Mörder

Julia N.

Mitglied
„Ich bin ein Mörder, aber erzähl es bitte keinem weiter“, flüsterte Timmy seinem großen Bruder Johannes zu.

„Wieso solltest du ein Mörder sein? Sechsjährige Jungen sind keine Mörder. Habe ich noch nie gehört.“

In Johannes´ Krimigeschichten ermittelte Kommissar Klugewitz Betrugs- und Entführungsfälle und wurde selten wegen Mordes hinzugezogen. Johannes konnte das Buch kaum aus der Hand legen. Er hatte den neuen Band der Krimigeschichten und sein geheimes Notizbuch für ungeklärte Fälle zu seinem dreizehnten Geburtstag bekommen und seitdem trug er beides immer mit sich.

Die Verdächtigen und die Täter in Klugewitz` Geschichten waren immer Erwachsene. Also konnte kein sechsjähriger Junge ein Mörder sein, oder?

„Bin ich aber. Und sei leiser, es soll keiner mitbekommen.“ Johannes konnte deutlich erkennen, dass sein Bruder Muffensausen bekam. Sonst war der doch nicht so ängstlich.

„Wie viele hast du denn umgebracht?“ Jetzt war Johannes` Neugierde geweckt. Er zückte sein geheimes Notizbuch und einen Kugelschreiber.

„Ähm, ja, lass mich mal überlegen. Heute eine und letzte Woche zwei, glaube ich.“ Timmy flüsterte immer noch.

„In meinen Krimigeschichten spricht der Kommissar dann von Serienmord. Du bist dann kein Mörder, sondern ein Serienmörder“, klärte Johannes andächtig seinen Bruder auf und zog langsam die Augenbrauen hoch.

„Du hast recht, ich bin ein Serienmörder.“ Timmy riss die Augen auf.

„Jetzt wird es spannend. Die stellen immer als erstes die Frage nach dem Motiv. Was ist dein Motiv?“

„Mein Motiv? Was soll das sein? Du mit deinen Krimigeschichten immer.“

„Ein Motiv bedeutet, dass du irgendeinen Grund für deine Tat haben musst. Du wachst nicht einfach morgens auf und denkst dir, heute ist ein schöner Tag, da bring ich mal jemanden um. Also, sag schon. Warum hast du sie umgebracht?“

„Ja, weil sie nerven!“ Timmy zuckte mit den Schultern. Manchmal stellte Johannes komische Fragen.

„Weil sie nerven? Im Ernst jetzt? Weil Sie nerven kam bis jetzt als Motiv noch nie in meinen Krimigeschichten vor. Das ist neu und kann dann kein richtiges Motiv sein, oder?“

„Ist es aber.“ Entgegnete Timmy trotzig.

„Okay, sie nerven. Ich trage das Ganze mal in mein geheimes Notizbuch ein. Du bist ein Serienmörder mit einem Motiv, das noch nie jemand gehört hat und was es vielleicht nicht gibt.“
Der Kugelschreiber huschte schnell über den Block.

„Aber…, aber zeig das niemandem. Du musst es versprechen.“ Timmy schaute ängstlich zu seinem großen Bruder hoch.

„Ja, versprochen.“ Johannes rollte mit den Augen. Sein kleiner Bruder mal wieder. Wofür sollte ein geheimes Notizbuch da sein, wenn man es dann doch wieder jemandem zeigt.

„Dann kommen wir zu deinem Alibi.“ Johannes blickte fragend über seinem Notizblock hervor.

„Falls du angeklagt wirst und du nicht für Jahre ins Gefängnis gehen möchtest, brauchst du ein Alibi, und zwar ein wasserdichtes. Das sagt Herr Kommissar Klugewitz immer. Wenn jemand kein wasserdichtes Alibi hat, dann ist er dran.“

„Johannes, jetzt reicht`s mir aber“, fuhr Timmy ihn wütend an.

„Was soll das sein, ein Alibi?“

„Wenn du zur Tatzeit ein Alibi hast, z. B. Fußballtraining, dann kannst du nicht gleichzeitig einen Mord begangen haben und bist somit unschuldig. Und der Paul könnte sagen, dass er gesehen hat, dass du mit ihm beim Fußball warst. Er kann das Alibi dann bezeugen.“

„Aha.“ Timmy legte die Stirn in Falten. Johannes konnte ihn förmlich denken hören. „Aber ich war es ja, also habe ich kein Alibi, oder wie das heißt und auch keinen Zeugen.“

„Ja, das ist dann allerdings ein Problem.“ Johannes notierte fleißig mit.

Serienmord, fragwürdiges Motiv, kein Alibi, kein Zeuge. Spannendender Fall, könnte schwierig werden.

„Was ist mit Fingerabdrücken? Die hast du hoffentlich nicht am Tatort hinterlassen, oder? Kommissar Klugewitz freut sich immer riesig, wenn sie die Fingerabdrücke auswerten können.“

Johannes wusste, dass Timmy wenigstens damit etwas anfangen konnte. Sie nahmen beide andauernd Fingerabdrücke von Gläsern und Tassen mit dem Fingerabdruckset, das bei den Krimigeschichten dabei war.

„Fingerabdrücke? Natürlich habe ich Fingerabdrücke hinterlassen, ich habe das doch mit der Hand gemacht. Am Anfang war das ein bisschen eklig, aber es ist praktischer.“

„Du hast WAS gemacht?“, erschrocken blickte Johannes von seinem geheimen Notizblock auf.
Vor Schreck war ihm der Kugelschreiber aus der Hand gefallen.

„Sag bloß, du hast das Opfer mit deinen Händen berührt?“

„Ähm, doch, habe ich. Komme ich ins Gefängnis?“, die Angst in Timmys Gesicht war nicht mehr zu übersehen.

„Nein, das glaube ich nicht. Wir sammeln erstmal, was wir wissen. Hat dich jemand beobachtet?“

„Weiß ich nicht, das ging zu schnell.“

Plötzlich fiel Johannes etwas ein. Da war doch in einem der letzten Bände ein Fall, in dem der Verdächtige nicht wegen Mordes verurteilt wurde.

„Warte mal, Timmy. Ich muss mal eben was nachschauen. Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht habe ich eine Lösung für deinen Fall.“

Aufgeregt durchsuchte er seinen Schrank. In welchem Band war das nochmal? Kommissar Klugewitz´ neue Fälle? Oder Kommissar Klugewitz ermittelt an der Ostsee? Nein, auch nicht.

„Hier da ist es.“, triumphierend hielt er den Band Kommissar Klugewitz´ erster Mordfall in die Höhe. Nach ein wenig Blättern hatte er die richtige Stelle gefunden.

„Hier steht es. Der Täter wurde nicht wegen Mordes verklagt, sondern freigesprochen.“

„Das wäre toll.“

„Ja, wenn wir beweisen können, dass du dich wehren wolltest, kannst du freigesprochen werden. Dann war das Notwehr, so steht das hier.“

„Gott sei Dank“, rief Timmy erleichtert aus. „Dann bin ich kein Mörder. Ich wurde angegriffen, ganz bestimmt.“

„Wie jetzt?“, fragte Johannes erstaunt.

„Ja, Mama sagt immer, dass man niemals Lebewesen töten darf, auch keine Pflanzen.“

„Jetzt wird es spannend“, antwortete Johannes und nahm sein geheimes Notizbuch wieder hervor.

„Opfer?“, fragte er.

„Opfer: Mücke“, flüsterte Timmy.

„Täter: unschuldig“, notierte Johannes.

Fertig. „Fall: gelöst.“
 



 
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