Als Uschi am nächsten Morgen zur Wache radelte, um ihre Aussage protokollieren zu lassen, hatte sich in der kleinen Stadt das Verbrechen schon herumgesprochen. Am Supermarkt stand eine Gruppe Leute zusammen, die tuschelten und hinter vorgehaltender Hand Vermutungen über den Täter in die Welt setzten. Nur eine Ecke weiter das gleiche Spiel. Die Mutmaßungen reichten von seiner Freundin Mimi bis zum Auftragskiller. So entsetzlich die Bluttat auch war, so regte sie doch die Phantasie der Menschen an. Plötzlich kannte jeder irgendjemanden, der persönlich mit Holtmann zu tun hatte. In der Pressemitteilung der Polizei wurde allerdings bloß von dem Auffinden der Leiche berichtet, ohne die Umstände im Detail anzugeben. Uschi vermutete, dass das die Arbeit des Kommissars einfacher machte.
Auf der Wache geleitete sie ein junger Beamte in einen Raum mit mehreren Schreibtischen. Uschi schaute sich neugierig um und versuchte, die Stimmung aufzunehmen. Für ihren Roman konnte das äußerst nützlich sein. Emsig waren Kollegen bei der Arbeit in Akten vertieft, auf den Bildschirm ihres PCs fixiert oder telefonierten. Hier war Uschi ganz nah an der spannenden Polizeiarbeit. Aufgeregt setzte sie sich auf den Stuhl, den ihr der Polizist zuwies.
Er ging mit ihr noch mal ihre Aussage durch, wobei er zügig mitschrieb. „Sie haben nach dem Fund der Leiche nichts angefasst?“, fragte er dann unnötig.
„Nein. Ich habe den Raum auch nicht mehr betreten.“
„Benutzen Sie die Werkzeuge aus der Kiste?“
„Nein. Die gehören dem Hausmeister Herrn Doll.“
„Gut“, meinte er und beendete sein Tippen. Ein Drucker surrte in einiger Entfernung. Der Beamte holte den Ausdruck und legte ihn ihr vor. „Bitte unterschreiben Sie hier.“
Sie tat, wie er anordnete.
„Warten Sie bitte noch einen Moment. Hauptkommissar Weinrich möchte Sie noch mal sprechen.“
Der junge Polizist verließ den Raum und marschierte mit dem Schriftstück ein Büro weiter.
Sie sah, wie er darin verschwand. Als er kurz darauf wieder auftauchte, bat er Uschi hinein zu gehen.
Weinrich saß hinter einem voll bepackten Schreibtisch, Uschis Aussage vor sich. Sie war zum Allerheiligsten vorgedrungen, dachte sie bei sich. Zu gerne hätte sie einen Blick in die vielen Berichte geworfen, um dann mit dem Kommissar die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung zu besprechen. Sie könnte ihm sicherlich noch den einen oder anderen Hinweis geben. Verstohlen musterte sie den Ehering an Weinrichs rechter Hand. So würde sie ihren Kommissar auch schildern, mit einer Familie im Hintergrund, die ihn für seine tägliche Arbeit im Sumpf des Verbrechens stärkte. Ein zufriedenes Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. Ob er auch Nichtraucher war? Unauffällig schnupperte sie in seine Richtung. Tabakmief konnte sie nicht ausmachen. Und sie hatte gewiss eine feine Nase dafür.
„Wir brauchen noch Ihre Fingerabdrücke“, begann er das Gespräch mit seiner angenehmen, dunkeln Stimme, nachdem sie sich ihm gegenüber gesetzt hatte.
Fingerabdrücke? Damit hatte Uschi nicht gerechnet. Es brachte sie zurück in die Realität.
Als er ihren erstaunten Blick bemerkte, fügte er hinzu: „Zum Vergleich und Ausschluss.“ Er räusperte sich. „Dieser Serviceraum ist normalerweise abgeschlossen?“
Uschi nickte.
„Und Sie haben einen Schlüssel dazu. Wie war Ihre Beziehung zu Jens Holtmann?“
„Meine Beziehung? Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun.“
„Aber er wohnte doch in Ihrer Nachbarschaft?“
„Ja.“
„Und Sie haben mit seiner Freundin gesprochen. Ist das richtig?“
Das wusste er also auch schon, ging es ihr durch den Kopf. Na klar, er musste mit ihr als Freundin sprechen. Nur konnte sie nicht abschätzen, ob ihn ihr Vorstoß ärgerte oder nicht. „Nun ja. Ich habe ihr nur gesagt, dass Holtmann tot ist.“
„Dann hatten Sie auch privat Kontakt zu ihm?“
„Nur der übliche Nachbarschaftskram. Er hatte ja ganz andere Interessen, als meine Altersgruppe.“
„Was denn zum Beispiel?“
Worauf wollte der Mann hinaus? überlegte Uschi. Sein Gesicht verriet ihr nichts.
„Schnelle Autos und … und Frauen. Mich würde es nicht wundern, wenn eine seiner Verflossenen hinter dem Verbrechen stecken würde.“ Vielleicht war es gut, so direkt zu sein.
„Sie können sich darauf verlassen, dass wir in alle Richtungen ermitteln“, erklärte er gelassen. „Haben Sie es Holtmann übel genommen, dass er so viele Freundinnen hatte?“
„Nein. Es geht mich ja auch nichts an.“ Uschi war verärgert. Verdächtigte der Kommissar jetzt sie? Das Bisschen Sympathie, das sie für ihn hegte, war plötzlich verschwunden. „Und bevor Sie weiter fragen: ich war es nicht!“, empörte sie sich lautstark.
„Wie gesagt, wir müssen alle Möglichkeiten überprüfen. Wo waren Sie gestern zwischen 14 und 16 Uhr?“
Besaß der Mann wirklich die Frechheit, sie so etwas zu fragen? „Zu Hause“, antwortete sie grimmig.
„Gibt es Zeugen dafür?“
„Nein, ich war alleine!“
Unbeeindruckt stellte Weinrich seine nächste Frage: „Und sonst haben Sie niemanden in der Firma gesehen?“ Er blickte dabei auf ihre schriftliche Aussage.
„Doch.“
Überraschte sah er auf.
„Frau Strunz kam mir entgegen, als ich das Bürogebäude betrat.“
„Davon haben Sie gestern nichts gesagt.“
„Es war nichts Ungewöhnliches. Sie ist oft noch in ihrem Büro, wenn ich zur Arbeit komme.“
„Haben Sie sonst noch jemanden gesehen?“
„Nein. Aber ich denke, dass der Hausmeister auch noch da war. So schnell hätte der gar nicht von zu Hause kommen können, um ihre Kollegen rein zu lassen.“
Das schien Weinrich nicht sonderlich zu interessieren. Sicher hatte er längst mit Herrn Doll gesprochen.
Abrupt wechselte er das Thema. „Sie haben eine Tochter, Frau Beerhues.“
Diesmal war es Uschi, die ihn überrascht ansah. „Ja. Warum?“
„Sie ist Vierundzwanzig, wenn ich richtig informiert bin. Ist sie auch eine Verflossene von Herrn Holtmann? Ich meine, der Mann wohnte in Ihrer Nachbarschaft. Da wäre es nur natürlich, dass sich die beiden begegnet sind.“
Jetzt wurde es Uschi zu bunt. Was dachte sich dieser aufgeblasene Kommissar eigentlich? „Meine Tochter studiert in Berlin und war schon seit Wochen nicht mehr hier“, erklärte sie ihm frostig.
„Das beantwortet nicht meine Frage“, kam es ebenso kühl zurück.
„Wenn sie mit ihm liiert war, dann muss das sehr kurz gewesen sein. Ich weiß davon nichts.“
„Oder geben Sie nur vor, nichts davon zu wissen? Sie haben Zugang zu dem Raum, Sie haben kein Alibi und ein mögliches Motiv haben Sie auch.“
Entrüstet sprang Uschi von ihrem Stuhl auf. „Das ist doch alles an den Haaren herbei gezogen! Ich habe den Mord gemeldet. Wenn ich den Kerl umgebracht hätte, hätten Sie die Leiche nicht so schnell gefunden!“
Weinrich zog eine Braue hoch. „Wie meinen Sie das jetzt?“
„Na ja. Man liest doch immer wieder, dass eine Beweisführung schwierig ist, wenn es keine Leiche gibt. Oder so.“ Verunsichert klammerte sie sich an ihrer Handtasche fest. Dieser Kommissar regte sie auf. Er war auf dem Holzweg, wenn er sie verdächtigte.
„Wie würden Sie denn eine Leiche verschwinden lassen?“, hakte er nach.
„Irgendwie. Ich weiß nicht. Vielleicht vergraben?“ Redete sie gerade um Kopf und Kragen? „Ich möchte jetzt gehen“, sagte sie mit Nachdruck, bevor es noch schlimmer wurde.
„Können Sie, wenn wir Ihre Fingerabdrücke haben. Ein Kollege wird sich darum kümmern.“ Mit der rechten Hand wies er zur Tür. „Bitte.“ Dann wandte er sich in aller Ruhe seinen Akten zu.
In Uschi brodelte es. Dieses Gespräch war gar nicht so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Anschuldigungen des Kommissars trafen sie an einem wunden Punkt. Zu gut erinnerte sie sich an den letzten März. Ihre Tochter Sophie war frisch verliebt durchs Haus getanzt, nachdem sie von einer Karnevalsfeier zurück kam. Immer wieder hatte sie von einem Jens geschwärmt, in den sie hoffnungslos verknallt war. Uschi war schnell klar geworden, dass es sich dabei um Holtmann handeln musste. Ihre Warnung hatte ihre Tochter in den Wind geschlagen, natürlich. Seit wann hörten Kinder auf solche Ratschläge ihrer Eltern? Das böse Erwachen folgte nur drei Wochen später, als ihr Jens plötzlich eine neue Flamme an seiner Seite hatte. Danach kamen harte Zeiten des Liebeskummers und des Herzwehs. Wenn sie nur an die vielen Papiertücher dachte, die Sophie verbraucht hatte. Diese Unmengen. Aber ihre Tochter hatte das durchgestanden und war sogar gestärkt daraus hervorgegangen. So war das eben mit der Liebe. Seitdem suchte sie sich ihre Freunde sorgfältiger aus. Den Namen Holtmann hatte Sophie kein einziges Mal erwähnt. Wenn Uschi ihn damals in die Finger gekriegt hätte, hätte sie ihm ordentlich die Leviten gelesen. Damals. Das war jetzt beinahe ein halbes Jahr her und fast schon wieder vergessen. Und ganz sicher kein Grund für einen Mord.
Kommissar Jürgen Weinrich saß an seinem Schreibtisch in dem Büro, dass man ihm zugeteilt hatte. Aufmerksam ging er die ersten Berichte der KTU durch. Die Waffe war nicht unter den Werkzeugen, die sie aus der Kiste mitgenommen hatten. Das hatte er erwartet. Der Gerichtsmediziner hatte von einem quadratischen Gegenstand aus Eisen gesprochen, drei mal drei Zentimeter, mit leicht abgerundeten Ecken. Mehr wollte der Mann zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Nicht mal, ob der Schlag tödlich war. Das genaue Ergebnis der Obduktion stand noch aus. Der Gerichtsmediziner in Münster war für seine Gründlichkeit bekannt. Aber so etwas dauerte immer.
Seufzend nahm sich Weinrich die Berichte über die Mitarbeiter der Firma Strunz Food vor. Der Hausmeister Herr Doll hatte als Alibi angegeben, zur Tatzeit an der Produktionshalle gewesen zu sein und dort Unkraut vernichtet zu haben. Es gab allerdings keine Zeugen für die gesamten zwei Stunden. Der Mann hätte seine Arbeit jederzeit kurz unterbrechen können, ohne dass es aufgefallen wäre. Die Chefin, Frau Strunz hatte ihren Angaben nach den ganzen Nachmittag in ihrem Büro zugebracht und sich mit wichtigen Unterlagen beschäftigt. Auch hierfür gab es niemanden, der das für den Tatzeitraum lückenlos bestätigen konnte. Selbst Alina Strunz konnte er nicht ausschließen. Sie wäre zwischen 14 und 16 Uhr fleißig bei der Arbeit in ihrem Büro gewesen, hatte sie erklärt. Den Keller hatte angeblich keiner von ihnen am Donnerstag aufgesucht.
Weinrich überlegte, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass noch jemand einen Schlüssel besaß. Einer, von dem niemand etwas wusste? Immerhin konnte man nicht so einfach eine Kopie bekommen. Es handelte sich um einen Sicherheitsschlüssel. Reproduktionen wurden nur mit passendem Zertifikat erstellt. Oder man machte sich das Ding selbst. Jens Holtmann hatte keinen bei sich. Zudem drängte sich Weinrich die Frage auf, was der dort eigentlich gewollt hatte. Mit seiner Arbeit konnte das schwerlich zu tun haben. Einen PC gab es im Serviceraum nicht und auch keinen Internetanschluss.
Dann breite sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, als ihm eine Idee kam. Samenraub in der Besenkammer, wie bei diesem Promi. Das wäre doch nichts Neues. Bloß, wer kam dafür in Frage? Von den Schlüsselinhabern zweifellos nur Alina Strunz. Die passte mit ihren sechsundzwanzig Jahren halbwegs ins Beuteschema von Jens Holtmann. Doch sie hatte um 14.30 Uhr eine Besprechung im Einkauf. Natürlich hätte sie vorher Holtmann im Affekt erschlagen können. Und dann ruhig zu einem Termin erscheinen? Wenn der Gerichtsmediziner wenigstens die Todeszeit etwas mehr eingegrenzt hätte. Aber auch dazu wollte sich der gute Mann erst nach der Obduktion äußern.
Dann dachte er wieder an diese Putzfrau Frau Beerhues. Unwillkürlich rollte er mit den Augen. Mann, die nervte vielleicht. Wie gut, dass er gelernt hatte, sich zu beherrschen. Auf jeden Fall würde er ihre Tochter Sophie von Kollegen in Berlin überprüfen lassen. Zur Sicherheit. Sie hätte sich unbemerkt von der Mutter die Schlüssel ausleihen können, um die Firma diskret zu betreten. Er selbst würde noch ein Gespräch mit Alina Strunz führen. Außerhalb der Firma und ohne ihre Mutter in der Nähe. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass die junge Frau in ihrer Gegenwart längst nicht alles erzählte.
Weinrich sah zur Uhr. Er hatte noch genügend Zeit für einen schnellen Kaffee und ein Brötchen. In einer Stunde hatte er eine Dienstbesprechung angesetzt, um sich über die Ermittlungen auszutauschen. Es war doch gut, dass man mit ihm einen erfahrenen Beamten hinzugezogen hatte. Für die Mordkommission arbeiteten unter seiner Leitung inzwischen sechs Leute. Vier Kollegen befragten die Mitarbeiter von Strunz Food, ob jemand Ärger mit Holtmann hatte, privat oder beruflich. Derweil mühte sich Andy Recker, ebenfalls aus Münster, mit den Unterlagen ab, die sie auf Holtmanns Computer gefunden hatten. Wenn es da Ungereimtheiten gab, würde er sie finden. Der Kollege war ein qualifizierter IT-Spezialist. Eine weitere Beamtin durchforstete Bank- und Versicherungsunterlagen von Jens Holtmann, bisher allerdings ohne besonders interessante Ergebnisse.
Auf dem Rückweg nach Hause hielt Uschi am Supermarkt, um noch einzukaufen. Wenn sie schon mal unterwegs war, dann wollte sie das gleich mit erledigen. Und es war eine gute Möglichkeit, um ihren Ärger über den ungalanten Kommissar zu zähmen. Einkaufen löste bei ihr Glücksgefühle aus.
Am Obststand packte sie reichlich frische Äpfel in ihren Einkaufswagen. Die mochte Wilfried so gern. Dann schlenderte sie weiter zur Süßwarenabteilung. Wenn sie hier ebenso großzügig zugriff, platze sie bald aus allen Nähten. Also beschränkte sie sich auf zwei Tafeln Nussschokolade, dafür vom Feinsten. Vor dem Regal mit den eingelegten Gurken traf sie auf Rita Doll, die Frau des Hausmeisters.
„Wie fürchterlich“, meinte sie. „Dieser Mord. Hat man Sie auch schon verhört? So wie meinen Klaus?“
Uschi machte ein betrübtes Gesicht. Wenigstens war sie nicht die Einzige. „Ja. Ich komme gerade von der Polizeiwache“, erklärte sie.
„Unsere Nichte Mimi haben sie auch schon in die Mangel genommen. Das arme Ding. Aber wie sollte sie denn auf das Firmengelände gekommen sein? Das ist doch unmöglich!“ Rita schüttelte verständnislos den Kopf.
Uschi hatte da allerdings schon eine Idee. Doch die würde sie Rita nicht auf die Nase binden. Stattdessen stimmte sie der Frau zu: „Das ist eine sehr unerfreuliche Situation.“
„Haben Sie denn eine Ahnung, wer das getan haben könnte?“, fragte Rita sie gerade heraus, wobei ihr neugieriger Blick auf Uschi ruhte.
„Ich? Ich weiß es nicht“, beeilte sich Uschi.
Dann ließ sie die Frau einfach stehen und schob schnell ihren Kolli weiter. Sie wollte sich nicht offen an irgendwelchen Spekulationen beteiligen. Erst recht nicht, wenn sie selbst zu den Verdächtigen gezählt wurde. Es war schon ärgerlich genug, dass man sie hier beim Shoppen überhaupt auf das Thema ansprach.
Nur zwei Regale weiter standen drei Frauen bei den Nudelwaren und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen. Als sie Uschi erblickten, verstummten sie plötzlich. Uschi ließ sich davon nicht beirren, lud sich ein Paket Spaghetti in den Einkaufswagen und spazierte weiter. Ein schwerer Duft von Flieder verfing sich in ihrer Nase. Das musste das schreckliche Parfüm von einer der Damen sein. Sie hatte ihnen gerade den Rücken gekehrt, da begann das Getratsche von Neuem. Die Leute redeten doch immer viel, über alles Mögliche, dachte sie. Und nun war eben der Mord das Gesprächsthema Nummer Eins. Das hatte sie doch schon auf dem Weg zur Wache beobachtet. Nur blöd, dass man sie nun scheinbar ganz oben auf die Liste ihrer Verdächtigen gesetzt hatte. So war das in einer Kleinstadt halt. Selbst der Kommissar behandelte sie dementsprechend. Wie lächerlich!
An der Kasse reihte sie sich in die Schlange der Wartenden ein. Musste das immer so voll sein? ärgerte sie sich. Dabei war die zweite Kasse unbesetzt. Typisch! Die Leute beäugten sie skeptisch, schwiegen zum Glück aber. Die Lust aufs Einkaufen war ihr endgültig vergangen. Uschi fühlte sich höchst unbehaglich. Sie hatte doch nichts getan! Nichts, außer die Leiche von Holtmann zu finden. Oder wusste jemand von ihnen von Sophies Verhältnis mit Jens? Machte sie das in ihren Augen zur Täterin? Oder weil sie ebenfalls in der Firma arbeitete?
Als sie endlich an der Reihe war, zahlte sie und verstaute den Einkauf in ihrem Beutel. Jetzt bloß nicht in Hektik verfallen! Das wäre für die Leute schon fast ein Schuldgeständnis. Vielleicht, beruhigte sie sich dann, vielleicht würde es nicht lange dauern und sie hätten jemand anderen im Visier ihrer Verdächtigungen. Aber eigentlich empfand Uschi es als Unverschämtheit, dass nach ihrem Mann zuerst der Kommissar und nun noch einige Bürger ihrer Heimatstadt ihr so etwas zutrauten. Kannte man sie wirklich so schlecht? Sie nahm sich vor, weitere Nachforschungen zu unternehmen. Wenn sie den wahren Mörder überführen konnte, dann dachten die bestimmt anders darüber.
Es war schon fast Mittag, als Uschi zu Hause ihre Einkäufe auspackte. Unentwegt kreisten ihre Gedanken um den Mord an Jens Holtmann. Wer hatte, einmal abgesehen von der Gelegenheit, einen Grund, ihn zu töten? Frau Brigitte Strunz hätte ihm einfach kündigen können, wenn sie ihn loswerden wollte. Die Frau leitete die Firma nun schon über zwanzig Jahre. Sie hatte ein kleines Unternehmen von ihrem Vater übernommen und zu diesem stolzen Werk ausgebaut. Alles alleine, ohne Ehemann an ihre Seite. Außerdem war die Frau bekannt dafür, sich stets unter Kontrolle zu haben. Eben sehr professionell ging sie Probleme rationell an. So ein Verbrechen im Affekt passte nicht zu ihr.
Dann war da noch Alina Strunz. Sie könnte Holtmanns Charme verfallen sein, wie so viel vor ihr. Obwohl sie bisher eher schlecht über ihn gesprochen hatte. Sie schien genau zu wissen, was für ein Schürzenjäger er war.
In der Firma gab es gut hundert Mitarbeiter. Holtmann könnte so ziemlich mit jedem aneinandergeraten sein. Ob die Polizei alle überprüfte? Das war sicher eine Menge Arbeit.
Uschi verstaute eine Tafel Schokolade im Küchenschrank. Von der Zweiten brach sie sich einen Riegel ab und schob ihn nachdenklich in den Mund. Und wenn doch Mimi Doll mit ihm im Keller war? Um sich in Ruhe auszusprechen? Den Schlüssel könnte sie von ihrem Onkel bekommen haben. Dann wäre sie auch durch den Nebeneingang unbemerkt vom Empfang aufs Gelände der Firma gelangt. Und im Serviceraum wollte sie ihn zur Versöhnung vernaschen. Ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht.
Um 16 Uhr fuhr Uschi zur Arbeit. Das war etwas früher, als gewöhnlich. Aber sie brannte darauf, mit Klaus Doll zu reden. Der Mann war ein grantiger Zeitgenosse. Sie hatte den Eindruck, als wenn er nicht gerne bei Strunz Food arbeitete. Jedenfalls hatte sie ihn noch nie lachen gesehen. Ob sich seine Mundwinkel überhaupt nach oben bewegen ließen? Trotzdem wollte sie ihn noch erwischen, bevor er Feierabend machte. Und auch sonst die Lauscher aufstellen, was der Bürofunk so hergab.
Der Empfang war noch besetzt. Uschi fragte den jungen Mann nach Herrn Doll. Doch der zuckte nur mit den Schultern. Sicher sei der irgendwo auf dem Gelände, meinte er. Dann fragte sie, ob gestern eine junge Frau nach Holtmann gefragt hätte. Der junge Mann schaute sie mit großen Augen an, um anschließend bedächtig mit dem Kopf zu schütteln.
Etwas enttäuscht schritt sie in den Keller. Den Serviceraum hatte die Polizei schon wieder frei gegeben. Auf dem Fußboden erinnerte ein kleiner Blutfleck an die Gewalttat von gestern. Auch die Werkzeugkiste des Hausmeisters wirkte ziemlich leer. Sonst war alles beim Alten.
Sie belud ihren Handwagen, schob ihn in den Fahrstuhl und fuhr in den ersten Stock. An Holtmanns Bürotür klebte ein Polizeisiegel. Was die Beamten dort wohl gesucht und gefunden hatten? kam es ihr in den Sinn. Dann zog sie weiter über den leeren Flur und startet ihre Putzrunde im Personalbüro.
Frau Potthoff saß an ihrem Schreibtisch und bearbeitete noch irgendwelche Akten am PC. Sie schaut nur kurz auf, als Uschi eintrat. Diese pflichtbewusste Frau hatte wohl nichts anderes als ihre Arbeit, dachte Uschi. Zumindest war sie nicht verheiratet, das wusste sie genau. Mit Unschuldsmine wischte Uschi über die Fensterbank, immer bemüht, den vielen Kleinkrams wieder an die richtige Stelle zurück zu setzten. Frau Potthoff beäugte sie dabei mit kritischem Blick. In der Ecke begann der Drucker laut zu rattern und spuckte mehrere Blätter aus. ‚Personalakte Jens Holtmann‘ las Uschi in der obersten Zeile. Gern hätte sie genauer hingesehen, aber Frau Potthoff war zu schnell. Sie fischte die Papiere aus dem Fach und steckte sie in einen großen Umschlag. Uschi wusste, dass in solchen Akten alle Weiterbildungen und Dienstreisen vermerkt wurden, ebenso wie Krankmeldungen und Abmahnungen. Ob Jens Holtmann jemals eine Abmahnung erhalten hatte? Sicher nicht. Sonst hätte sie das Bürogeflüster bestimmt mitbekommen.
Dass es jetzt, bei einem Mord, erstaunlich still war, wunderte Uschi. Sie hatte vermutet, dass auf dem Flur noch Leute schwatzend bei einem Kaffee zusammen ständen. Vielleicht hatten die Angestellten schon in der Mittagspause ausgiebig darüber diskutiert, überlegte sie. Heute war Freitag, da verabschiedete man sich gerne pünktlich ins Wochenende.
Uschi leerte noch den Mülleimer aus und schob dann ihren Putzwagen weiter zum Büro von Alina Strunz. Unter ihrer Leitung arbeiteten drei Personen, Patrik Fiedler, Dennis Güthues und Simon Scholz im Einkauf. Die Männer teilten sich das Büro nebenan. Ihre Aufgabe war es, die Produktion am Laufen zu halten. Sie bestellten Ersatzteile für die Maschinen, Büroartikel und Arbeitskleidung, ebenso die Zutaten für die Produkte. Strunz Food war bekannt für ihre hochwertigen Fertiggerichte, wie Nudeln mit Frikadellen in Jägersoße oder Reis mit Gemüse und Hackbällchen in Currysoße. Der Renner waren aber die Hackbällchen ‚Pikant‘ mit einem Hauch Chili und das Paprikageschnetzelte. Seit neustem gab es auch eine vegetarische Linie mit verschiedensten Spezialitäten. Wilfried hatte mal ein Paket Geschnetzeltes der Art Gyros davon mitgebracht. Das Sojafleisch hatte ihr nicht so recht gemundet. Sie vertrat sowieso den Standpunkt, entweder Vegetarier oder nicht. Niemand brauchte Ersatzwurst. Es gab doch genügend Gemüsearten, die ganz fabelhaft schmeckten. Allerdings hatte die Firma Strunz Food einen großen Absatzmarkt für ihre Kreationen aus Soja gefunden. Sie kamen kaum nach mit den Lieferungen. Für nächstes Jahr war der Anbau einer weiteren Produktionshalle geplant.
Beide Büros vom Einkauf waren verwaist. Schade. Uschi hatte keine Möglichkeit für eine kurze Plauderei mit Alina. Sie mochte die junge Frau mit den attraktiven braunen Augen und den dunkelblonden Locken.
Eifrig putzte Uschi durch die Räume, wischte über die Bildschirme der PCs und leerte die Mülleimer. Sie sammelte die Kaffeetassen ein und fütterte damit die Spülmaschine der kleinen Küche. Dann machte sie sich im Konferenzzimmer an die Arbeit. Auch hier standen etliche benutzte Tassen und Gläser neben Flaschen und einer Thermoskanne auf dem großen Tisch. Hatte es eine Besprechung zum Tod von Jens Holtmann gegeben? Oder hatten es sich Beamte der Polizei hier gemütlich gemacht? Vielleicht waren auch einige Mitarbeiter hierhin zu Gesprächen mit dem Kommissar bestellt worden, schätzte Uschi. Während sie noch grübelte, entdeckte sie durch die Glasfront zum Flur den Hausmeister, der gerade da entlang kam. Schnell sammelte sie das schmutzige Geschirr ein, um es in die Küche zu tragen. Ihr Zusammentreffen sollte rein zufällig aussehen. Mit dem Tablett in den Händen eilte sie auf den Flur. Aber Herr Doll schloss schon die Tür zum Büro der Chefin hinter sich. Mist. Sie hatte ihn verpasst. Egal, dachte sie. Sie würde abwarten. Wie in Zeitlupe sortierte sie die Tassen und Gläser in die Spülmaschine und schaltete sie ein. Danach wischte sie ausgiebig über die Anrichte und auch noch extra gründlich über die Schrankfronten. Wie lange brauchte der Mann denn nur?
Frau Potthoff kam aus ihrem Büro, ihre Handtasche im Arm. Im Vorbeigehen musterte sie sie so argwöhnisch, dass Uschi nichts anderes übrig blieb, als zurück in den Konferenzraum zu gehen. Mit langem Arm putzte sie die Kaffeeränder vom Tisch, immer den Blick zum Flur. Der Hausmeister musste doch jeden Moment vorbei kommen. Irgendetwas stoppte unversehens ihre Hand mit dem blauen Mikrofaserlappen. Als sie zum Tisch sah, wackelte eine Wasserflasche schon gefährlich. Sie stützte um und rollte polternd vom Tisch. Klirrend zerschellte sie auf dem Teppichboden. Verdammt, auch das noch. Uschi holte den Aufnehmer vom Putzwagen, fischte die Glasscherben aus der Pfütze und entsorgte sie im nächsten Mülleimer. Dabei stieß sie auf einen zerknüllten Zettel. Das handschriftliche Datum von gestern, Donnerstag erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie zog das Papier vorsichtig auseinander. Mit Mühe konnte sie die Buchstaben W. B. entziffern.
„Alles in Ordnung?“ ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Erschrocken drehte sie sich um. Herr Doll stand in der Tür. Der große und kräftige Mann starrte zu ihr rüber.
„Ja, danke.“, stammelte Uschi. „War nur ein kleines Missgeschick.“
„Wir sind wohl alle etwas durcheinander. So ein Mord passiert hier ja nicht jeden Tag.“
„Nein, sicher nicht.“ Ein leiser Seufzer begleitet ihre Aussage. „Ihre Nichte Mimi ist auch betroffen?“, fragte sie arglos.
Sofort verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck. „Man soll ja nicht schlecht über Tote reden, aber Holtmann war ein ziemlicher Mistkerl. Mimi so einfach abzuservieren für eine andere. Das ist nicht gerade nett. Aber nur, weil der Lümmel mit ihr Schluss gemacht hat, hat sie ihn nicht gleich umgebracht.“
„Aber sie hat doch sicher ein Alibi?“
„Leider nein, kein Stichhaltiges. Gestern war ihr freier Tag. Sie war alleine zu Hause.“
Was für eine Überraschung, dachte Uschi. „Sie wäre doch nie unbemerkt hier ins Gebäude gekommen.“
„Sicher nicht.“
„Es sei denn …“
„Was?“ hakte der Hausmeister nach.
„Es sei denn, sie hat sich Ihre Schlüssel ausgeliehen.“ Gespannt erwartet sie seine Antwort.
Herr Doll nahm ihr diese Frage jedoch übel. „Wie bitte?“ schnauzte er sie an.
Sofort versuchte Uschi ihn zu beruhigen: „Das hätten Sie doch sicher gemerkt? Oder?“
Doch er regte sich nicht ab. „Vielleicht war es auch Ihr Mann?“, ging er zum Angriff über. „Der könnte sich doch auch Ihren Schlüssel ausleihen! Sie lassen sie doch sowieso überall liegen! Außerdem habe ich gehört, dass er mit Holtmann ein Problem gehabt haben soll.“
„Was für ein Problem?“ Verblüfft sah Uschi ihn an. Wilfried hatte nie etwas von Problemen mit Holtmann erwähnt.
„Genaues weiß ich da auch nicht. Fragen Sie doch einfach Ihren Mann!“ Grußlos stapfte der Hausmeister davon.
Krampfhaft überlegte Uschi, ob seine Theorie stimmen könnte. Wilfrieds Schlüssel reichten, um aufs Firmengelände und in die Produktionshalle zu gelangen, aber nicht in das Verwaltungsgebäude oder gar den Serviceraum. Natürlich hätte er sich jederzeit ihre Schlüssel nehmen können. Er hätte sie nur vor seinem Feierabend zurück legen müssen. Doch dafür genügte schon eine kurze Arbeitspause. Ihr Wilfried? dachte sie besorgt. Ihr friedfertiger Wilfried sollte Holtmann erschlagen haben? Ermittelte Kommissar Weinrich schon gegen ihn? Wenn Doll von Problemen gehört hatte, dann sicher auch Weinrich.
Uschi hatte es plötzlich sehr eilig, ihre Arbeit zu erledigen. Eine Stunde später wischte sie schon das Treppenhaus und verstaute kurz darauf ihre Arbeitsgeräte im Serviceraum. In Gedanken sah sie wieder Holtmanns Leiche vor sich am Boden liegen. War ihr Mann wirklich zu einer solchen Grausamkeit fähig? Nein, entschied sie sich. Das konnte nicht sein. Es musste eine andere Lösung geben. Vielleicht hatte Doll nur eine Behauptung aufgestellt, um von sich selbst abzulenken. Er hatte sehr verärgert geklungen, als er über Holtmann sprach. Wer weiß, eventuell gab es da noch mehr Streitpunkte als Mimi. Und warum sollte Wilfried mit Holtmann hier in den Keller gehen? Beide hatten hier nichts verloren. Doll allerdings schon. Er bewahrte Werkzeug im Serviceraum auf. Entschlossen schnappte sich Uschi ihre Tasche, sperrte die Tür ab und machte sich auf den Heimweg. Ein klärendes Gespräch mit Wilfried war jetzt dringend von Nöten.
Als Uschi ihren Polo im Carport parkte, hoffte sie, dass ihr Mann auch zu Hause war. Zumindest hatte sie keine Nachricht von seiner Verhaftung auf ihrem Handy erhalten. Nervös eilte sie ins Haus.
„Wilfried?“, rief sie. Doch niemand antwortet.
„Wilfried!“ versuchte sie es lauter, während sie durch den Flur lief.
In der Küche war er nicht, auch nicht im Wohnzimmer. Hatte ihn der Kommissar doch zur Wache bestellt? Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung draußen vor dem Terrassenfenster wahr. Uschi fiel ein Stein vom Herzen, als sie Wilfrieds Schopf erblickte. Gegen seine Gewohnheit saß er im Gartenstuhl, fast regungslos. Dabei lud das trübe Wetter gar nicht dazu ein. Irritiert trat sie zu ihm auf die Terrasse.
„Wilfried?“, sprach sie ihn noch mal an.
Langsam wandte er ihr sein Gesicht zu. „Ich war in unserem Gartenhäuschen.“ erklärte er dumpf wie in Trance.
„Ja. Und?“
„Da, wo wir unsere Sommermöbel aufbewahren. Und den Sonnenschirm. Und den Grill.“
„Ja, ich weiß, was wir dort alles unterstellen.“ Eine unbestimmte Ungeduld hatte Uschi erfasst.
„Ich wollte nach unserem Grill sehen. Dabei habe ich das da gefunden.“ Wilfried deutete auf den Boden zu seinen Füßen.
Dort lag ein handelsüblicher Hammer mit einem Holzstiel. Es dauerte einen Moment, bis Uschi begriff. An dem dunklen Metall klebte etwas Rotbraunes und auch am Stiel waren Spritzer davon sichtbar. Das musste Blut sein, dachte sie entsetzt. Holtmanns Blut? Ein Hammer wäre jedenfalls nicht ungewöhnlich für eine Werkzeugkiste, wie die des Hausmeisters. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte da immer genauso einer gelegen. Nur nicht am Donnerstagabend. Aber wie kam das Objekt in ihr Gartenhäuschen? Hatte doch Wilfried zugeschlagen? Sie musste Gewissheit haben, so oder so. „Hast du …“, setzte sie an.
Doch ihr Mann unterbrach sie barsch: „Hörst du nicht zu? Ich habe das Ding gefunden!“
„Hast du schon die Polizei informiert?“, änderte sie ihren ersten Gedanken.
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Ich wollte erst wissen, ob du vielleicht …?“
„Ich?“, brauste sie auf. Hielt sie wirklich jeder für schuldig?
„Ich weiß nicht, was du am Donnerstagnachmittag gemacht hast oder wo du warst“, meinte er ernst. „Und seit Wochen redest du vom Morden. Was soll ich da denken?“
Uschi rollte mit den Augen. Das konnte doch nicht wahr sein. Hatte ihr Mann so wenig Vertrauen zu ihr? „Ich habe es dir gestern schon gesagt. Und heute wiederhole ich es für dich: ich habe nichts damit zu tun!“ Es fehlte nicht mehr viel und sie hätte zur Bekräftigung mit dem Fuß aufgestampft.
„Sicher. Und wie kommt dieser…“ Verstört sah er zum Werkzeug zu seinen Füßen. „… dieser Hammer auf unser Grundstück?“
„Keine Ahnung. Vielleicht hast du ihn mitgebracht?“, giftete sie ihn an. Wilfrieds Anschuldigung stießen ihr sauer auf.
„Nein. Warum sollte ich das tun?“
Das Erstaunen in seinem Blick konnte sie nicht besänftigen. „Ich habe gehört, dass du Probleme mit Holtmann gehabt haben sollst“, sagte sie schnippisch.
„Was für Probleme?“ Sein Erstaunen wuchs zu einer Verwunderung. „Ach, das meinst du“, erinnerte er sich plötzlich.
„Was?“
„Er hat mich beschuldigt, ich hätte illegal Firmengeheimnisse kopiert.“
„Was für Firmengeheimnisse?“
„Rezepte und Verfahrensweisen, alles von unserer vegetarischen Linie.“
„Du meinst Industriespionage?“ Die Sache wurde ja immer aufregender, dachte Uschi.
Wilfried nickte müde.
„So etwas würdest du doch nicht tun!“, sagte sie mit tiefer Überzeugung.
„Immerhin hast du mir gerade noch einen Mord zugetraut.“ Er klang beleidigt, was sie schlicht überhörte.
„Wie kommt er darauf?“
„Ich weiß es nicht. Mit mir hat er nicht darüber gesprochen. Aber er muss es Frau Strunz berichtet haben.“
Uschi überlegte. Dann meinte sie: „Was ist so eine Information eigentlich wert?“
„Lässt sich schwer sagen. Es kommt ganz darauf an, wem man sie anbietet. Mehrere tausend Euro vielleicht.“
„Wie? Rezepte von dem scheußlichen Zeug? Das kann man gar nicht glauben.“ Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse und schüttelte den Kopf.
„Der Markt wächst und die Produkte sind heißbegehrt. Auch wenn du sie nicht magst“, verteidigte Wilfried seine Firma.
Das warf ein ganz neues Licht auf den Mord, spekulierte Uschi. Vielleicht war das Motiv nicht Eifersucht oder Leidenschaft, sondern es ging um Vertuschung. Dann gab es bestimmt noch jede Menge Verdächtige. Das stachelte ihren Ehrgeiz an.
„Und was machen wir jetzt mit diesem Ding?“, riss sie Wilfried aus ihren Gedanken.
„Zur Polizei bringen. Vielleicht sind da Spuren vom Mörder drauf.“
„Und meine Fingerabdrücke“, meinte er betreten.
„Besser, du bringst den Hammer zu ihnen, als wenn sie ihn bei uns finden. Das ist noch verdächtiger. Wenn Kommissar Weinrich dich für einen Verräter hält, bist du sowieso schon in seinem Visier.“
„Und wenn wir ihn zurück zur Firma bringen? Ich meine, ohne meine Abdrücke“, schlug er vorsichtig vor.
Uschi grübelte. Wenn man keine Verbindung zu diesem Mordwerkzeug zu ihnen herstellen konnte, ließ sich auch kein Verdacht erhärten. Vielleicht war die Idee gar nicht so blöd. „Ich mag diesen Kommissar nicht besonders. – Wo genau hast du ihn angefasst?“, fragte sie.
Wilfried zeigte auf eine Stelle am Holzstiel. Sie holte einen Putzlappen aus dem Haus und wischte den Stiel gründlich damit ab. Dann ergriff sie den Hammer mit einer Plastiktüte und stülpte anschließend die Tüte darüber. Genauso hatte sie es bei den Polizisten im Fernsehen gesehen. „Wir sollten ihn sofort wegbringen. Oder willst du warten, bis es dunkel ist?“
Unschlüssig saß Wilfried im Gartenstuhl. Er konnte sich einfach nicht entscheiden, was das Beste wäre. „Vielleicht hätten wir ihn doch zur Polizei bringen sollen.“
„Wir können ihn ja so hinlegen, dass die Beamten ihn ganz sicher finden.“
In Gedanken war Uschi schon wieder weiter. Ob der Hausmeister sein Gehalt mit dem Verkauf von geheimen Informationen aufbesserte? Zumindest wusste er von den Anschuldigungen gegen ihren Mann. Und er wusste auch, wo sie wohnten. Uschi hatte seine Frau Rita vor ein paar Wochen zum Kaffee eingeladen und er hatte sie abgeholt. Ihr Gartenhäuschen war selten abgeschlossen. Um diese Jahreszeit, im Spätsommer trugen sie ständig ihren Grill rein und raus, holten die Auflagen oder brauchten den Sonnenschirm. Erst zum Ende der Saison wurde alles ordentlich verstaut und gegen unliebsame Besucher gesichert. Um zu dem Häuschen zu gelangte, brauchte man nicht durch ihre Wohnung oder durch die Nachbargärten schleichen. Man konnte einfach das Törchen auf der Rückseite benutzen, das von einer dichten Hecke eingerahmt wurde. Sicher war der Täter unbemerkt im Schutz der Nacht hinüber gehuscht, um dann bei ihnen die Mordwaffe zu deponieren.
Eine viertel Stunde später verließ Wilfried Beerhues mit der Plastiktüte in der Hand das Haus. Er war noch nicht am Carport angelangt, als plötzlich ein Streifenwagen vor ihrem Haus stoppte.
Einer der zwei Beamten in Uniform sprach ihn an: „Herr Beerhues? Der Kommissar möchte Sie sprechen. Wenn Sie bitte mit uns kommen würden?“
Uschi sah vom Spülen hoch. Selbst vom Küchenfenster aus konnte sie sehen, wie ihr Mann blass wurde. Mussten die ausgerechnet jetzt kommen, dachte sie entsetzt. Sie warf das Geschirrtuch, das sie in der Hand hielt, achtlos zur Seite und hastete zu ihm. Die Polizei holte doch nur Verdächtige ab. Zeugen hätte man sicher eher zu Hause befragt.
Bevor einer der Beamten widersprechen konnte, schwang sie sich auf die Rückbank und erklärte bestimmt: „Ich komme auch mit.“
Als sie gemeinsam zehn Minuten später dem Kommissar Weinrich auf der Wache in dem kleinen Büro gegenüber saßen, hatte einer der Polizisten Wilfried die Plastiktüte mit dem Hammer abgenommen.
„Der Hammer war in Ihrem Gartenhaus?“, fragte Weinrich.
„Mein Mann hat ihn dort gefunden, nur gefunden“, beeilte sich Uschi. „Wir wollten ihn sowieso zur Polizei bringen.“
„Aha.“
War das sein einziger Kommentar? dachte Uschi. Also glaubte er ihnen kein Wort.
„Wir werden ihn untersuchen. Dann zeigt sich, ob es sich hierbei um die Tatwaffe handelt.“
„Ich habe ihn angefasst“, erklärte Wilfried.
Der Kommissar musterte ihn genauer. „Herr Beerhues, Sie arbeiten auch bei der Firma Strunz Food. In der Produktion, richtig?“ Eine Antwort wartete er nicht ab, sondern fuhr gleich fort: „ Es haben sich da Verdachtsmomente gegen Sie ergeben. Deshalb wollte ich Sie heute noch sprechen.“
Dann wandte er sich an Uschi. „Frau Beerhues, ich möchte Sie bitten, draußen zu warten.“
Was hatte das jetzt zu bedeuten? fragte sie sich. Verdächtigte der Kerl immer noch sie? Zusammen mit ihrem Mann? Wie selbstgerecht er hinter seinem Schreibtisch saß. Es musste prima in seine Theorie passen, dass der Hammer auf ihrem Grundstück gelegen hatte. Sicher unterstellte er ihnen, ihn dort versteckt zu haben. Eingeschnappt verließ sie das Büro.
„Herr Beerhues, ich will ehrlich sein“, begann Kommissar Weinrich das Gespräch unter vier Augen. „Ich weiß, dass man Sie verdächtigt, geheime Informationen weitergegeben zu haben. Unser Techniker hat einen Trojaner entdeckt, der zu Ihrem PC in der Produktion führt. Was können Sie uns dazu sagen?“
„Ich? Nichts. Ich weiß von keinem Trojaner. Ich wusste bis vor einer Stunde nicht mal davon, dass es diese Industriespionage gibt.“
„Herr, Beerhues, es handelt sich dabei nicht um eine E-Mail, deren Anhang Sie versehentlich geöffnet haben. Es wurde ein Programm direkt auf Ihren PC geladen.“
„Wie schon gesagt, ich kann Ihnen dazu nichts sagen.“
„Dann waren es auch nicht Sie, der Informationen verkauft oder weitergeleitet hat?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Und Jens Holtmann hat Sie auch nicht dessen beschuldigt?“
„Nein. Über so etwas haben wir nie gesprochen.“
„Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?“
Wilfried überlegte kurz. „Das muss Anfang der Woche gewesen sein. Ich weiß nicht mehr genau.“ Diesen vielen Fragen machten ihn langsam nervös.
„Sind Sie mit ihm am Donnerstag im Keller gewesen?“
„Nein.“
„Wo waren Sie am Donnerstag zwischen 14.30 Uhr und 15.30 Uhr, Herr Beerhues?“
Das war die Frage nach seinem Alibi. Soweit war es schon gekommen, dachte Wilfried und sein Magen verkrampfte sich. „Ich muss in meinem Büro gewesen sein.“
„Das ist in der Produktionshalle?“
Wilfried nickte.
„Gibt es Zeugen dafür?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich bin ja nicht alleine in der Halle.“
„Herr Beerhues, wusste Ihre Frau von den Anschuldigungen von Holtmann gegen Sie?“ Weinrich blickte ihm direkt in die Augen.
Unruhig fuhr sich Wilfried mit der Rechten über seine Haare. „Nein. Ich habe doch auch erst heute davon gehört.“
„Von wem?“
„Jemand aus der Verwaltung hat mich angerufen. Zu Hause.“
„Wer?“ Angespannt starrte ihn der Kommissar an.
Wilfried schluckte. Dann sagte er: „Fiedler. Patrik Fiedler.“ Der junge Mann war ihm sehr sympathisch. Immer, wenn es irgendwo Probleme gab, informierte er ihn unverzüglich. Das hatte ihn schon so manche Schwierigkeit in der Produktion ausräumen lassen.
„Wir werden das überprüfen. Sie können dann gehen. Ein Kollege wird noch Ihre Fingerabdrücke nehmen.“
Erleichtert erhob sich Wilfried. Aber an der Tür drehte er sich noch mal um. „Hören Sie, ich habe mit dem Mord nichts zu tun. Und meine Frau auch nicht.“
„Wir werden sehen“, meinte Weinrich, ohne aufzusehen. Er hatte sich schon wieder seinen Akten zugewandt.
Kommissar Jürgen Weinrich hätte am liebsten schon längst Feierabend gemacht, anstatt ein paar neue Überstunden anzuhäufen. Aber dann hatte am späten Nachmittag sein Kollege Andy Recker ihm von einem Hackerangriff auf das System der Firma Strunz Food berichtet. Weinrich musste der neuen Spur nachgehen und hatte sofort mit Frau Strunz gesprochen. Immerhin war das auch ein mögliches Motiv für die Ermordung ihres IT-Mannes. Die gute Frau schien allerdings nicht überrascht zu sein. Sie gab sogar zu, mit Jens Holtmann darüber gesprochen zu haben. Schon am Mittwochabend. Sie vereinbarten vorerst Stillschweigen und er wollte der Angelegenheit auf den Grund gehen. Nur, woher wusste Patrik Fiedler von dem Trojaner auf Beerhues Rechner? Sonst hätte er ihn wohl kaum informieren können. Langsam wurde hier alles ein wenig komplizierter.
Er schickte zwei seiner Leute zu dem Angestellten und hoffte inständig, dass sie etwas Licht in die Sache bringen konnten. Seine Familie musste leider noch etwas auf ihn verzichten, dachte Weinrich mürrisch. Zumindest waren mittlerweile die Ergebnisse der Obduktion da. Der Gerichtsmediziner hatte die Todeszeit von Holtmann auf eine Stunde eingrenzen können. Der Schlag mit einem Hammer, wie er vermutete, war tödlich gewesen. Er zertrümmert sein Schläfenbein, infolge dessen er an Hirnschäden innerhalb von Minuten starb. Holtmann hatte kurz vor seinem Tod noch Geschlechtsverkehr gehabt, stand zum Abschluss in dem Bericht. Also hatte er doch die Besenkammer für ein Schäferstündchen aufgesucht.
Weinrich nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Wie viel er von dem Zeug heute schon in sich hinein gekippt hatte, konnte er unmöglich sagen. Irgendwann nach der siebten Tasse hatte er aufgehört zu zählen. Heute Mittag hatte er Alina Strunz in ihrer Pause zu Holtmann befragt. Steif und fest hatte sie behauptet, sie seien nur Arbeitskollegen gewesen. Doch nach diesem Obduktionsbericht würde er sie um eine DNA-Probe bitten. Genauso, wie Mimi Doll und das hübschen Mädchen aus dem Lohnbüro.
In dem Serviceraum wimmelte es von Fingerabdrücken, von Alina Strunz, von Frau Beerhues und Herrn Doll. Ob auch welche von Herrn Beerhues dabei waren, würde sich noch zeigen. Wenigstens hatte ein Kollege in Berlin schon mit Sophie Beerhues sprechen können. Die junge Frau war tatsächlich mit Jens Holtmann liiert gewesen. Und ihre Mutter wusste davon, ganz sicher. Zur Tatzeit hielt sie sich allerdings in Berlin auf. Dafür gab es reichlich Zeugen. Das entlastete in seinen Augen jedoch nicht Ursula und Wilfried Beerhues. Schon gar nicht, wenn man jetzt die Anschuldigungen gegen den Mann und den Fund des Hammers hinzu zählte. Oder alles Zufälle? Es gab keine Zufälle, hatte sein Mentor immer gesagt. Natürlich war ihm klar, wie schnell ein Computer manipuliert werden konnte. Und seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass Herr Beerhues eigentlich nicht der Typ war, der seinen Arbeitgeber hinterging.
Ein Seufzer entfuhr ihm, als er an Frau Beerhues dachte. Wie aufgeplustert sie sich heute vor ihren Mann gestellt hatte. Wenn einer von beiden den Mord begangen hatte, dann sicher eher sie als er. Diese frustrierte Putze verteidigte ihre Familie gegen alles Übel der Welt. Nur, wie weit ging sie dafür? Holtmann hatte ihre Tochter abserviert und ihren Mann eventuell bedrängt. Die Frau hatte noch einen Sohn Leon. War der auch mit Holtmann aneinandergeraten? Der junge Mann lebte und studierte in Münster. Eigentlich hätte er da auch zu Hause wohnen können. Dann überlegte Weinrich, dass Leon vielleicht die Chance genutzt hatte, um seiner Mutter zu entkommen. Er konnte das gut verstehen. Er hätte es auch getan. Müde rieb er sich die Stirn. Morgen, bevor er hier her fuhr, würde er ihn aufsuchen. Wer weiß, was für Geheimnisse Frau Beerhues noch vor ihm verbarg?
Auf der Wache geleitete sie ein junger Beamte in einen Raum mit mehreren Schreibtischen. Uschi schaute sich neugierig um und versuchte, die Stimmung aufzunehmen. Für ihren Roman konnte das äußerst nützlich sein. Emsig waren Kollegen bei der Arbeit in Akten vertieft, auf den Bildschirm ihres PCs fixiert oder telefonierten. Hier war Uschi ganz nah an der spannenden Polizeiarbeit. Aufgeregt setzte sie sich auf den Stuhl, den ihr der Polizist zuwies.
Er ging mit ihr noch mal ihre Aussage durch, wobei er zügig mitschrieb. „Sie haben nach dem Fund der Leiche nichts angefasst?“, fragte er dann unnötig.
„Nein. Ich habe den Raum auch nicht mehr betreten.“
„Benutzen Sie die Werkzeuge aus der Kiste?“
„Nein. Die gehören dem Hausmeister Herrn Doll.“
„Gut“, meinte er und beendete sein Tippen. Ein Drucker surrte in einiger Entfernung. Der Beamte holte den Ausdruck und legte ihn ihr vor. „Bitte unterschreiben Sie hier.“
Sie tat, wie er anordnete.
„Warten Sie bitte noch einen Moment. Hauptkommissar Weinrich möchte Sie noch mal sprechen.“
Der junge Polizist verließ den Raum und marschierte mit dem Schriftstück ein Büro weiter.
Sie sah, wie er darin verschwand. Als er kurz darauf wieder auftauchte, bat er Uschi hinein zu gehen.
Weinrich saß hinter einem voll bepackten Schreibtisch, Uschis Aussage vor sich. Sie war zum Allerheiligsten vorgedrungen, dachte sie bei sich. Zu gerne hätte sie einen Blick in die vielen Berichte geworfen, um dann mit dem Kommissar die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung zu besprechen. Sie könnte ihm sicherlich noch den einen oder anderen Hinweis geben. Verstohlen musterte sie den Ehering an Weinrichs rechter Hand. So würde sie ihren Kommissar auch schildern, mit einer Familie im Hintergrund, die ihn für seine tägliche Arbeit im Sumpf des Verbrechens stärkte. Ein zufriedenes Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. Ob er auch Nichtraucher war? Unauffällig schnupperte sie in seine Richtung. Tabakmief konnte sie nicht ausmachen. Und sie hatte gewiss eine feine Nase dafür.
„Wir brauchen noch Ihre Fingerabdrücke“, begann er das Gespräch mit seiner angenehmen, dunkeln Stimme, nachdem sie sich ihm gegenüber gesetzt hatte.
Fingerabdrücke? Damit hatte Uschi nicht gerechnet. Es brachte sie zurück in die Realität.
Als er ihren erstaunten Blick bemerkte, fügte er hinzu: „Zum Vergleich und Ausschluss.“ Er räusperte sich. „Dieser Serviceraum ist normalerweise abgeschlossen?“
Uschi nickte.
„Und Sie haben einen Schlüssel dazu. Wie war Ihre Beziehung zu Jens Holtmann?“
„Meine Beziehung? Ich hatte nicht viel mit ihm zu tun.“
„Aber er wohnte doch in Ihrer Nachbarschaft?“
„Ja.“
„Und Sie haben mit seiner Freundin gesprochen. Ist das richtig?“
Das wusste er also auch schon, ging es ihr durch den Kopf. Na klar, er musste mit ihr als Freundin sprechen. Nur konnte sie nicht abschätzen, ob ihn ihr Vorstoß ärgerte oder nicht. „Nun ja. Ich habe ihr nur gesagt, dass Holtmann tot ist.“
„Dann hatten Sie auch privat Kontakt zu ihm?“
„Nur der übliche Nachbarschaftskram. Er hatte ja ganz andere Interessen, als meine Altersgruppe.“
„Was denn zum Beispiel?“
Worauf wollte der Mann hinaus? überlegte Uschi. Sein Gesicht verriet ihr nichts.
„Schnelle Autos und … und Frauen. Mich würde es nicht wundern, wenn eine seiner Verflossenen hinter dem Verbrechen stecken würde.“ Vielleicht war es gut, so direkt zu sein.
„Sie können sich darauf verlassen, dass wir in alle Richtungen ermitteln“, erklärte er gelassen. „Haben Sie es Holtmann übel genommen, dass er so viele Freundinnen hatte?“
„Nein. Es geht mich ja auch nichts an.“ Uschi war verärgert. Verdächtigte der Kommissar jetzt sie? Das Bisschen Sympathie, das sie für ihn hegte, war plötzlich verschwunden. „Und bevor Sie weiter fragen: ich war es nicht!“, empörte sie sich lautstark.
„Wie gesagt, wir müssen alle Möglichkeiten überprüfen. Wo waren Sie gestern zwischen 14 und 16 Uhr?“
Besaß der Mann wirklich die Frechheit, sie so etwas zu fragen? „Zu Hause“, antwortete sie grimmig.
„Gibt es Zeugen dafür?“
„Nein, ich war alleine!“
Unbeeindruckt stellte Weinrich seine nächste Frage: „Und sonst haben Sie niemanden in der Firma gesehen?“ Er blickte dabei auf ihre schriftliche Aussage.
„Doch.“
Überraschte sah er auf.
„Frau Strunz kam mir entgegen, als ich das Bürogebäude betrat.“
„Davon haben Sie gestern nichts gesagt.“
„Es war nichts Ungewöhnliches. Sie ist oft noch in ihrem Büro, wenn ich zur Arbeit komme.“
„Haben Sie sonst noch jemanden gesehen?“
„Nein. Aber ich denke, dass der Hausmeister auch noch da war. So schnell hätte der gar nicht von zu Hause kommen können, um ihre Kollegen rein zu lassen.“
Das schien Weinrich nicht sonderlich zu interessieren. Sicher hatte er längst mit Herrn Doll gesprochen.
Abrupt wechselte er das Thema. „Sie haben eine Tochter, Frau Beerhues.“
Diesmal war es Uschi, die ihn überrascht ansah. „Ja. Warum?“
„Sie ist Vierundzwanzig, wenn ich richtig informiert bin. Ist sie auch eine Verflossene von Herrn Holtmann? Ich meine, der Mann wohnte in Ihrer Nachbarschaft. Da wäre es nur natürlich, dass sich die beiden begegnet sind.“
Jetzt wurde es Uschi zu bunt. Was dachte sich dieser aufgeblasene Kommissar eigentlich? „Meine Tochter studiert in Berlin und war schon seit Wochen nicht mehr hier“, erklärte sie ihm frostig.
„Das beantwortet nicht meine Frage“, kam es ebenso kühl zurück.
„Wenn sie mit ihm liiert war, dann muss das sehr kurz gewesen sein. Ich weiß davon nichts.“
„Oder geben Sie nur vor, nichts davon zu wissen? Sie haben Zugang zu dem Raum, Sie haben kein Alibi und ein mögliches Motiv haben Sie auch.“
Entrüstet sprang Uschi von ihrem Stuhl auf. „Das ist doch alles an den Haaren herbei gezogen! Ich habe den Mord gemeldet. Wenn ich den Kerl umgebracht hätte, hätten Sie die Leiche nicht so schnell gefunden!“
Weinrich zog eine Braue hoch. „Wie meinen Sie das jetzt?“
„Na ja. Man liest doch immer wieder, dass eine Beweisführung schwierig ist, wenn es keine Leiche gibt. Oder so.“ Verunsichert klammerte sie sich an ihrer Handtasche fest. Dieser Kommissar regte sie auf. Er war auf dem Holzweg, wenn er sie verdächtigte.
„Wie würden Sie denn eine Leiche verschwinden lassen?“, hakte er nach.
„Irgendwie. Ich weiß nicht. Vielleicht vergraben?“ Redete sie gerade um Kopf und Kragen? „Ich möchte jetzt gehen“, sagte sie mit Nachdruck, bevor es noch schlimmer wurde.
„Können Sie, wenn wir Ihre Fingerabdrücke haben. Ein Kollege wird sich darum kümmern.“ Mit der rechten Hand wies er zur Tür. „Bitte.“ Dann wandte er sich in aller Ruhe seinen Akten zu.
In Uschi brodelte es. Dieses Gespräch war gar nicht so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Anschuldigungen des Kommissars trafen sie an einem wunden Punkt. Zu gut erinnerte sie sich an den letzten März. Ihre Tochter Sophie war frisch verliebt durchs Haus getanzt, nachdem sie von einer Karnevalsfeier zurück kam. Immer wieder hatte sie von einem Jens geschwärmt, in den sie hoffnungslos verknallt war. Uschi war schnell klar geworden, dass es sich dabei um Holtmann handeln musste. Ihre Warnung hatte ihre Tochter in den Wind geschlagen, natürlich. Seit wann hörten Kinder auf solche Ratschläge ihrer Eltern? Das böse Erwachen folgte nur drei Wochen später, als ihr Jens plötzlich eine neue Flamme an seiner Seite hatte. Danach kamen harte Zeiten des Liebeskummers und des Herzwehs. Wenn sie nur an die vielen Papiertücher dachte, die Sophie verbraucht hatte. Diese Unmengen. Aber ihre Tochter hatte das durchgestanden und war sogar gestärkt daraus hervorgegangen. So war das eben mit der Liebe. Seitdem suchte sie sich ihre Freunde sorgfältiger aus. Den Namen Holtmann hatte Sophie kein einziges Mal erwähnt. Wenn Uschi ihn damals in die Finger gekriegt hätte, hätte sie ihm ordentlich die Leviten gelesen. Damals. Das war jetzt beinahe ein halbes Jahr her und fast schon wieder vergessen. Und ganz sicher kein Grund für einen Mord.
Kommissar Jürgen Weinrich saß an seinem Schreibtisch in dem Büro, dass man ihm zugeteilt hatte. Aufmerksam ging er die ersten Berichte der KTU durch. Die Waffe war nicht unter den Werkzeugen, die sie aus der Kiste mitgenommen hatten. Das hatte er erwartet. Der Gerichtsmediziner hatte von einem quadratischen Gegenstand aus Eisen gesprochen, drei mal drei Zentimeter, mit leicht abgerundeten Ecken. Mehr wollte der Mann zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Nicht mal, ob der Schlag tödlich war. Das genaue Ergebnis der Obduktion stand noch aus. Der Gerichtsmediziner in Münster war für seine Gründlichkeit bekannt. Aber so etwas dauerte immer.
Seufzend nahm sich Weinrich die Berichte über die Mitarbeiter der Firma Strunz Food vor. Der Hausmeister Herr Doll hatte als Alibi angegeben, zur Tatzeit an der Produktionshalle gewesen zu sein und dort Unkraut vernichtet zu haben. Es gab allerdings keine Zeugen für die gesamten zwei Stunden. Der Mann hätte seine Arbeit jederzeit kurz unterbrechen können, ohne dass es aufgefallen wäre. Die Chefin, Frau Strunz hatte ihren Angaben nach den ganzen Nachmittag in ihrem Büro zugebracht und sich mit wichtigen Unterlagen beschäftigt. Auch hierfür gab es niemanden, der das für den Tatzeitraum lückenlos bestätigen konnte. Selbst Alina Strunz konnte er nicht ausschließen. Sie wäre zwischen 14 und 16 Uhr fleißig bei der Arbeit in ihrem Büro gewesen, hatte sie erklärt. Den Keller hatte angeblich keiner von ihnen am Donnerstag aufgesucht.
Weinrich überlegte, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass noch jemand einen Schlüssel besaß. Einer, von dem niemand etwas wusste? Immerhin konnte man nicht so einfach eine Kopie bekommen. Es handelte sich um einen Sicherheitsschlüssel. Reproduktionen wurden nur mit passendem Zertifikat erstellt. Oder man machte sich das Ding selbst. Jens Holtmann hatte keinen bei sich. Zudem drängte sich Weinrich die Frage auf, was der dort eigentlich gewollt hatte. Mit seiner Arbeit konnte das schwerlich zu tun haben. Einen PC gab es im Serviceraum nicht und auch keinen Internetanschluss.
Dann breite sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, als ihm eine Idee kam. Samenraub in der Besenkammer, wie bei diesem Promi. Das wäre doch nichts Neues. Bloß, wer kam dafür in Frage? Von den Schlüsselinhabern zweifellos nur Alina Strunz. Die passte mit ihren sechsundzwanzig Jahren halbwegs ins Beuteschema von Jens Holtmann. Doch sie hatte um 14.30 Uhr eine Besprechung im Einkauf. Natürlich hätte sie vorher Holtmann im Affekt erschlagen können. Und dann ruhig zu einem Termin erscheinen? Wenn der Gerichtsmediziner wenigstens die Todeszeit etwas mehr eingegrenzt hätte. Aber auch dazu wollte sich der gute Mann erst nach der Obduktion äußern.
Dann dachte er wieder an diese Putzfrau Frau Beerhues. Unwillkürlich rollte er mit den Augen. Mann, die nervte vielleicht. Wie gut, dass er gelernt hatte, sich zu beherrschen. Auf jeden Fall würde er ihre Tochter Sophie von Kollegen in Berlin überprüfen lassen. Zur Sicherheit. Sie hätte sich unbemerkt von der Mutter die Schlüssel ausleihen können, um die Firma diskret zu betreten. Er selbst würde noch ein Gespräch mit Alina Strunz führen. Außerhalb der Firma und ohne ihre Mutter in der Nähe. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass die junge Frau in ihrer Gegenwart längst nicht alles erzählte.
Weinrich sah zur Uhr. Er hatte noch genügend Zeit für einen schnellen Kaffee und ein Brötchen. In einer Stunde hatte er eine Dienstbesprechung angesetzt, um sich über die Ermittlungen auszutauschen. Es war doch gut, dass man mit ihm einen erfahrenen Beamten hinzugezogen hatte. Für die Mordkommission arbeiteten unter seiner Leitung inzwischen sechs Leute. Vier Kollegen befragten die Mitarbeiter von Strunz Food, ob jemand Ärger mit Holtmann hatte, privat oder beruflich. Derweil mühte sich Andy Recker, ebenfalls aus Münster, mit den Unterlagen ab, die sie auf Holtmanns Computer gefunden hatten. Wenn es da Ungereimtheiten gab, würde er sie finden. Der Kollege war ein qualifizierter IT-Spezialist. Eine weitere Beamtin durchforstete Bank- und Versicherungsunterlagen von Jens Holtmann, bisher allerdings ohne besonders interessante Ergebnisse.
Auf dem Rückweg nach Hause hielt Uschi am Supermarkt, um noch einzukaufen. Wenn sie schon mal unterwegs war, dann wollte sie das gleich mit erledigen. Und es war eine gute Möglichkeit, um ihren Ärger über den ungalanten Kommissar zu zähmen. Einkaufen löste bei ihr Glücksgefühle aus.
Am Obststand packte sie reichlich frische Äpfel in ihren Einkaufswagen. Die mochte Wilfried so gern. Dann schlenderte sie weiter zur Süßwarenabteilung. Wenn sie hier ebenso großzügig zugriff, platze sie bald aus allen Nähten. Also beschränkte sie sich auf zwei Tafeln Nussschokolade, dafür vom Feinsten. Vor dem Regal mit den eingelegten Gurken traf sie auf Rita Doll, die Frau des Hausmeisters.
„Wie fürchterlich“, meinte sie. „Dieser Mord. Hat man Sie auch schon verhört? So wie meinen Klaus?“
Uschi machte ein betrübtes Gesicht. Wenigstens war sie nicht die Einzige. „Ja. Ich komme gerade von der Polizeiwache“, erklärte sie.
„Unsere Nichte Mimi haben sie auch schon in die Mangel genommen. Das arme Ding. Aber wie sollte sie denn auf das Firmengelände gekommen sein? Das ist doch unmöglich!“ Rita schüttelte verständnislos den Kopf.
Uschi hatte da allerdings schon eine Idee. Doch die würde sie Rita nicht auf die Nase binden. Stattdessen stimmte sie der Frau zu: „Das ist eine sehr unerfreuliche Situation.“
„Haben Sie denn eine Ahnung, wer das getan haben könnte?“, fragte Rita sie gerade heraus, wobei ihr neugieriger Blick auf Uschi ruhte.
„Ich? Ich weiß es nicht“, beeilte sich Uschi.
Dann ließ sie die Frau einfach stehen und schob schnell ihren Kolli weiter. Sie wollte sich nicht offen an irgendwelchen Spekulationen beteiligen. Erst recht nicht, wenn sie selbst zu den Verdächtigen gezählt wurde. Es war schon ärgerlich genug, dass man sie hier beim Shoppen überhaupt auf das Thema ansprach.
Nur zwei Regale weiter standen drei Frauen bei den Nudelwaren und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen. Als sie Uschi erblickten, verstummten sie plötzlich. Uschi ließ sich davon nicht beirren, lud sich ein Paket Spaghetti in den Einkaufswagen und spazierte weiter. Ein schwerer Duft von Flieder verfing sich in ihrer Nase. Das musste das schreckliche Parfüm von einer der Damen sein. Sie hatte ihnen gerade den Rücken gekehrt, da begann das Getratsche von Neuem. Die Leute redeten doch immer viel, über alles Mögliche, dachte sie. Und nun war eben der Mord das Gesprächsthema Nummer Eins. Das hatte sie doch schon auf dem Weg zur Wache beobachtet. Nur blöd, dass man sie nun scheinbar ganz oben auf die Liste ihrer Verdächtigen gesetzt hatte. So war das in einer Kleinstadt halt. Selbst der Kommissar behandelte sie dementsprechend. Wie lächerlich!
An der Kasse reihte sie sich in die Schlange der Wartenden ein. Musste das immer so voll sein? ärgerte sie sich. Dabei war die zweite Kasse unbesetzt. Typisch! Die Leute beäugten sie skeptisch, schwiegen zum Glück aber. Die Lust aufs Einkaufen war ihr endgültig vergangen. Uschi fühlte sich höchst unbehaglich. Sie hatte doch nichts getan! Nichts, außer die Leiche von Holtmann zu finden. Oder wusste jemand von ihnen von Sophies Verhältnis mit Jens? Machte sie das in ihren Augen zur Täterin? Oder weil sie ebenfalls in der Firma arbeitete?
Als sie endlich an der Reihe war, zahlte sie und verstaute den Einkauf in ihrem Beutel. Jetzt bloß nicht in Hektik verfallen! Das wäre für die Leute schon fast ein Schuldgeständnis. Vielleicht, beruhigte sie sich dann, vielleicht würde es nicht lange dauern und sie hätten jemand anderen im Visier ihrer Verdächtigungen. Aber eigentlich empfand Uschi es als Unverschämtheit, dass nach ihrem Mann zuerst der Kommissar und nun noch einige Bürger ihrer Heimatstadt ihr so etwas zutrauten. Kannte man sie wirklich so schlecht? Sie nahm sich vor, weitere Nachforschungen zu unternehmen. Wenn sie den wahren Mörder überführen konnte, dann dachten die bestimmt anders darüber.
Es war schon fast Mittag, als Uschi zu Hause ihre Einkäufe auspackte. Unentwegt kreisten ihre Gedanken um den Mord an Jens Holtmann. Wer hatte, einmal abgesehen von der Gelegenheit, einen Grund, ihn zu töten? Frau Brigitte Strunz hätte ihm einfach kündigen können, wenn sie ihn loswerden wollte. Die Frau leitete die Firma nun schon über zwanzig Jahre. Sie hatte ein kleines Unternehmen von ihrem Vater übernommen und zu diesem stolzen Werk ausgebaut. Alles alleine, ohne Ehemann an ihre Seite. Außerdem war die Frau bekannt dafür, sich stets unter Kontrolle zu haben. Eben sehr professionell ging sie Probleme rationell an. So ein Verbrechen im Affekt passte nicht zu ihr.
Dann war da noch Alina Strunz. Sie könnte Holtmanns Charme verfallen sein, wie so viel vor ihr. Obwohl sie bisher eher schlecht über ihn gesprochen hatte. Sie schien genau zu wissen, was für ein Schürzenjäger er war.
In der Firma gab es gut hundert Mitarbeiter. Holtmann könnte so ziemlich mit jedem aneinandergeraten sein. Ob die Polizei alle überprüfte? Das war sicher eine Menge Arbeit.
Uschi verstaute eine Tafel Schokolade im Küchenschrank. Von der Zweiten brach sie sich einen Riegel ab und schob ihn nachdenklich in den Mund. Und wenn doch Mimi Doll mit ihm im Keller war? Um sich in Ruhe auszusprechen? Den Schlüssel könnte sie von ihrem Onkel bekommen haben. Dann wäre sie auch durch den Nebeneingang unbemerkt vom Empfang aufs Gelände der Firma gelangt. Und im Serviceraum wollte sie ihn zur Versöhnung vernaschen. Ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht.
Um 16 Uhr fuhr Uschi zur Arbeit. Das war etwas früher, als gewöhnlich. Aber sie brannte darauf, mit Klaus Doll zu reden. Der Mann war ein grantiger Zeitgenosse. Sie hatte den Eindruck, als wenn er nicht gerne bei Strunz Food arbeitete. Jedenfalls hatte sie ihn noch nie lachen gesehen. Ob sich seine Mundwinkel überhaupt nach oben bewegen ließen? Trotzdem wollte sie ihn noch erwischen, bevor er Feierabend machte. Und auch sonst die Lauscher aufstellen, was der Bürofunk so hergab.
Der Empfang war noch besetzt. Uschi fragte den jungen Mann nach Herrn Doll. Doch der zuckte nur mit den Schultern. Sicher sei der irgendwo auf dem Gelände, meinte er. Dann fragte sie, ob gestern eine junge Frau nach Holtmann gefragt hätte. Der junge Mann schaute sie mit großen Augen an, um anschließend bedächtig mit dem Kopf zu schütteln.
Etwas enttäuscht schritt sie in den Keller. Den Serviceraum hatte die Polizei schon wieder frei gegeben. Auf dem Fußboden erinnerte ein kleiner Blutfleck an die Gewalttat von gestern. Auch die Werkzeugkiste des Hausmeisters wirkte ziemlich leer. Sonst war alles beim Alten.
Sie belud ihren Handwagen, schob ihn in den Fahrstuhl und fuhr in den ersten Stock. An Holtmanns Bürotür klebte ein Polizeisiegel. Was die Beamten dort wohl gesucht und gefunden hatten? kam es ihr in den Sinn. Dann zog sie weiter über den leeren Flur und startet ihre Putzrunde im Personalbüro.
Frau Potthoff saß an ihrem Schreibtisch und bearbeitete noch irgendwelche Akten am PC. Sie schaut nur kurz auf, als Uschi eintrat. Diese pflichtbewusste Frau hatte wohl nichts anderes als ihre Arbeit, dachte Uschi. Zumindest war sie nicht verheiratet, das wusste sie genau. Mit Unschuldsmine wischte Uschi über die Fensterbank, immer bemüht, den vielen Kleinkrams wieder an die richtige Stelle zurück zu setzten. Frau Potthoff beäugte sie dabei mit kritischem Blick. In der Ecke begann der Drucker laut zu rattern und spuckte mehrere Blätter aus. ‚Personalakte Jens Holtmann‘ las Uschi in der obersten Zeile. Gern hätte sie genauer hingesehen, aber Frau Potthoff war zu schnell. Sie fischte die Papiere aus dem Fach und steckte sie in einen großen Umschlag. Uschi wusste, dass in solchen Akten alle Weiterbildungen und Dienstreisen vermerkt wurden, ebenso wie Krankmeldungen und Abmahnungen. Ob Jens Holtmann jemals eine Abmahnung erhalten hatte? Sicher nicht. Sonst hätte sie das Bürogeflüster bestimmt mitbekommen.
Dass es jetzt, bei einem Mord, erstaunlich still war, wunderte Uschi. Sie hatte vermutet, dass auf dem Flur noch Leute schwatzend bei einem Kaffee zusammen ständen. Vielleicht hatten die Angestellten schon in der Mittagspause ausgiebig darüber diskutiert, überlegte sie. Heute war Freitag, da verabschiedete man sich gerne pünktlich ins Wochenende.
Uschi leerte noch den Mülleimer aus und schob dann ihren Putzwagen weiter zum Büro von Alina Strunz. Unter ihrer Leitung arbeiteten drei Personen, Patrik Fiedler, Dennis Güthues und Simon Scholz im Einkauf. Die Männer teilten sich das Büro nebenan. Ihre Aufgabe war es, die Produktion am Laufen zu halten. Sie bestellten Ersatzteile für die Maschinen, Büroartikel und Arbeitskleidung, ebenso die Zutaten für die Produkte. Strunz Food war bekannt für ihre hochwertigen Fertiggerichte, wie Nudeln mit Frikadellen in Jägersoße oder Reis mit Gemüse und Hackbällchen in Currysoße. Der Renner waren aber die Hackbällchen ‚Pikant‘ mit einem Hauch Chili und das Paprikageschnetzelte. Seit neustem gab es auch eine vegetarische Linie mit verschiedensten Spezialitäten. Wilfried hatte mal ein Paket Geschnetzeltes der Art Gyros davon mitgebracht. Das Sojafleisch hatte ihr nicht so recht gemundet. Sie vertrat sowieso den Standpunkt, entweder Vegetarier oder nicht. Niemand brauchte Ersatzwurst. Es gab doch genügend Gemüsearten, die ganz fabelhaft schmeckten. Allerdings hatte die Firma Strunz Food einen großen Absatzmarkt für ihre Kreationen aus Soja gefunden. Sie kamen kaum nach mit den Lieferungen. Für nächstes Jahr war der Anbau einer weiteren Produktionshalle geplant.
Beide Büros vom Einkauf waren verwaist. Schade. Uschi hatte keine Möglichkeit für eine kurze Plauderei mit Alina. Sie mochte die junge Frau mit den attraktiven braunen Augen und den dunkelblonden Locken.
Eifrig putzte Uschi durch die Räume, wischte über die Bildschirme der PCs und leerte die Mülleimer. Sie sammelte die Kaffeetassen ein und fütterte damit die Spülmaschine der kleinen Küche. Dann machte sie sich im Konferenzzimmer an die Arbeit. Auch hier standen etliche benutzte Tassen und Gläser neben Flaschen und einer Thermoskanne auf dem großen Tisch. Hatte es eine Besprechung zum Tod von Jens Holtmann gegeben? Oder hatten es sich Beamte der Polizei hier gemütlich gemacht? Vielleicht waren auch einige Mitarbeiter hierhin zu Gesprächen mit dem Kommissar bestellt worden, schätzte Uschi. Während sie noch grübelte, entdeckte sie durch die Glasfront zum Flur den Hausmeister, der gerade da entlang kam. Schnell sammelte sie das schmutzige Geschirr ein, um es in die Küche zu tragen. Ihr Zusammentreffen sollte rein zufällig aussehen. Mit dem Tablett in den Händen eilte sie auf den Flur. Aber Herr Doll schloss schon die Tür zum Büro der Chefin hinter sich. Mist. Sie hatte ihn verpasst. Egal, dachte sie. Sie würde abwarten. Wie in Zeitlupe sortierte sie die Tassen und Gläser in die Spülmaschine und schaltete sie ein. Danach wischte sie ausgiebig über die Anrichte und auch noch extra gründlich über die Schrankfronten. Wie lange brauchte der Mann denn nur?
Frau Potthoff kam aus ihrem Büro, ihre Handtasche im Arm. Im Vorbeigehen musterte sie sie so argwöhnisch, dass Uschi nichts anderes übrig blieb, als zurück in den Konferenzraum zu gehen. Mit langem Arm putzte sie die Kaffeeränder vom Tisch, immer den Blick zum Flur. Der Hausmeister musste doch jeden Moment vorbei kommen. Irgendetwas stoppte unversehens ihre Hand mit dem blauen Mikrofaserlappen. Als sie zum Tisch sah, wackelte eine Wasserflasche schon gefährlich. Sie stützte um und rollte polternd vom Tisch. Klirrend zerschellte sie auf dem Teppichboden. Verdammt, auch das noch. Uschi holte den Aufnehmer vom Putzwagen, fischte die Glasscherben aus der Pfütze und entsorgte sie im nächsten Mülleimer. Dabei stieß sie auf einen zerknüllten Zettel. Das handschriftliche Datum von gestern, Donnerstag erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie zog das Papier vorsichtig auseinander. Mit Mühe konnte sie die Buchstaben W. B. entziffern.
„Alles in Ordnung?“ ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Erschrocken drehte sie sich um. Herr Doll stand in der Tür. Der große und kräftige Mann starrte zu ihr rüber.
„Ja, danke.“, stammelte Uschi. „War nur ein kleines Missgeschick.“
„Wir sind wohl alle etwas durcheinander. So ein Mord passiert hier ja nicht jeden Tag.“
„Nein, sicher nicht.“ Ein leiser Seufzer begleitet ihre Aussage. „Ihre Nichte Mimi ist auch betroffen?“, fragte sie arglos.
Sofort verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck. „Man soll ja nicht schlecht über Tote reden, aber Holtmann war ein ziemlicher Mistkerl. Mimi so einfach abzuservieren für eine andere. Das ist nicht gerade nett. Aber nur, weil der Lümmel mit ihr Schluss gemacht hat, hat sie ihn nicht gleich umgebracht.“
„Aber sie hat doch sicher ein Alibi?“
„Leider nein, kein Stichhaltiges. Gestern war ihr freier Tag. Sie war alleine zu Hause.“
Was für eine Überraschung, dachte Uschi. „Sie wäre doch nie unbemerkt hier ins Gebäude gekommen.“
„Sicher nicht.“
„Es sei denn …“
„Was?“ hakte der Hausmeister nach.
„Es sei denn, sie hat sich Ihre Schlüssel ausgeliehen.“ Gespannt erwartet sie seine Antwort.
Herr Doll nahm ihr diese Frage jedoch übel. „Wie bitte?“ schnauzte er sie an.
Sofort versuchte Uschi ihn zu beruhigen: „Das hätten Sie doch sicher gemerkt? Oder?“
Doch er regte sich nicht ab. „Vielleicht war es auch Ihr Mann?“, ging er zum Angriff über. „Der könnte sich doch auch Ihren Schlüssel ausleihen! Sie lassen sie doch sowieso überall liegen! Außerdem habe ich gehört, dass er mit Holtmann ein Problem gehabt haben soll.“
„Was für ein Problem?“ Verblüfft sah Uschi ihn an. Wilfried hatte nie etwas von Problemen mit Holtmann erwähnt.
„Genaues weiß ich da auch nicht. Fragen Sie doch einfach Ihren Mann!“ Grußlos stapfte der Hausmeister davon.
Krampfhaft überlegte Uschi, ob seine Theorie stimmen könnte. Wilfrieds Schlüssel reichten, um aufs Firmengelände und in die Produktionshalle zu gelangen, aber nicht in das Verwaltungsgebäude oder gar den Serviceraum. Natürlich hätte er sich jederzeit ihre Schlüssel nehmen können. Er hätte sie nur vor seinem Feierabend zurück legen müssen. Doch dafür genügte schon eine kurze Arbeitspause. Ihr Wilfried? dachte sie besorgt. Ihr friedfertiger Wilfried sollte Holtmann erschlagen haben? Ermittelte Kommissar Weinrich schon gegen ihn? Wenn Doll von Problemen gehört hatte, dann sicher auch Weinrich.
Uschi hatte es plötzlich sehr eilig, ihre Arbeit zu erledigen. Eine Stunde später wischte sie schon das Treppenhaus und verstaute kurz darauf ihre Arbeitsgeräte im Serviceraum. In Gedanken sah sie wieder Holtmanns Leiche vor sich am Boden liegen. War ihr Mann wirklich zu einer solchen Grausamkeit fähig? Nein, entschied sie sich. Das konnte nicht sein. Es musste eine andere Lösung geben. Vielleicht hatte Doll nur eine Behauptung aufgestellt, um von sich selbst abzulenken. Er hatte sehr verärgert geklungen, als er über Holtmann sprach. Wer weiß, eventuell gab es da noch mehr Streitpunkte als Mimi. Und warum sollte Wilfried mit Holtmann hier in den Keller gehen? Beide hatten hier nichts verloren. Doll allerdings schon. Er bewahrte Werkzeug im Serviceraum auf. Entschlossen schnappte sich Uschi ihre Tasche, sperrte die Tür ab und machte sich auf den Heimweg. Ein klärendes Gespräch mit Wilfried war jetzt dringend von Nöten.
Als Uschi ihren Polo im Carport parkte, hoffte sie, dass ihr Mann auch zu Hause war. Zumindest hatte sie keine Nachricht von seiner Verhaftung auf ihrem Handy erhalten. Nervös eilte sie ins Haus.
„Wilfried?“, rief sie. Doch niemand antwortet.
„Wilfried!“ versuchte sie es lauter, während sie durch den Flur lief.
In der Küche war er nicht, auch nicht im Wohnzimmer. Hatte ihn der Kommissar doch zur Wache bestellt? Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung draußen vor dem Terrassenfenster wahr. Uschi fiel ein Stein vom Herzen, als sie Wilfrieds Schopf erblickte. Gegen seine Gewohnheit saß er im Gartenstuhl, fast regungslos. Dabei lud das trübe Wetter gar nicht dazu ein. Irritiert trat sie zu ihm auf die Terrasse.
„Wilfried?“, sprach sie ihn noch mal an.
Langsam wandte er ihr sein Gesicht zu. „Ich war in unserem Gartenhäuschen.“ erklärte er dumpf wie in Trance.
„Ja. Und?“
„Da, wo wir unsere Sommermöbel aufbewahren. Und den Sonnenschirm. Und den Grill.“
„Ja, ich weiß, was wir dort alles unterstellen.“ Eine unbestimmte Ungeduld hatte Uschi erfasst.
„Ich wollte nach unserem Grill sehen. Dabei habe ich das da gefunden.“ Wilfried deutete auf den Boden zu seinen Füßen.
Dort lag ein handelsüblicher Hammer mit einem Holzstiel. Es dauerte einen Moment, bis Uschi begriff. An dem dunklen Metall klebte etwas Rotbraunes und auch am Stiel waren Spritzer davon sichtbar. Das musste Blut sein, dachte sie entsetzt. Holtmanns Blut? Ein Hammer wäre jedenfalls nicht ungewöhnlich für eine Werkzeugkiste, wie die des Hausmeisters. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte da immer genauso einer gelegen. Nur nicht am Donnerstagabend. Aber wie kam das Objekt in ihr Gartenhäuschen? Hatte doch Wilfried zugeschlagen? Sie musste Gewissheit haben, so oder so. „Hast du …“, setzte sie an.
Doch ihr Mann unterbrach sie barsch: „Hörst du nicht zu? Ich habe das Ding gefunden!“
„Hast du schon die Polizei informiert?“, änderte sie ihren ersten Gedanken.
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Ich wollte erst wissen, ob du vielleicht …?“
„Ich?“, brauste sie auf. Hielt sie wirklich jeder für schuldig?
„Ich weiß nicht, was du am Donnerstagnachmittag gemacht hast oder wo du warst“, meinte er ernst. „Und seit Wochen redest du vom Morden. Was soll ich da denken?“
Uschi rollte mit den Augen. Das konnte doch nicht wahr sein. Hatte ihr Mann so wenig Vertrauen zu ihr? „Ich habe es dir gestern schon gesagt. Und heute wiederhole ich es für dich: ich habe nichts damit zu tun!“ Es fehlte nicht mehr viel und sie hätte zur Bekräftigung mit dem Fuß aufgestampft.
„Sicher. Und wie kommt dieser…“ Verstört sah er zum Werkzeug zu seinen Füßen. „… dieser Hammer auf unser Grundstück?“
„Keine Ahnung. Vielleicht hast du ihn mitgebracht?“, giftete sie ihn an. Wilfrieds Anschuldigung stießen ihr sauer auf.
„Nein. Warum sollte ich das tun?“
Das Erstaunen in seinem Blick konnte sie nicht besänftigen. „Ich habe gehört, dass du Probleme mit Holtmann gehabt haben sollst“, sagte sie schnippisch.
„Was für Probleme?“ Sein Erstaunen wuchs zu einer Verwunderung. „Ach, das meinst du“, erinnerte er sich plötzlich.
„Was?“
„Er hat mich beschuldigt, ich hätte illegal Firmengeheimnisse kopiert.“
„Was für Firmengeheimnisse?“
„Rezepte und Verfahrensweisen, alles von unserer vegetarischen Linie.“
„Du meinst Industriespionage?“ Die Sache wurde ja immer aufregender, dachte Uschi.
Wilfried nickte müde.
„So etwas würdest du doch nicht tun!“, sagte sie mit tiefer Überzeugung.
„Immerhin hast du mir gerade noch einen Mord zugetraut.“ Er klang beleidigt, was sie schlicht überhörte.
„Wie kommt er darauf?“
„Ich weiß es nicht. Mit mir hat er nicht darüber gesprochen. Aber er muss es Frau Strunz berichtet haben.“
Uschi überlegte. Dann meinte sie: „Was ist so eine Information eigentlich wert?“
„Lässt sich schwer sagen. Es kommt ganz darauf an, wem man sie anbietet. Mehrere tausend Euro vielleicht.“
„Wie? Rezepte von dem scheußlichen Zeug? Das kann man gar nicht glauben.“ Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse und schüttelte den Kopf.
„Der Markt wächst und die Produkte sind heißbegehrt. Auch wenn du sie nicht magst“, verteidigte Wilfried seine Firma.
Das warf ein ganz neues Licht auf den Mord, spekulierte Uschi. Vielleicht war das Motiv nicht Eifersucht oder Leidenschaft, sondern es ging um Vertuschung. Dann gab es bestimmt noch jede Menge Verdächtige. Das stachelte ihren Ehrgeiz an.
„Und was machen wir jetzt mit diesem Ding?“, riss sie Wilfried aus ihren Gedanken.
„Zur Polizei bringen. Vielleicht sind da Spuren vom Mörder drauf.“
„Und meine Fingerabdrücke“, meinte er betreten.
„Besser, du bringst den Hammer zu ihnen, als wenn sie ihn bei uns finden. Das ist noch verdächtiger. Wenn Kommissar Weinrich dich für einen Verräter hält, bist du sowieso schon in seinem Visier.“
„Und wenn wir ihn zurück zur Firma bringen? Ich meine, ohne meine Abdrücke“, schlug er vorsichtig vor.
Uschi grübelte. Wenn man keine Verbindung zu diesem Mordwerkzeug zu ihnen herstellen konnte, ließ sich auch kein Verdacht erhärten. Vielleicht war die Idee gar nicht so blöd. „Ich mag diesen Kommissar nicht besonders. – Wo genau hast du ihn angefasst?“, fragte sie.
Wilfried zeigte auf eine Stelle am Holzstiel. Sie holte einen Putzlappen aus dem Haus und wischte den Stiel gründlich damit ab. Dann ergriff sie den Hammer mit einer Plastiktüte und stülpte anschließend die Tüte darüber. Genauso hatte sie es bei den Polizisten im Fernsehen gesehen. „Wir sollten ihn sofort wegbringen. Oder willst du warten, bis es dunkel ist?“
Unschlüssig saß Wilfried im Gartenstuhl. Er konnte sich einfach nicht entscheiden, was das Beste wäre. „Vielleicht hätten wir ihn doch zur Polizei bringen sollen.“
„Wir können ihn ja so hinlegen, dass die Beamten ihn ganz sicher finden.“
In Gedanken war Uschi schon wieder weiter. Ob der Hausmeister sein Gehalt mit dem Verkauf von geheimen Informationen aufbesserte? Zumindest wusste er von den Anschuldigungen gegen ihren Mann. Und er wusste auch, wo sie wohnten. Uschi hatte seine Frau Rita vor ein paar Wochen zum Kaffee eingeladen und er hatte sie abgeholt. Ihr Gartenhäuschen war selten abgeschlossen. Um diese Jahreszeit, im Spätsommer trugen sie ständig ihren Grill rein und raus, holten die Auflagen oder brauchten den Sonnenschirm. Erst zum Ende der Saison wurde alles ordentlich verstaut und gegen unliebsame Besucher gesichert. Um zu dem Häuschen zu gelangte, brauchte man nicht durch ihre Wohnung oder durch die Nachbargärten schleichen. Man konnte einfach das Törchen auf der Rückseite benutzen, das von einer dichten Hecke eingerahmt wurde. Sicher war der Täter unbemerkt im Schutz der Nacht hinüber gehuscht, um dann bei ihnen die Mordwaffe zu deponieren.
Eine viertel Stunde später verließ Wilfried Beerhues mit der Plastiktüte in der Hand das Haus. Er war noch nicht am Carport angelangt, als plötzlich ein Streifenwagen vor ihrem Haus stoppte.
Einer der zwei Beamten in Uniform sprach ihn an: „Herr Beerhues? Der Kommissar möchte Sie sprechen. Wenn Sie bitte mit uns kommen würden?“
Uschi sah vom Spülen hoch. Selbst vom Küchenfenster aus konnte sie sehen, wie ihr Mann blass wurde. Mussten die ausgerechnet jetzt kommen, dachte sie entsetzt. Sie warf das Geschirrtuch, das sie in der Hand hielt, achtlos zur Seite und hastete zu ihm. Die Polizei holte doch nur Verdächtige ab. Zeugen hätte man sicher eher zu Hause befragt.
Bevor einer der Beamten widersprechen konnte, schwang sie sich auf die Rückbank und erklärte bestimmt: „Ich komme auch mit.“
Als sie gemeinsam zehn Minuten später dem Kommissar Weinrich auf der Wache in dem kleinen Büro gegenüber saßen, hatte einer der Polizisten Wilfried die Plastiktüte mit dem Hammer abgenommen.
„Der Hammer war in Ihrem Gartenhaus?“, fragte Weinrich.
„Mein Mann hat ihn dort gefunden, nur gefunden“, beeilte sich Uschi. „Wir wollten ihn sowieso zur Polizei bringen.“
„Aha.“
War das sein einziger Kommentar? dachte Uschi. Also glaubte er ihnen kein Wort.
„Wir werden ihn untersuchen. Dann zeigt sich, ob es sich hierbei um die Tatwaffe handelt.“
„Ich habe ihn angefasst“, erklärte Wilfried.
Der Kommissar musterte ihn genauer. „Herr Beerhues, Sie arbeiten auch bei der Firma Strunz Food. In der Produktion, richtig?“ Eine Antwort wartete er nicht ab, sondern fuhr gleich fort: „ Es haben sich da Verdachtsmomente gegen Sie ergeben. Deshalb wollte ich Sie heute noch sprechen.“
Dann wandte er sich an Uschi. „Frau Beerhues, ich möchte Sie bitten, draußen zu warten.“
Was hatte das jetzt zu bedeuten? fragte sie sich. Verdächtigte der Kerl immer noch sie? Zusammen mit ihrem Mann? Wie selbstgerecht er hinter seinem Schreibtisch saß. Es musste prima in seine Theorie passen, dass der Hammer auf ihrem Grundstück gelegen hatte. Sicher unterstellte er ihnen, ihn dort versteckt zu haben. Eingeschnappt verließ sie das Büro.
„Herr Beerhues, ich will ehrlich sein“, begann Kommissar Weinrich das Gespräch unter vier Augen. „Ich weiß, dass man Sie verdächtigt, geheime Informationen weitergegeben zu haben. Unser Techniker hat einen Trojaner entdeckt, der zu Ihrem PC in der Produktion führt. Was können Sie uns dazu sagen?“
„Ich? Nichts. Ich weiß von keinem Trojaner. Ich wusste bis vor einer Stunde nicht mal davon, dass es diese Industriespionage gibt.“
„Herr, Beerhues, es handelt sich dabei nicht um eine E-Mail, deren Anhang Sie versehentlich geöffnet haben. Es wurde ein Programm direkt auf Ihren PC geladen.“
„Wie schon gesagt, ich kann Ihnen dazu nichts sagen.“
„Dann waren es auch nicht Sie, der Informationen verkauft oder weitergeleitet hat?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Und Jens Holtmann hat Sie auch nicht dessen beschuldigt?“
„Nein. Über so etwas haben wir nie gesprochen.“
„Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?“
Wilfried überlegte kurz. „Das muss Anfang der Woche gewesen sein. Ich weiß nicht mehr genau.“ Diesen vielen Fragen machten ihn langsam nervös.
„Sind Sie mit ihm am Donnerstag im Keller gewesen?“
„Nein.“
„Wo waren Sie am Donnerstag zwischen 14.30 Uhr und 15.30 Uhr, Herr Beerhues?“
Das war die Frage nach seinem Alibi. Soweit war es schon gekommen, dachte Wilfried und sein Magen verkrampfte sich. „Ich muss in meinem Büro gewesen sein.“
„Das ist in der Produktionshalle?“
Wilfried nickte.
„Gibt es Zeugen dafür?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich bin ja nicht alleine in der Halle.“
„Herr Beerhues, wusste Ihre Frau von den Anschuldigungen von Holtmann gegen Sie?“ Weinrich blickte ihm direkt in die Augen.
Unruhig fuhr sich Wilfried mit der Rechten über seine Haare. „Nein. Ich habe doch auch erst heute davon gehört.“
„Von wem?“
„Jemand aus der Verwaltung hat mich angerufen. Zu Hause.“
„Wer?“ Angespannt starrte ihn der Kommissar an.
Wilfried schluckte. Dann sagte er: „Fiedler. Patrik Fiedler.“ Der junge Mann war ihm sehr sympathisch. Immer, wenn es irgendwo Probleme gab, informierte er ihn unverzüglich. Das hatte ihn schon so manche Schwierigkeit in der Produktion ausräumen lassen.
„Wir werden das überprüfen. Sie können dann gehen. Ein Kollege wird noch Ihre Fingerabdrücke nehmen.“
Erleichtert erhob sich Wilfried. Aber an der Tür drehte er sich noch mal um. „Hören Sie, ich habe mit dem Mord nichts zu tun. Und meine Frau auch nicht.“
„Wir werden sehen“, meinte Weinrich, ohne aufzusehen. Er hatte sich schon wieder seinen Akten zugewandt.
Kommissar Jürgen Weinrich hätte am liebsten schon längst Feierabend gemacht, anstatt ein paar neue Überstunden anzuhäufen. Aber dann hatte am späten Nachmittag sein Kollege Andy Recker ihm von einem Hackerangriff auf das System der Firma Strunz Food berichtet. Weinrich musste der neuen Spur nachgehen und hatte sofort mit Frau Strunz gesprochen. Immerhin war das auch ein mögliches Motiv für die Ermordung ihres IT-Mannes. Die gute Frau schien allerdings nicht überrascht zu sein. Sie gab sogar zu, mit Jens Holtmann darüber gesprochen zu haben. Schon am Mittwochabend. Sie vereinbarten vorerst Stillschweigen und er wollte der Angelegenheit auf den Grund gehen. Nur, woher wusste Patrik Fiedler von dem Trojaner auf Beerhues Rechner? Sonst hätte er ihn wohl kaum informieren können. Langsam wurde hier alles ein wenig komplizierter.
Er schickte zwei seiner Leute zu dem Angestellten und hoffte inständig, dass sie etwas Licht in die Sache bringen konnten. Seine Familie musste leider noch etwas auf ihn verzichten, dachte Weinrich mürrisch. Zumindest waren mittlerweile die Ergebnisse der Obduktion da. Der Gerichtsmediziner hatte die Todeszeit von Holtmann auf eine Stunde eingrenzen können. Der Schlag mit einem Hammer, wie er vermutete, war tödlich gewesen. Er zertrümmert sein Schläfenbein, infolge dessen er an Hirnschäden innerhalb von Minuten starb. Holtmann hatte kurz vor seinem Tod noch Geschlechtsverkehr gehabt, stand zum Abschluss in dem Bericht. Also hatte er doch die Besenkammer für ein Schäferstündchen aufgesucht.
Weinrich nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Wie viel er von dem Zeug heute schon in sich hinein gekippt hatte, konnte er unmöglich sagen. Irgendwann nach der siebten Tasse hatte er aufgehört zu zählen. Heute Mittag hatte er Alina Strunz in ihrer Pause zu Holtmann befragt. Steif und fest hatte sie behauptet, sie seien nur Arbeitskollegen gewesen. Doch nach diesem Obduktionsbericht würde er sie um eine DNA-Probe bitten. Genauso, wie Mimi Doll und das hübschen Mädchen aus dem Lohnbüro.
In dem Serviceraum wimmelte es von Fingerabdrücken, von Alina Strunz, von Frau Beerhues und Herrn Doll. Ob auch welche von Herrn Beerhues dabei waren, würde sich noch zeigen. Wenigstens hatte ein Kollege in Berlin schon mit Sophie Beerhues sprechen können. Die junge Frau war tatsächlich mit Jens Holtmann liiert gewesen. Und ihre Mutter wusste davon, ganz sicher. Zur Tatzeit hielt sie sich allerdings in Berlin auf. Dafür gab es reichlich Zeugen. Das entlastete in seinen Augen jedoch nicht Ursula und Wilfried Beerhues. Schon gar nicht, wenn man jetzt die Anschuldigungen gegen den Mann und den Fund des Hammers hinzu zählte. Oder alles Zufälle? Es gab keine Zufälle, hatte sein Mentor immer gesagt. Natürlich war ihm klar, wie schnell ein Computer manipuliert werden konnte. Und seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass Herr Beerhues eigentlich nicht der Typ war, der seinen Arbeitgeber hinterging.
Ein Seufzer entfuhr ihm, als er an Frau Beerhues dachte. Wie aufgeplustert sie sich heute vor ihren Mann gestellt hatte. Wenn einer von beiden den Mord begangen hatte, dann sicher eher sie als er. Diese frustrierte Putze verteidigte ihre Familie gegen alles Übel der Welt. Nur, wie weit ging sie dafür? Holtmann hatte ihre Tochter abserviert und ihren Mann eventuell bedrängt. Die Frau hatte noch einen Sohn Leon. War der auch mit Holtmann aneinandergeraten? Der junge Mann lebte und studierte in Münster. Eigentlich hätte er da auch zu Hause wohnen können. Dann überlegte Weinrich, dass Leon vielleicht die Chance genutzt hatte, um seiner Mutter zu entkommen. Er konnte das gut verstehen. Er hätte es auch getan. Müde rieb er sich die Stirn. Morgen, bevor er hier her fuhr, würde er ihn aufsuchen. Wer weiß, was für Geheimnisse Frau Beerhues noch vor ihm verbarg?