Moderne Zeit

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hermannknehr

Mitglied
So zeig mir aus der Schar nur Einen,
der ehrlich sich bemüht zu sehen;
es sind doch immer die, die meinen,
die ganze Welt schon zu verstehen.

Nimm diesen da, oder den anderen,
ganz gleich wen du dir ausersehen,
du kannst durch Land und Städte wandern
und wirst immer das gleiche sehen.

Lärm und Geplänkel allendhalben,
die Spaßgesellschaft wird kredenzt:
du brauchst dein Leben nicht gestalten,

du musst nur den Genuss verwalten.
Gemessen an dem Flug der Schwalben
ist nur ihr Horizont begrenzt.
 
Hallo hermannknehr,
Du nimmst Dir viel vor in Deinem Sonett: Auf der einen Seite die Ideologen (die die ganze Welt zu verstehen meinen), auf der anderen Seite die Oberflächlichen (Stichwort: Spaßgesellschaft). Ist das Sonett eine geeignete Form, um so pauschalisierend mit Zeitgenossen abzurechnen? Gut, letztlich lässt sich in die Sonettform alles packen - aber worauf ich bestehe, das ist: Ein Sonett muss klingen (it. suonare). Und wenig schön klingt es, wenn von den 14 Zeilen 12 weiblich auf -en enden, und zudem das Verb sehen im Reim dreimal wiederholt wird. Natürlich kannst Du einwenden: Du willst ja gerade das gesellschaftliche Einerlei anklagen, in dem man immer wieder auf die selben Verkrustungen stößt, und deshalb ist auch ein klangliches Einerlei angemessen. Aber das Einerlei, das Du ablehnst, solltest Du in Deine Sprache bzw. poetische Gestaltung nicht übernehmen. Du machst Dich gemein damit!
Allenthalben mit t!
Gruß
E.L.
 

hermannknehr

Mitglied
So zeig mir aus der Schar nur Einen,
der ehrlich sich bemüht zu sehen;
es sind doch immer die, die meinen,
die ganze Welt schon zu verstehen.

Nimm diesen da, oder den anderen,
ganz gleich wen du dir ausersehen,
du kannst durch Land und Städte wandern
und wirst immer das gleiche sehen.

Lärm und Geplänkel allenthalben,
die Spaßgesellschaft wird kredenzt:
du brauchst dein Leben nicht gestalten,

du musst nur den Genuss verwalten.
Gemessen an dem Flug der Schwalben
ist nur ihr Horizont begrenzt.
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Eike Leikart,
vielen Dank für Dein kritischen Statement (das peinliche allenthalben ist korrigiert).
Dass das Sonett nicht klingt, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Die etwas gleichförmigen Reime sind natürlich dem Inhalt angepasst, was Du ja auch schon angedeutet hast.
Dadurch klingt das Gedicht aber nicht weniger. Aber dazu hat wohl jeder seine eigene Meinung. Und ob man diesen Stoff in ein Sonett "packen" darf? Natürlich! Gerade dadurch wird ja erst der Gegensatz zwischen Kunstform und "Geplänkel" pointiert. Den Stoff in einem ungereimten Gedicht wiederzugeben wäre mir etwas zu lapidar.
Gruß
Hermann
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
ich sehn mich sehr mehr seen zu sehn

Dreimal "sehen", und beim zweiten und dritten Mal auch noch im rührenden Reim, das ist nicht besonders spannend. Oder willst Du das Lyri selbst bloßstellen, karikieren?
Nimm diesen da, o[blue]der[/blue] den and[blue]e[/blue]ren,
odér (endbetont) ist etwas unglücklich; "anderen" hat eine Silbe zu viel, man kann aber die mittlere ruhig wegnehmen (Ellipse).

Ich bin nicht ganz sicher, ob die Verwaltung des Genusses nicht auch Gestaltung bedeuten kann, denn Lyrik ist Sprachgenuß, und zwar um so mehr, je mehr dieser Genuß gestaltet wird. Es macht ja eine unermeßliche Freude, zu dichten. Deshalb tuns wir ja. Höchster Genuß.
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Mondnein,
vielen Dank auch für Deinen kritischen Kommentar. Ein kritischer Kommentar ist ja besser als überhaupt kein Statement. Aber dass ich die Lyrik an sich karikieren will nur weil ich zweimal sehen und einmal ausersehen in einem Sonett verwendet habe, ist ein wenig weit hergeholt. Was die "falsch" betonten Wörter (hier oder) betrifft, so habe ich eine völlig andere Meinung dazu. Lies einmal s2/z1 laut, in dem Du dabei "oder" mit der ersten Silbe betonst: das Gedicht wird lockerer, melodischer, ohne den Rhythmus zu verlieren. Aber das ist Ansichtssache. Hier lässt es sich mit einem auf das strenge Versmaß fixierten Theoretiker nicht rechten.
Was den Genuss verwalten betrifft: ich bin eben eher Stoiker als Epikureer.
Gruß Hermann
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
zur Metrik

"Lyri" ist nicht der verkürzte Begriff für "die Lyrik", sondern für "das lyrische Ich". Dieses kann durch den Autor karikiert werden, z.B. durch Stilblüten, Stolperschritte und Patzer, ohne daß der Autor sich diesen Schuh anzieht.

Was die Fixiertheit eines Versmaßes betrifft, so steht es dem Autor natürlich frei, strenger oder lockerer damit umzugehen.
Was dieses Lied angeht, so hat es in allen Versen klare Iamben:
xXxXxXxXx oder xXxXxXxX, dem entsprechend liest der Leser auch diesen Vers iambisch, und dann ist der Schluß auch noch ein Daktylus, es sei denn, man liest die letzte Silbe betont, weil ja auch sonst alles iambisch läuft:
Nimm [blue]die[/blue]sen [blue]da[/blue], o[blue]der[/blue] den [blue]an[/blue]de[blue]ren[/blue],
Der Vers ist also entweder metrisch falsch, oder Du willst ihn anders lesen, etwa:
Nimm [blue]die[/blue]sen [blue]da[/blue],|| [blue]o[/blue]der den [blue]an[/blue]deren,
und das bedeutet, daß das Metrum allein dieses Verses völlig anders ist als das Metrum aller anderen Verse dieses Gedichts. Denn zuerst einmal haben wir eine Zäsur mittendrin, wo man eine Pause lesen muß, weil sonst zwei betonte Silben aneinanderstoßen; und zweitens ergeben sich zwei Daktylen in der zweiten Vershälfte. Ja sicher, schön locker, aber ohne Entsprechung im restlichen Gedicht.
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
und zum Inhalt

Stoiker waren besonders geübt darin, den wahren Genuß zu verwalten. Schließlich ist es der alles durchwärmende, durchlebende, ordnende und philosophisch durchdringende Geist selbst, in dem der Weise seine Glückseligkeit findet. "In ihm leben, weben und sind wir" (Aratos, zitiert in der Areopagrede des Paulus).
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Mondnein,
vielen Dank, dass Du Dich so ausführlich mit meinem, nicht gerade herausragenden, Gedicht beschäftigst. Du hast ja völlig recht, in der Zeile

Nimm diesen da, oder den andern

stimmt entweder die Metrik nicht, oder man betont falsch. Ich mag die Zeile trotzdem und lasse sie auch so stehen.
Dass Lyri ein Synonym für das lyrische Ich ist, wusste ich nicht. Danke für den Hinweis.
Aber erzähle mir bitte nichts über die Stoiker. Diese philosophische Schule ist mir sehr vertraut und ich kann sie sehr wohl gegen die epikureische Weltanschauung des Strebens nach Genuss und Wohlbefinden abgrenzen.
Gruß
Hermann
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Netter Imperativ. Aber ich habe dir was über Stoiker erzählt, Deine Abweisung kommt also zu spät.

Und darauf, ich meine auf meine zitatgestützte Anmerkung, gehst Du nicht ein.
 

hermannknehr

Mitglied
Hallo Mondnein,
ich setze diesen Kommentar lieber unter die Rubrik "spontane Lesereindrücke", denn ich glaube, dass die Leser der Leselupe an unseren Disput nicht sonderlich interessiert sind.
Also: Dein Zitat ist natürlich zutreffend. Wenn man den Begriff "Glück", oder die Glückseligkeit" wie es in dem Zitat heißt, im weitesten Sinne des Wortes fasst, so kommt natürlich auch ein Stoiker zu diesem Glück, in dem er seine ethischen und moralischen Grundsätze verwirklicht. Das Streben nach Glück zum Selbstzweck, insbesondere nach Genuss im epikureischen Sinne, ist aber nicht sein Ziel.
Und genau diesen Genuss habe ich in dem Gedicht gemeint, der heute m.E. allzu oft "verwaltet" wird.
Gruß
Hermann
 



 
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