MMI

4,00 Stern(e) 1 Stimme

lietzensee

Mitglied
MMI​

"Was gibt es Neues bei dir?", fragte der alte Parkplatzwächter, als er sich in der Kantine gegenüber Felix gesetzt hatte. Sie löffelten Suppe.
"Ich hab mir ein MMI implantieren lassen", antwortete Felix. Die Kantine wurde voller und die Lautstärke der an den Wänden befestigten Monitore machten das Gespräch mühsam.
"Ein was?", die rechte Seite des Parkplatzwächters war bis zur Hüfte gelähmt und mit dem linken Handrücken versuchte er, Suppe von seinem Kinn zu wischen.
"Ein MMI, ein Mensch Maschine Interface."
"Ah", lachte der Parkplatzwächter und ein Stück Nudel spritzten aus seinem Mund, "einen Dream Twister." Als er dann aufstand, ließ er das geleerte Tablett auf dem Tisch stehen. Felix blickte ihm nach. Einerseits schien der Alte oft mehr zu wissen als ein gewöhnlicher Parkplatzwächter. Anderseits hatte er sich die Lähmung selbst zugezogen, indem er seinen Schädel mit einer Bohrmaschine durchlöchert hatte. Unsicher trug Felix die zwei Tabletts zurück zu Theke. Sein Implantat war keines dieser Spaßdrähte, von denen die jungen Leute jetzt redeten. Das MMI würde ihm bei der Arbeit helfen. Er war zuständig für die Wartung des gesamten Gebäudes und nachdem man alle acht Stockwerke neu verkabelt hatte, war diese Arbeit auf alte Art nicht mehr zu schaffen. Leitungen mussten überwacht, Sensoren ausgelesen und die Sicherheitssysteme aktualisiert werden. Nun ging diese Arbeit wie von alleine. Er stellte die Tabletts an der Theke ab. Dabei dachte er an einen Temperaturregler im Dachgeschoss und korrigierte dessen Einstellungen.
Kurz vor Feierabend musste er eine Sicherung im Versorgungsraum auswechseln und begegnete Saskia. Er brauchte eine Weile, um sie auf dem Flur zu erkennen. "Du hast dich verändert", sagte er.
"Danke", sie lächelte. In ihrer Stirn trug sie nun ein drittes Auge, dessen mechanische Iris in tiefem Violett schimmerte. "Ich habe gehört, du hast jetzt ein MMI."
"Ja."
"Wollen wir uns mal treffen, damit du mir deine neuen Funktionen zeigen kannst?"
"Vielleicht."
Sie zwinkerte und Felix kämpfte damit, den Blick ihrer drei Augen zu ertragen.
In dieser Nacht träumte er die vom Gebäude produzierten Daten. Messwerte und Bilder von Kameras mischten sich wirr ineinander. Eine Fehlermeldung quälte ihn mit Status Codes. Felix wachte schwitzend auf und lauschte dem Klang eines fernen Monitors.
Am nächsten Morgen suchte er den Betriebsarzt auf. "Um was geht es denn?", fragte die Schwester.
"Um mein MMI."
"Welche Hälfte macht Probleme?"
Er wusste darauf keine Antwort und die Schwester rollte mit den Augen. "Sie lassen sich so ein Ding einsetzen und wissen nicht mal, dass ein Interface immer zwei Hälften verbindet?"
Der Arzt selbst war dann freundlich. "Sie haben ein entzündetes Bewusstsein, vielleicht auch eine leichte Traum-Nekrose."
"Traum-Nekrose?"
Lächelnd legte der Arzt seine Hand auf Felixs Schulter. "Das Schwierigste am technischen Fortschritt ist immer, bei neuen Fachausdrücken auf dem Laufenden zu bleiben. "Er gab Felix eine Dose Tabletten. "Nehmen Sie die vor den Mahlzeiten und halten Sie sich beim Denken an die Bedienungsanleitung ihres MMI." Der Arzt blickte auf die Monitore in seinem Behandlungszimmer. Sie zeigten Bilder von der Einweihung eines neuen Rechenzentrums. Dann verabschiedete er seinen atienten.
Den restlichen Tag irrte Felix umher und versuchte, mit der Wartung des Gebäudes nicht in Rückstand zu geraten. Der Netzplan der Stromversorgung spielte sich direkt in seinen Verstand ein. Dessen Schönheit überwältigte ihn. Das zarte Gespinst der Leitungen entfaltete sich im dreidimensionalen Raum und alles andere entglitt seinen Sinnen. Später erwachte er auf einem Flur. Felix musste einen Schrei unterdrücken, als er die Nässe zwischen seinen Beinen spürte. Seine Körperfunktionen waren dem Einfluss des MMI also nicht entzogen. Gerade in dem Moment kam Saskia ihm auf dem Gang entgegen. "Felix", rief sie, während er ihr auszuweichen versuchte. Sie starrte ihn an. Schließlich flüsterte sie: "Dein MMI, es blinkt gelb." Offensichtlich kämpfte Saskia damit, diesen Anblick zu ertragen. Felix spürte dabei die Überhitzung einer Klimaanlage im Dachgeschoss.
In der Nacht träumte er von Saskia. Sie hatte sich selbst so mit Implantaten mutiert, dass ihr nackter Körper metallisch glänzte. Durch die Korridore rannte sie vor ihm davon. Aber Felix sah sie nicht mit seinen Augen, sondern durch die Monitore an den Wänden. Sie irrte in ihm umher wie ein kleiner Parasit. Vor dem Hauptbildschirm in der Lobby blieb sie stehen und blickte direkt in seine Kameralinse. Plötzlich zog sie einen Hammer hervor. Glas splitterte und Kurzschlüsse durchzuckten seinen schlafenden Körper. Felix wachte auf. Er schrie und glaubte dabei, das ferne Echo seiner Stimme durch die Mikrofone im Gebäude zu hören.
Am Morgen trank er Kaffee, bis seine Hände zu zittern begannen. Aber davon wurde Felix weder wach, noch Herr seiner Sinne. Er stürmte in die Einkaufsabteilung der Firma. Im kleinen Büro lief er auf und ab. "Das MMI muss aus meinem Kopf wieder raus!"
"Das geht nicht."
"Es muss!"
Der Einkaufsleiter schlug seine Hand auf den Schreibtisch. "Die Leute bestellen erst alles und wollen dann nichts nutzen. Ihr MMI wurde mit dem Kleinhirn verzargt. Wenn das einmal drin ist, kriegt man es nicht heil wieder raus." Er sah ihn streng an. "Sie wären dann eine Totalabschreibung, Felix."
Was sollte das bedeuten? Sein Verstand irrte durch die Sensordaten des vernetzten Gebäudes. Mit kleinen Zähnen benagte eine Ratte die Kabel eines Rauchmelders im Keller. Felix schlug seinen Kopf gegen die Wand und sah noch einmal Saskia vor sich. In ihrer Brust hatte sie einen Monitor eingelassen, der aktuelle Nachrichten der Finanzmärkte ausstrahlte. Felix wollte vor ihr flüchten, doch er spürte seine eigenen Füße nicht. Stattdessen empfand er die Temperatursensoren vom Dach. Kalte Herbstluft biss als Phantomschmerz in seine Knie.
"Halb Mensch und halb Maschine, das hältst du nicht durch", kicherte der alte Parkplatzwächter zu Mittag in der Kantine. "Ich hab mir selbst die Stirn durchbohrt. In meinen Schädel kann man so ein Ding nicht mehr einsetzen."
"Was soll ich denn tun? Das MMI ist direkt mit meinem Kleinhirn verzargt."
Der Alte zuckte mit der linken Schulter. "Den Maschinenteil kriegst du nicht mehr raus. Der menschliche Teil wird langsam denaturieren." Er stand auf und griff sein geleertes Tablett. Nach ein paar Schritten fielen Besteck, Teller und der Rest seiner Nachspeise klirrend zu Boden.
Felix blieb an dem leeren, bespuckten Tisch zurück. Dann traf er einen Entschluss. Er steuerte die eigenen Schritte nach ihrem Echo in den Mikrofonen. In der Werkstatt fiel es ihm schwer, das Bewusstsein des ganzen Bürogebäudes zu erleben und gleichzeitig eine Bohrmaschine zu halten. Aber er schaffte es, den Bit einzusetzen, das Bohrfutter festzuschrauben und den Abzug zu drücken. Kein halb und halb mehr. Er bohrte sich die Menschlichkeit und die schlechten Träume aus seinem Schädel heraus.
 
Hallo lietzensee,

welch tolle Idee. Quasi Displays und Infos direkt im Körper fühlen.
Da hilft am Ende tatsächlich nur die Bohrmaschine.

Ein wenig Textkram:

Die Kantine wurde voller und die Lautstärke der an den Wänden befestigten Monitore machten das Gespräch mühsam.
machte (die Lautstärke machte)

"Ein was?", die rechte Seite des Parkplatzwächters war
"Ein was?" Die (kein Redebegleit-, sondern ein neuer Satz)

"Ein MMI, ein Mensch Maschine Interface."
Würde ich mit Bindestrichen schreiben

und ein Stück Nudel spritzten aus seinem Mund
spritzte (ein Stück spritzte)

"Danke", sie lächelte.
siehe oben "Danke". Sie

Lächelnd legte der Arzt seine Hand auf Felixs Schulter.
Felix' Schulter (Sonderregel bei Endung s, ß, x etc.)

bleiben." Er

Dann verabschiedete er seinen atienten.
P

Hat mir gefallen. Liest sich gut, man will wissen, wie es ausgeht.

Schönen Tag und
LG, Franklyn
 

lietzensee

Mitglied
Hallo @Franklyn Francis,
auch hier noch mal vielen Dank für die Einschätzung und das genaue Hingucken!

machte (die Lautstärke machte)
Stimmt

Stimmt

Stimmt. Hier bin ich ein paar mal hin und her gewechselt, wie viele Nudeln aus seinem Mund spritzen. Beim letzten Lesen rutschen solche Fehler dann irgendwie oft durch.

Stimmt

Uj, vielen Dank. Erst such ich mir den Namen aus und dann nutze ich ihn nicht richtig.

Stimmt

:-D "atienten". Stimmt

Würde ich mit Bindestrichen schreiben
Stimmt. Bin jetzt auch am Überlegen, ob ich nicht statt "Interface" lieber "Schnittstelle" nehmen sollte. Da könnte ich dann auch einen Bezug von Schnittstelle auf Schneiden einbauen.

Wenn ich die Zeit finde, werde ich auch hier noch polieren.

Viele Grüße
lietzensee
 



 
Oben Unten