Hallo James,
Was kann dann noch eine "moderne Kopie" daran ausrichten?
herzlichen Dank für deine ausführliche und respektvolle Rückmeldung - sie war für mich in vielerlei Hinsicht bereichernd, nicht zuletzt, weil sie einen klugen Spiegel vorhält, an dem ich meine Arbeit schärfen kann. Besonders wertvoll finde ich deine Überlegungen zur stilistischen Eigenart von Kästners Arbeit und den Stellenwert, den du seiner klaren, analytisch-lakonisch-spritzigen Sprache im lyrischen Ausdruck des Beziehungsthemas einräumst.
Dennoch glaube ich, dass sich unsere Sichtweisen auf das, was eine „moderne Kopie“ sein kann, an einem wesentlichen Punkt unterscheiden: Du verstehst Modernität offenbar primär als historische Bewegung, wenn du Kästner als Bezug für Moderne nimmst und diesen Bezug als Maßstab setzt: Neue Sachlichkeit, Verzicht auf Pathos - eine Bewegung, die komplexe Gefühle in klare Sprache fasst. Was ich hingegen angestrebt habe, ist ein zeitgenössisches Cloning, das nicht bloß im Sinn eines stilistischen Abbilds operiert, sondern sich von der Idee löst, dass Formwiederholung gleichbedeutend mit Echtheit sei. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Kästner selbst unter vielfältigen Einflüssen stand (u.a. Kabarett, Chanson, Film, Busch, Georg Herwegh, Heine und Brecht); verwurzelt im aufklärerischen Spott Heines und dem satirischen Reim Buschs, war Kästner ein exemplarischer Vertreter der skeptischen Ironie der Aufklärung. Kästner ist von allem ein Resultat.
Gegenwärtige Lyrik - wie ich sie begreife - verabschiedet sich von Strukturtreue, nicht aus Beliebigkeit, sondern aus Notwendigkeit. Sie verabschiedet sich partiell auch von Sprache: Wo die Neue Sachlichkeit sich um die Klarheit des Ausdrucks bemühte, tastet sich die Gegenwart durch ein fragmentiertes Erleben, ja löst sich vom Erleben selbst. Lyrik braucht nicht mehr den glatten Satz, der den Zustand fixiert, sondern den Vers, der sich selbst befragt, sich auflöst und nachwirkt. Dass mein Text dabei zuweilen „erklärend“ erscheine, wie du es formulierst, mag daran liegen, dass er sich nicht mit dem Verweis begnügt, sondern nachwirkt, nachhallt u. sich in Schichten legt.
Du sprichst von einem Rückschritt in vergangene Stilepochen; ich würde dem entgegensetzen, dass mein Clon keine Epoche wiederholt, sondern deren Voraussetzungen seziert. Ein Clon ist kein Duplikat, sondern ein Wesen, das unter neuen Bedingungen lebt, dies impliziert die Infragestellung überlieferter Wahrheiten ebenso wie das Loslassen traditioneller Zwänge. Vielleicht war das Wort "Kopie" von mir ungünstig ausgesucht.
Insofern verstehe ich meinen Text nicht als Gegensatz zu Kästners Sachlichkeit, sondern als deren Öffnung. Während er den Tod der Liebe in einen nüchternen Satz zu fassen vermochte, muss ich ihn durch Bilder hindurch beschreiben, die sich nicht abschließen lassen. Man liebte zu Kästners Zeiten anders: kein Instagram, kein Lovoo, kein Facebook und keine digitale Überdehnung des Privaten.
Die Abhängigkeiten von früher und die Abhängigkeiten von heute, gekoppelt an unserem Realitäts- und Kulturbegriff, sind im Kern, in der Definition zwar noch die gleichen, aber divers in ihrer Ausuferung, in ihrer Überreizung und in ihrem allmählichen Versanden.
Ich danke dir sehr für deine Gedanken - sie helfen mir, die eigene Position klarer zu sehen. Dass wir Kästner auf so verschiedene Weise als modern empfinden, macht den Austausch umso wertvoller. Es zündet dort, wo es sich reibt. Die größte Präsenz Kästners findest du in meinem Titel und ich finde es wundervoll, dass Sprache ein Raum bleibt, in dem Spiel und Ernst, Form und Auflösung gleichermaßen beheimatet sind. Außerdem gehöre ich als Autorin nicht zu jenen, die Personen der Vergangenheit weder heroisieren noch dämonisieren. Ich folge meiner Neugier als Dienerin der literarischen Sprache.
Ich wünsche Dir einen schönen Abend und ein schönes Wochenende. Eine Antwort kann ich erst kommende Woche Dienstag wieder verfassen!
Maren