte die Musikkapelle des Schützenvereins und schmetterte einen fröhlichen Marsch nach dem anderen. Es folgte ein Korso von blumengeschmückten Motorrädern und Autos, die im Schritttempo hinter der Musikkapelle fuhren, und danach folgten die Fußgänger in ihren Sonntagsanzügen und Sonntagskleidern.
Der Festzug endete in Mittelberge, wo in Schultes Gasthof schon die festlich gedeckten Tische auf den Oberkreisdirektor, die Berger Honoratioren und die Musiker warteten.
Als sich die Tür von Schultes Gasthof hinter den Honoratioren geschlossen hatte, war der Moment gekommen, auf den die jungen Leute auf den Motorrädern und in den Autos gewartet hatten: Sie hatten nun freie Fahrt! Sie starteten, erst die Motorräder, dann die Autos, durch und führten unter pausenlosem Hupen der Weltöffentlichkeit die Kraft ihrer Fahrzeuge vor. Die neue Berger Dorfstraße erwies sich als perfekte Rennstrecke. Sie hatte nicht mal einen Bürgersteig. Den anzulegen hatten die Behörden und die Straßenbauer wohl vergessen.
Obwohl die Dorfstraße von Berge nun wirklich autogerecht war, gab es aber immer noch Verkehrsunfälle. Nur konnte jetzt niemand behaupten, die Lindenbäume seien Schuld daran. Die Berger überlegten und überlegten, und fanden schließlich des Rätsels Lösung: Schuld an den Unfällen war die Kuhscheiße!
In der Tat hinterließ die Kuhherde auf ihren Weg durch das Dorf Exkremente. Als die Straße noch eine baumbestandene Allee mit Kopfsteinpflaster gewesen war, war das nie ein Problem gewesen. Aber seit Autos und Motorräder mit hoher Geschwindigkeit durch das Dorf fuhren, war jede Verschmutzung der Straßenoberfläche zu einer potentiellen Unfallgefahr geworden. Ganz zu schweigen davon, dass die Kuhherde selbst ein Verkehrshindernis erster Güte darstellte.
Nach langem Hin und Her beschloss der Berger Gemeinderat schließlich, die Kuhherde aufzulösen. Fortan sollte sich jeder Bauer selbst darum kümmern, wie und wo seine Kühe weideten. Diese Entscheidung fiel genau in die Zeit, in der die neuen elektrischen Weidezäune in Gebrauch kamen. Ein elektrisch geladener Weidezaun machte es möglich, ohne viel Aufwand große Umzäunungen zu errichten, aus denen die Kühe nicht entwichen. Ein Hirte, der die Tiere beim Weiden beaufsichtigte, wurde nicht mehr gebraucht.
Willem erfuhr Ende des Sommers, dass sein Hirtendasein in wenigen Wochen zu Ende gehen würde. Stratmanns Fritz, der größte Bauer im Dorf, in dessen Scheune Willem lebte und der auch sein Vormund war, brachte Willen eines Sonntags die Entscheidung des Gemeinderats bei. Als er begriff, was der Bauer ihm mitteilte, soll Willem angefangen haben zu heulen und zu schreien wie ein Tier, erzählte man sich im Dorf. Willem sei sogar regelrecht auf Stratmanns Fritz losgegangen. Stratmanns Fritz habe deshalb vor Willem die Flucht ergreifen müssen, und das obwohl er doch immer gut zu Willem gewesen sei.

Nach seinem verzweifelten Ausbruch versank Willem in Resignation. Jeden Abend, wenn er mit seiner Herde an Großmutters Haus vorbei kam, waren seine Schultern ein wenig gebeugter, und blickte er noch tiefer zu Boden, als am Tag zuvor. Und während meine Großmutter mit ihm redete, streichelte er die Kühe, die in seiner unmittelbaren Nähe standen und flüsterte ihnen Koseworte zu. Er war durch nichts in der Welt mehr aufzuheitern. Sogar das blütenweiße nagelneue Oberhemd, das meine Großmutter ihm in diesem Jahr zum Geburtstag schenkte, vertrieb seine Traurigkeit nicht mal für einen Moment.
Meine Großmutter und ich rechneten mit Hilfe eines Kalenders aus, wie viele Tage Willem noch verblieben. Großmutter ging sogar extra zu Stratmanns Fritz ins Haus um ihn zu fragen, was denn die Gemeinde mit Willem vorhatte, wenn die Herde aufgelöst war. Sie bekam aber keine klare Antwort. Stratmanns Fritz hatte nur vage, aber dafür mit umso festerer Stimme, geantwortet, für Willem sei gut gesorgt.
Eines Tages war Willem dann wirklich aus Berge verschwunden. Er war fort, und ich sah ihn nie wieder. Alle im Dorf sagten, dass Stratmanns Fritz ihn zu weit entfernt lebenden Verwandten von sich in Pflege gegeben habe. Aber einige Jahre später, als ich schon fast erwachsen war, erfuhr ich durch Zufall von Willems Tod: Willem starb in Eichelborn. Eickelborn ist eine große Irrenanstalt in Westfalen; und dorthin hatte Stratmanns Fritz Willem eingeliefert.





IV.​


Ungehindert von Kühen, Kuhfladen, und Lindenbäumen konnte nun jeder durch Berge rasen. Fußgänger waren eine Seltenheit geworden, und meine Großmutter und ich saßen wohl nur noch deshalb bei schönem Wetter abends auf den Bänken vor der Haustür, weil es schwer fällt alte Gewohnheiten aufzugeben.
Alle hatten jetzt ein Auto, sogar der Pfarrer. Wenn er von einem Krankenbesuch nach Hause fuhr, machte er nun nicht mehr bei meiner Großmutter und mir Halt, sondern winkte uns nur noch leutselig aus dem fahrenden Auto zu. Den Förster bekamen wir überhaupt nicht mehr zu Gesicht, weil er und sein Hund ihre Spaziergänge schon längst irgendwo machten, wo es ruhiger als auf der Dorfstraße war.
Inzwischen war die Bahnstation von Berge für Personenzüge geschlossen worden. Dennoch wurde der Autobus, der Berge mit der Kreisstadt verband, immer weniger benutzt. Die Bushaltestelle, an der früher ein buntes Treiben geherrscht hatte, lag nun fast immer verlassen da. Dabei arbeiteten jetzt ungleich mehr Dorfbewohner als zuvor in der Kreisstadt. Aber fast alle fuhren nicht mit dem Bus, sondern einzeln oder in Fahrgemeinschaften mit dem Auto dorthin. Und weil das nun so war, gesellte sich nur noch ganz selten jemand aus dem Dorf zu meiner Großmutter und mir, um uns zu erzählen, was er in der Kreisstadt erlebt hatte.
Das Auto führte auch dazu, dass das Lebensmittelgeschäft und das Mittelberger Textilgeschäft an den Rand der Pleite gerieten. Denn wer es ermöglichen konnte, fuhr nun mit dem Auto zum Einkaufen in die Stadt, oder ließ sich von Verwandten zum Einkaufen dorthin fahren. Sogar gegen Abend, wenn sich früher die Kunden die Türklinke des Lebensmittelgeschäfts gegenseitig in die Hand gegeben hatten, kam jetzt nur noch wenig Kundschaft. Und weil es so gefährlich war, auf der Dorfstraße zu Fuß unterwegs zu sein, gingen viele Berger mehr und mehr dazu über, sich auch im Dorf nur noch im Auto fortzubewegen.
Die meisten Leute, die jetzt noch im Mittelberger Lebensmittelgeschäft einkauften, bekamen Großmutter und ich nur noch zu Gesicht, wenn sie vor dem Laden aus dem Auto stiegen, und wenn sie nach dem Einkauf wieder in ihr Auto einstiegen. Manchmal winkte uns dabei jemand zu. Nur noch ganz selten geschah es, dass jemand nach dem Einkaufen zu uns an die Haustreppe kam, um mit meiner Großmutter zu sprechen. Die meiste Zeit blieben meine Großmutter und ich uns selbst überlassen. Es hatte ja auch neuerdings niemand mehr Zeit.
Großmutter und ich sahen überhaupt keine alten Leute mehr auf der Dorfstraße. Bauern fuhren nur noch auf landwirtschaftlichen Maschinen an uns vorbei, und Kinder sahen wir auch nur noch ganz selten. Nicht einmal die Steinbrucharbeiter bekamen wir mehr zu Gesicht, denn wie wurden nun jeden Abend in einem Kleinbus vom Steinbruch nach Hause gefahren. Die einzigen, auf die der Verkehrslärm und der Benzingestank auf der neuen Dorfstraße keinen Eindruck zu machen schien, waren die Sommergäste. Sie waren jetzt in Berge viel zahlreicher als früher. Sie ließen in der Regel ihre Autos vor den Häusern, in denen sie sich eingemietet hatten, stehen, und gingen seelenruhig am Straßenrand spazieren, so als ob sie den Verkehr gar nicht wahrnehmen würden. Ja diese seltsamen Menschen zuckten nicht mal erschreckt zusammen, wenn ein Lastwagen aus dem Steinbruch oder ein schweres Motorrad an ihnen vorbeifuhr. Großmutter und ich fragten uns entsetzt, was für ein Lärm denn wohl dort herrschen mochte, wo die Sommergäste zu Hause waren.
Die einzige, die sich noch regelmäßig zu Großmutter und mir auf die Haustreppe setzte, war Maria Mertens. Sie hatte jetzt Wasser in den Beinen und das Laufen fiel ihr schwer. Aber sie ließ es sich nicht nehmen, uns Gesellschaft zu leisten. „Aus Trotz“, sagte sie. „Wir lassen uns nicht wegjagen.“ Und mit einem Blick auf die vorbeifahrenden Autos: „Wir sind die Ratten auf einem untergehenden Schiff.“

Als Hebamme hatte Maria Mertens so gut wie nichts mehr zu tun. Dank der neuen Verkehrsmittel waren Hausgeburten in Berge zur Ausnahme geworden. Die jungen Frauen gingen, wenn es soweit war, fast ausnahmslos ins nächste Krankenhaus, um dort zu gebären. Maria Mertens schimpfte auf die Krankenhäuser, die sie immer „Kühlschränke“ nannte, weil drinnen alles weiß und sauber ist. Sie schimpfte auf die Autos, „die die Menschen verrückt machen“, auf den Gemeinderat, weil er „diesem Teufelsding von Straße“ zugestimmt hatte, und auf das Fernsehen. Mertens Maria schimpfte und schimpfte; so laut, dass es ihr manchmal sogar gelang, den Lärm der vorbeifahrenden Autos zu übertönen.
Von Maria Mertens erfuhren wir auch, das Schultes Gasthof schließen würde. Großmutter und ich konnten das am Anfang kaum glauben. Schultes Gasthof gehörte zu Berge, wie der Fluss, der durch das Tal fließt, und wie die Berge, die auf das Dorf hinunterschauen. Schultes Gasthof konnte nicht schließen! Aber langsam begriffen meine Großmutter und ich, dass in der Zeit, in der wir nun lebten, alles möglich war.
Die Geschäfte im Gasthof waren schon seit langem schlecht gegangen, das hatten Großmutter und ich selbst gesehen. Sogar sonntags, wenn die Gaststube früher immer so voll gewesen war, dass viele Gäste sich mit einem Stehplatz hatten begnügen müssen, war das Lokal jetzt halb leer. Der alte Herr Schulte war fest davon überzeugt, dass das Fernsehen Schuld am Niedergang seiner Gastwirtschaft war. „Die Leute sitzen doch alle vor der Kiste“, sagte er zu meiner Großmutter in Sauerländer Plattdeutsch, als meine Großmutter ihn eines Tages fragte, ob der denn wirklich schließen würde. Es war aber nicht nur das Fernsehen Schuld. Überall in den größeren Nachbarorten gab es neuerdings „Diskotheken“, und viele junge Leute fuhren des Abends mit dem Auto oder dem Motorrad in die nächste Diskothek. Die Alten hingegen, die früher zur Stammkundschaft von Schultes Gasthof gehört hatten, trauten sich wegen des Autoverkehrs auf der Dorfstraße nicht mehr aus dem Haus. Und schließlich war auch in das Dasein der Dorfbevölkerung der Zeitmangel eingebrochen. Weil viele Bauern die Landwirtschaft neuerdings nur noch im Nebenerwerb betrieben, hatten sie rund um die Uhr zu tun, und selbst am Sonntag kaum noch Zeit für den Besuch einer Gastwirtschaft.
Als der alte Herr Schulte den Schankbetrieb aufgab, fand sich kein neuer Pächter mehr für das Lokal. Traurig stand ich sonntags am Fuß der Treppe vor der geschlossenen Gastwirtschaft und dachte an die Zeit zurück, als dort alles voller Leben gewesen war. Der Männergesangverein probte jetzt in einem Nebengebäude der Schule. Sonntagsmorgens schaltete Großmutter das Radio ein, weil ihr die Küche ohne den Probengesang aus Schultes Gasthof gar zu leer und einsam vorkam.





V.​


Nicht lange, nachdem Schultes Gasthof seine Pforten geschlossen hatte, ließ mein Onkel Bernhard die Treppe vor Großmutters Haus abreißen.
Onkel Bernhard, Großmutters ältester Sohn und Erbe des Hauses, beschloss eines Tages, dass endlich alles modernisiert werden müsse. Seine Modernisierungsaktion beschränkte sich nicht auf das Hausinnere, sondern Onkel Bernhard hatte auch den Ehrgeiz, dem Äußeren des Hauses ein zeitgemäßes Aussehen zu verleihen. Er baute im ganzen Haus neue, moderne Fenster ein. Die alte doppelflüglige Haustür mit den bunten Butzenscheiben verschwand auf dem Müll. Die Haustreppe mit den Bänken wurde dem Erdboden gleichgemacht, und der alte Hauseingang wurde zugemauert.
Großmutter hatte ihren Sohn angefleht, alles beim Alten zu lassen. Sie hatte zu ihrem Sohn gesagt: „Du kannst mit dem Modernisieren doch warten, bis ich tot bin.“ Zuletzt hatte sie dann nur noch um den Hauseingang gekämpft. Sie sagte zu Onkel Bernhard: „Alles kannst Du umbauen, wie Du willst. Nur die Haustreppe und die Tür, die lässt Du, wie sie sind. Die Haustür und die Bänke, die hat Dein Vater selbst geschreinert. Da waren wir ein Jahr verheiratet und Du nicht mal geboren.“ Aber Onkel Bernhard hatte Großmutter aus dem Zimmer geschoben und gesagt: „Alles Blödsinn.“
Als der alte Hauseingang zugemauert und die Haustreppe mit den beiden Bänken abgerissen war, ließ mein Onkel an der Nordseite des Hauses einen völlig neuen Hauseingang anlegen. Der neue Hauseingang liegt weit weg von der Straße, und es gibt davor keine Bank, die zum Verweilen einlädt. Zum letzten Mal besuchte ich meine Großmutter an einem schönen Herbsttag. Als es Abend wurde stand ich vor ihrem Haus am Straßenrand und wartete auf einen Verwandten, der mich mit seinem Auto in die Kreisstadt zurückbringen würde. Durch Mittelberge bewegte sich ein lebhafter Autoverkehr. Ein Auto nach dem anderen fuhr an mir vorbei. Menschen waren nicht zu sehen. Und da plötzlich, inmitten von Verkehrslärm und Abgasgestank begriff ich es: Eines Tages würden an der Dorfstraße von Berge wieder Linden stehen. Und sie würden dort stehen bleiben bis an das Ende der Zeit. Willem würde zurückkommen, und ich würde mit meiner Großmutter auf den Bänken vor der Haustür sitzen, und ihm zuhören, wie er von seinen Kühen erzählt.
 



 
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