Mörderisches Mutterherz, Teil 5

Baxi

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Auch auf der Polizeiwache ließ der Kommissar keine Zweifel darüber aufkommen, was er von Uschi dachte. Er übergab sie zwei uniformierten Kolleginnen, die sie nach Waffen abtasteten, ihr ihren Korb und Tasche samt Handy annahmen und sie dann in einen kleinen Raum schoben. Uschi setzte sich auf einen der drei Stühle, die um einen Tisch standen. Von der Decke strahlte helles Neonlicht, der Tisch war am Boden festgeschraubt. So sah also ein Verhörraum aus. Ein Spiegel an der Wand, durch den die Beamten sie beobachten konnten, fehlte allerdings. Dafür entdeckte sie zwei Kameras hoch oben an den Wänden.
Gleich würde Weinrich durch die Tür kommen, um sie in die Mangel zu nehmen, dachte Uschi sauer. Damit vergeudete er seine Zeit, während der Mörder immer noch frei draußen herumlief. Er hatte ihr einen Anwalt empfohlen. Aber sie brauchte keinen. Sie hatte nichts verbrochen. Viel wichtiger war für sie im Moment, wer sie gesehen hatte. Derjenige musste sich ebenfalls in der Nähe von Holtmann aufgehalten haben. Leider hatte sie niemanden bemerkt. Die Zeit verrann, in der Uschi ihre Gehirnzellen zermarterte, wer noch da gewesen sein könnte. Alle möglichen Personen tauchten in ihrer Vorstellung auf und versanken dann wieder. Bei Strunz Food arbeiteten fast hundert Leute, die meisten im Schichtdienst in der Produktion. Nur wenige kamen öfter ins Verwaltungsgebäude. Vielleicht hatte sie der junge Mann vom Empfang beobachtet, wie sie zurück schlich? Aber der konnte garantiert nicht um Ecken schauen.
Erst ganze zwei Stunden später ging die Tür auf und Weinrich trat ein. Hatte sie der Mann extra so lange warten lassen?
„Sind Sie sicher, dass Sie keinen Anwalt wollen?“, fragte er.
Uschi schüttelte nur den Kopf. „Ich muss nach Hause. Wilfried sorgt sich sicher schon.“
„Ihr Mann ist benachrichtigt worden. Sie können auch eine Pflichtverteidiger bekommen.“
„Ich brauche niemanden. Ich habe doch gedacht, Herr Doll wäre der Mörder. Deshalb bin ich zu ihm gefahren!“
„Vielleicht wollten Sie damit nur von sich ablenken?“
Was für ein verbohrter Blödmann, dachte Uschi. Der verdrehte alles.
„Was hat Holtmann zu Ihnen gesagt, dass Sie die Nerven verloren haben und nach dem Hammer gegriffen haben?“ Ernst blickte sie der Kommissar an.
So sehr sie sich auch gewünscht hatte, nah bei den Ermittlungen dabei zu sein, so sehr fühlte sie sich nun als Verdächtige im Verhörraum unwohl. Dieser dumme Beamte schätzte sie völlig falsch ein. Wenn sie nur wüsste, mit wem Holtmann im Keller gesprochen hatte. Es könnte sein Mörder gewesen sein. Aber sie hatte nur seine Stimme gehört.
„Ich möchte jetzt wissen, wer mich gesehen hat.“, verlangte sie selbstsicher. „Diese Person muss auch im Treppenhaus gewesen sein. Und käme damit als Mörder in Frage.“ Sie lehnte sich im Stuhl zurück.
Weinrich seufzte. „Sie können davon ausgehen, dass wir das bereits überprüft haben. – Also, was hat Holtmann gesagt? Hat er über Ihren Mann gesprochen? Dass er ihn benutzt hat für seinen Trojaner?“
„Holtmann war das?“, fragte sie überrascht.
„Tun Sie nicht so. Das wussten Sie doch schon längst.“
„Dann wäre ich doch nicht zu Herrn Doll gegangen!“
„Wir drehen uns im Kreis!“
Uschi überlegte. Wenn Holtmann der Spion war, dann wurde er nicht umgebracht, weil er jemanden auffliegen lassen wollte. Aber was war dann das Motiv? Doch Leidenschaft und Frauengeschichten?
„Zurück zu Holtmann. Was hat er gesagt, als Sie ihn im Keller hörten?“
„Irgendetwas über seine Arbeit. Über ein Programm, das einwandfrei lief.“
„Wissen Sie, mit wem er gesprochen hat?“
„Er hat telefoniert, denke ich.“ In seinem Gesicht konnte sie seine Zweifel erkennen.
„Er war alleine?“, hakte er nach.
Doch Uschi verfiel wieder ins Grübeln. War Holtmann wirklich alleine? Oder hatte er gar nicht telefoniert? Hatte sie das nur angenommen, weil sie niemanden sonst gehört hatte? „Und wenn Herr Doll bei ihm war?“, fragte sie arglos.
Weinrich stöhnte leise auf. „Nicht schon wieder. Was haben Sie eigentlich gegen den Mann?“
Sie zuckte nur die Schultern und schwieg lieber. Es war doch sowieso alles falsch, was sie sagte. Vielleicht wollte sich Doll ja auch für Mimi rächen, oder für irgendetwas anderes. Der Mann war maßlos brutal. Das hatte er erst heute wieder bewiesen.
Weinrich dagegen schien noch immer auf ein Geständnis von ihr zu warten. „Ich kann Sie auch über Nacht hier behalten. Sie bekommen ein hübsches, kleines Einzelzimmer mit Vollpension, wenn Sie wollen.“
Verbittert schaute sie ihn an. „Ich mochte Holtmann nicht. Das ist richtig. Er hat meiner Familie nur Ärger gemacht. Aber ich habe ihn nicht erschlagen! Ich habe am Donnerstag nicht mal mit ihn gesprochen.“
Entschlossen verschränkte sie ihre Arme vor der Brust und presste ihre Lippen fest zusammen. Mehr würde sie nicht dazu sagen. Das brachte einfach nichts. Wenn ihr Weinrich nicht glauben wollte, konnte sie das nicht ändern. Der Kommissar in ihrem Roman würde schlauer sein, nicht so ein starrköpfiger Hornochse wie dieser hier.
Der Polizist betrachtete sie sorgfältig. Dann klatschte er kurz in die Hände und erhob sich. „Gut“, meinte er. „Sie können gehen. Aber verreisen Sie nicht!“
„Ich war doch gerade erst im Urlaub.“
Weinrich rollte mit den Augen. Diese Frau raubte ihm den letzten Nerv. „Bleiben Sie einfach in der Stadt. Okay?“
Uschi hatte schon ihre Hand an der Türklinke, als er fragte: „Haben Sie Ihr Portemonnaie gefunden?“
Missmutig drehte sie sich zu ihm um. „Ja. Es lag zwischen meinen Schuhen. Muss wohl von der Garderobe gerutscht sein.“
Vor der Tür erwartete Uschi bereits ihr Mann. Er und Weinrich wechselten einen vielsagenden Blick. So, als müssten sie sich gemeinsam um ein ungezogenes Kind kümmern. Uschi wollte schon protestieren. Doch Wilfried zog sie mit sich und sie verließen die Wache auf dem schnellsten Weg.

Bevor Jürgen Weinrich in sein Büro zurück marschierte, gönnte er sich einen starken Kaffee. Den brauchte er jetzt dringend. Zusätzlich spürte er ein unbändiges Verlangen nach Nikotin. Dabei rauchte er schon nicht mehr, seit sein Sohn vor vier Jahren geboren wurde. Er spülte den Drang mit Kaffee weg. Es herrschte sowieso fast überall Rauchverbot. Sein Verdacht gegen Ursula Beerhues hatte sich nicht bestätigt. Diese Frau war nur fürchterlich neugierig und so naiv dabei.
Müde rieb er sich die Stirn. Vermutlich musste er wiedermal das ganze Wochenende arbeiten, statt zu Hause bei seiner Familie zu sein. Aber so war das nun mal, wenn man eine Mordkommission leitete. Die KTU hatte den Hammer untersucht. Der war definitiv die Mordwaffe, Holtmanns Blut klebte an ihm. Nur Fingerabdrücke gab es keine mehr. Wenn Frau Beerhues etwas konnte, dann putzen. Dann gingen seine Gedanken wieder zu der Industriespionage. Sicher spielte das in diesem Fall eine wichtige Rolle.
Die Befragung von Patrik Fiedler hatte wenig Licht in die Angelegenheit gebracht. Der Mann war am Mittwoch länger geblieben, um einen aufgelaufenen Aktenstaple abzuarbeiten, und dabei auf Unregelmäßigkeiten im Computersystem gestoßen. Zuerst hatte er gedacht, seine Chefin hätte sich von zu Hause eingeloggt. Dann erinnerte er sich jedoch, dass sie zeitig Feierabend gemacht hatte, um einen Termin in Münster wahr zu nehmen. Unverzüglich informierte er sie über den Zwischenfall. Zu allen Überfluss konnte Fiedler auch noch ein wasserdichtes Alibi für die Tatzeit vorweisen: er saß mit seinen Kollegen Dennis Güthues und Simon Scholz im Büro. Nur, warum hatte ihm Brigitte Strunz nicht sofort bei ihrem ersten Gespräch am Donnerstag von der Spionage erzählt? Immerhin war Jens Holtmann ihr IT-Spezialist. Er trug die Verantwortung für die digitale Sicherheit ihres Betriebes. Bei den Ermittlungen war sein Kollege Recker schnell auf den Trojaner gestoßen. Das Programm konnte nur jemand aus dem Betrieb einschleusen, vermutlich über einen simplen USB-Stick. Auf Holtmanns privaten Computer hatte die KTU einen seltsamen Internetchat über PC-Programme gefunden. Der Mann hatte gezielt nach einer Spionagesoftware gesucht. Genau mit so etwas hatte es definitiv einen Zugriff auf empfindliche Dateien gegeben. Von wem die Daten abgerufen wurden und wo sie dann landeten, konnte nicht festgestellt werden. Sie wurden über mehrere Server weitergeleitet, bis sich die Spur verlor. Da hatte ein Fachmann ganze Arbeit geleistet. War das auch Holtmann gewesen? Hatte Frau Strunz Holtmann darauf angesprochen? Wusste sie, dass er der Verräter war? Dann hätte sie ihn doch sicher angezeigt und eine Kündigung ausgesprochen. Aber in der Personalabteilung wusste man von so etwas nichts.
Weinrich hatte auch mit Alina Strunz gesprochen. Sie hatte nach anfänglichem Zögern das Liebesspiel in der Besenkammer zugegeben. Das war auch besser für sie. Er hätte es ihr sonst mit der DNA-Probe bewiesen, was allerdings länger gedauert hätte. Als sie zurück ins Büro wollte, hatte sie Frau Beerhues auf der Treppe gesehen. Zuerst hatte Weinrich gedacht, es wäre ein Ablenkungsmanöver von ihr. Alina hatte ihm jedoch glaubhaft dargestellt, dass sie mit Jens keinen Streit gehabt hatte. Und Frau Beerhues Aussage bestätigte das. Allerdings hatte Holtmann nicht telefoniert. Das letzte Gespräch über sein Handy hatte er um 13.38 Uhr geführt, mit Alina Strunz. Wahrscheinlich, um sich diskret zu verabreden. Wenn er über ein laufendes Programm gesprochen hatte, dann zu Alina. Steckte sie auch in dieser Spionagegeschichte? Machte das einen Sinn? fragte er sich. Sie würde die Firma ihrer Mutter in ein paar Jahren übernehmen. Warum sollte sie sich selbst schaden? Zugegeben, er hatte durchaus die Spannungen bemerkt, die zwischen Tochter und Mutter herrschten. Frau Strunz hielt ihre Tochter finanziell recht kurz. Sie bekam keinen Familienbonus, sondern musste ihre Arbeit wie jeder andere Angestellte leisten. Eine Beteiligung von Alina an der Spionage erklärte vielleicht auch, warum Frau Strunz darüber geschwiegen hatte. Sie wollte die Sache eventuell persönlich aus der Welt schaffen. Damit rutschte sie auf seiner Liste der Verdächtigen weit nach oben. Weinrich trank seinen Kaffee in einem Schluck aus. Er musste Alina Strunz noch mal auf den Zahn fühlen. Möglichst schnell.

Uschi saß beleidigt auf dem Beifahrersitz neben ihrem Mann. Sie hatte doch nur versucht, ihn von dem Verdacht des Mordes zu befreien. Und was tat er? Hielt ihr vor, dass sie sich überall einmischte. In Sachen, die sie nichts angingen. Und ob sie dies etwas anging! Weinrich hielt sie für die Mörderin von Holtmann. Wenn sie nur wüsste, wer sie gesehen hatte. Und mit wem Holtmann gesprochen hatte. Dann kam ihr ihr ursprünglicher Gedanke wieder in den Sinn. Holtmann hatte sich zu einem Schäferstündchen im Serviceraum getroffen. Mimi war es nicht. Vielleicht doch Alina Strunz? Obwohl sie wusste, dass Jens Holtmann ein Frauenheld war? Oder hatte sie nur schlecht über ihn gesprochen, um jede Vermutung einer Liebelei im Keim zu ersticken? Und dann das Gerede von einem PC-Programm. Ob es dabei um den Trojaner ging? Wusste Alina, mit wem sie sich da möglicherweise eingelassen hatte? Wilfried bog in den Carport ein und stellte den Motor ab.
„Leon ist gekommen“, sagte er.
„Wann?“
„Schon vor zwei Stunden. Ich glaube, er ist neugierig, was hier läuft.“
Uschi atmete tief durch. Ihr Sohn würde seine Schadenfreude kaum vor ihr verbergen. Er hatte ihr schon immer prophezeit, dass sie sich irgendwann in Schwierigkeiten bringen würde.
Wilfried nahm den Einkaufskorb mit den Blumen von der Rückbank und drückte ihn Uschi in die Hand. Die Rosen sahen mitgenommen aus. Erst der Flug durchs Treppenhaus und dann die Stunden ohne Wasser hatten sie welken lassen. Uschi fühlte sich nicht viel besser. Geschafft latschte sie hinter ihrem Mann ins Haus.
„Na? Hast du nun genug Stoff für deinen Roman?“ begrüßte Leon seine Mutter.
Uschi schaute ihn nur böse an und ging dann wortlos in die Küche, um einen starken Kaffee aufzubrühen. Sie füllte eine Vase mit Wasser und stellte die Rosen hinein. Vielleicht richteten sie sich ja wieder auf. Anschließend langte sie in den Küchenschrank und grapschte nach ihrer Schokoladentafel. Die beruhigte immer. Leon brach sich ebenfalls einen Riegel ab und schob ihn genussvoll in den Mund.
Noch im Kauen fragte er: „Nun sag schon. Wie war es beim Verhör?“ Er setzte sich auf den Küchentresen und ließ seine Beine baumeln.
„Das du mal da landen würdest.“ Seufzend schüttelte er den Kopf. „Ich dachte immer, du bekommst eine Anzeige wegen Ruhestörung oder so.“
„Schön, dass du das so lustig findest. Mir ist leider gar nicht zum Lachen zumute.“ Uschi ließ sich mit ihrem Kaffee am Küchentisch nieder.
Sollte sich ihr Sohn ruhig darüber amüsieren. In ihrem Kopf spukten ganz andere Gedanken herum. Hatte Alina Strunz eine Affäre mit Jens Holtmann? Es gab nur eine Möglichkeit, dass herauszufinden: sie musste Alina fragen.
„Was gibt‘s heute eigentlich zu essen?“, fragte Leon.
Essen? Das interessierte sie jetzt gar nicht. „Mach euch selbst was“, murrte sie.
Hastig kippte sie ihren Kaffee runter, schnappte sich die Autoschlüssel und flitzte zum Carport, bevor sie Wilfried oder Leon aufhalten konnten.

Mutter und Tochter Strunz wohnten in einer der vornehmeren Straßen der Stadt. Hier reihte sich Prachtbau an Villa, immer mit mehreren Garagen und ansehnlichen Vorgärten. Manche der Häuser stammten aus den Siebzigern, hatten allerdings moderne Anbauten oder waren nachträglich aufgestockt worden. Ihre Chefin hatte so ein altes Gebäude gründlich renovieren und umbauen lassen. Erst im Mai war Uschi mit Wilfried hier gewesen. Brigitte Strunz hatte die Führungskräfte der Firma zu einer Gartenparty eingeladen. Bei Wein und Bier hatte man sich prächtig unterhalten. Dazu gab es Gegrilltes und einige Produkte von Strunz Food aus der vegetarischen Linie. Die untere Etage des schicken Hauses bewohnte die Chefin. Im Obergeschoss mit separatem Eingang lebte Alina. So hatte jeder seine Freiheit.
Uschi stoppte ihren Polo am Straßenrand unweit des Domizils. Alinas kleiner Sportwagen parkte in der Einfahrt. Perfekt. Sie war also zu Hause. Diesmal nahm sich Uschi vor, nicht so direkt zu fragen wie bei Doll. Wenn sie behutsamer vorging, bekam sie vielleicht auch genug Hinweise, um Weinrich zu informieren. Kurz nach dem Klingeln öffnete Alina Strunz in Shorts und T-Shirt die Tür. Uschi sah sie sonst in Businesskleidung. So leger angezogen wirkte sie viel jünger. Ihre dunkelblonden Locken fielen offen über ihre Schulter. Nach Trauer sah sie nicht aus.
„Hallo, Alina. Darf ich rein kommen?“, begrüßte sie die junge Frau.
Bereitwillig trat Alina zur Seite, um Uschi vorbei zu lassen. Die Wohnung der jungen Frau war geschmackvoll mit weißen Möbeln eingerichtet. Die blaue Farbe der Wände verlieh ihr ein frisches Flair. An die offene Küche schloss sich eine Sitzecke mit einer einladenden Couch an. Irgendwoher erklang Musik. Uschi konnte keine Lautsprecher entdecken. Aber die Dinger waren heute auch viel unauffälliger als früher.
„Ist das George Ezra?“, fragte sie und lauschte.
„Ich glaube, ja.“
„Haben Sie die CD?“
Alina brach in lautes Gelächter aus. „Nein. Das ist meine Playlist.“
„Playlist?“
„Ja, auf meinem Handy.“ Sie deutete auf eine kleine Box auf dem Küchentresen.
Jetzt erkannte Uschi auch, woher die Musik kam. „Ah. Über Bluetooth. Richtig?“
Uschi war gerade noch rechtzeitig das Wort eingefallen, bevor sie sich total blamierte. Leon hatte ihr schon so oft erklärt, wie das funktionierte. Er wollte ihr auch eine Musik-App auf ihrem Handy einrichten. Doch sie hatte abgelehnt. Musik hörte sie ganz altmodisch im Radio oder von CD. Alina bot ihr keinen Sitzplatz an, also blieb Uschi stehen.
„Sie sind doch sicherlich nicht gekommen, um sich mit mir über Musik zu unterhalten.“ Der Blick der jungen Frau ruhte fest auf ihr.
„Nein. Ich wollte mit Ihnen über Jens Holtmann sprechen“, klärte Uschi sie auf.
„Ist das nicht Sache der Polizei?“
„Schon. Aber sagen wir mal so, ich habe ein persönliches Interesse an der baldigen Aufklärung.“ Skeptisch musterte Alina sie. Uschi dachte schon, sie würde sie einfach wieder vor die Tür setzten.
Doch dann fragte sie: „Und wie kann ich Ihnen da helfen?“
„Was wissen Sie über die Industriespionage?“
„Ich? Wieso?“
„Waren Sie nicht mit Jens enger befreundet? Kommissar Weinrich hat bei seinem Gespräch mit mir so etwas durchscheinen lassen“, log sie. Alina brauchte nicht wissen, dass das Gespräch mehr ein Verhör gewesen war und Weinrich auch keinerlei Andeutung gemacht hatte.
„Na super!“, regte sich Alina gleich auf. „Dann weiß es bald die ganze Firma! Dabei war es nur ein einmaliger Ausrutscher.“
Bingo, dachte Uschi. Sie hatte voll ins Schwarze getroffen. „Hat er mit Ihnen über den Trojaner gesprochen? Ich weiß, dass er das war. Also? “
„Ich weiß nur, dass er ihn über den Computer Ihres Mannes eingeschleust hat. Er hatte wohl zuerst versucht, Ihrem Mann dazu zu bewegen, Anhänge von irgendwelchen E-Mails zu öffnen. Hat aber nicht geklappt. Dann musste er persönlich daran.“
Kein Wunder, dass das nicht funktioniert hatte, dachte Uschi. Vor zwei Monaten erst hatte Wilfried ihren PC mit einem bekloppten Anhang lahm gelegt. Leon brauchte Stunden, um ihn wieder zum Laufen zu bringen. Das hatte er sich sicher gemerkt.
Sie sah Alina prüfend an. „Seit wann wussten Sie davon?“
Verunsichert wich Alina ihrem Blick aus. Zweifelnd zog sie ihre Brauen zusammen. Hatte sie sich verraten?
„Haben Sie auch damit zu tun?“, hakte Uschi nach.
„Ich habe ihn nicht umgebracht“, verteidigte sie sich.
„Das glaube ich Ihnen“, warf Uschi sofort ein. Sie hatte aus ihrem Fehler bei Doll gelernt. Nie würde sie jetzt zugeben, dass sie genau das gerade gedacht hatte.
Alina ließ sich trotzig auf ihre Couch plumpsen. „Ich wollte meiner Mutter eins auswischen. Schon vor Jahren habe ich ihr vorgeschlagen, vegetarische Produkte ins Programm zu nehmen. Damals hat sie mich ausgelacht. Zu aufwendig, zu kleiner Absatzmarkt, Altbewährtes sei immer gut, meinte sie. Als sie letztes Jahr mit der vegetarischen Line gestartet ist, hat sie es dann als ihre Idee verkauft, um als tolle und innovative Chefin da zustehen. Und ich als kleines Dummchen. So läuft das immer. Nur diesmal habe ich es ihr gezeigt. Und Jens war perfekt dazu. Er hat mir aus der Hand gefressen. Wenn Patrik nicht noch so spät im Büro gewesen wäre, hätte keiner etwas mitbekommen.“
„Nur Ihre Mutter hätten Sie es sicher irgendwann erzählt“, schloss Uschi.
„Vielleicht. Hören Sie, es tut mir ehrlich leid, dass der Verdacht auf Ihren Mann gefallen ist.“ Schmollend schob sie die Unterlippe vor.
Das passte weit besser zu Alina, als dass Holtmann sie verführt hatte, überlegte Uschi. Sicher war Alina geschickt vorgegangen, hatte Holtmann um den Finger gewickelt und ihn im Glauben gelassen, er sei der Größte.
„Haben Sie sich gestritten? Unten im Serviceraum?“, fragte Uschi weiter.
„Nein. Das habe ich dem Kommissar alles schon erzählt.“ Sie gewann ihr Selbstvertrauen zurück. „Aber ich habe Sie auf der Treppe gesehen. Vielleicht waren Sie das?“ Herausfordernd fixierte sie Uschi. „Wollten Sie sich an ihm rächen für Ihren Mann und Ihre Kinder?“ Ihre Augen funkelten böse.
Uschi seufzte. Nahm das denn kein Ende? Immer wieder musste sie sich gegen solche Anschuldigungen wehren. „Ich habe ihn auch nicht erschlagen“, beteuerte sie. Immerhin wusste sie nun, wer sie gesehen hatte. „Hatte Jens mit jemandem aus der Firma Streit?“
„Sie wissen doch, wie er war. Sicher ist er mit seiner vorlauten Art anderen auf die Füße getreten. Aber fachlich war er Spitze.“
„Waren Sie mal bei ihm zu Hause?“, fragte Uschi. Es war ein Test. „Er wohnt direkt hinter uns“ schwindelte sie dann. Wenn Alina den Hammer bei ihnen versteckt hatte, musste sie wissen, dass das nicht stimmte.
„Ach? Das wusste ich gar nicht.“ Es klang ehrlich überrascht.
„Ich mache mich jetzt auf den Weg“, meinte Uschi.
„Werden Sie der Polizei erzählen, dass ich auch mit der Spionage zu tun habe?“ Unsicherheit lag in Alinas Blick.
„Ich denke, das ist nicht wichtig. Die sollen ihre Arbeit ruhig alleine machen.“ Sie zwinkerte Alina zu und ging.

Uschi war schon fast an ihrem Polo, als plötzlich jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich um und sah Brigitte Strunz winkend in ihrer Haustür stehen. „Frau Beerhues. Gut, dass ich Sie sehe.“
Verwundert machte Uschi kehrt. Frau Strunz bat sie um ein Gespräch unter vier Augen. Das passte Uschi sehr gut. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, um zu erklären, dass Wilfried mit der ganzen Spionage nichts zu tun hatte. Damit würde ihrem Mann ein Stein vom Herzen fallen. Hätte sie das bloß nicht getan. Aber wie sollte sie wissen, was passieren würde?
Brigitte lud sie in ihr nobles Wohnzimmer ein. Es war ungewöhnlich unordentlich, gar nicht so, wie in ihrem Büro. Zeitungen lagen verstreut auf dem teuren Teppich. Auf dem Couchtisch stand ein leeres Weinglas neben einer Flasche. Trank ihre Chefin jetzt schon am Nachmittag? fragte sich Uschi. Das passte so gar nicht zu ihr. Vielleicht baute sie auf diese Art auch Stress ab. Und Stress hatte sie zurzeit sicher genug.
„Es tut mir leid, dass Ihr Mann unter falschen Verdacht geraten ist“, begann Brigitte Strunz.
Gleichzeitig meinte Uschi: „Sie müssen wissen, dass mein Mann mit der Spionage nichts zu tun hat.“
„Dann sind wir uns ja einig.“ Brigitte lächelte ihr zu. Es war nicht so herzlich wie sonst. „Ich hoffe, man hat Ihnen nicht zu viele unangenehme Fragen gestellt.“
Damit hatte sie bei Uschi einen empfindlichen Punkt getroffen. Aufgeregt platzte es aus ihr raus: „Oh, dieser Kommissar! Er hat mich stundenlang auf der Wache festgehalten, um ein Geständnis aus mir heraus zu quetschen. Er hat mir sogar verboten wegzufahren. Dabei war ich es nicht!“
„Denkt der ernsthaft, Sie hätten Holtmann ermordet? Wie kommt er denn darauf?“
„Naja, ich habe wohl nicht immer so ganz die Wahrheit gesagt“, gab Uschi zu und dachte an ihr falsches Alibi. Dann besann sie sich. Warum sollte sie jede Einzelheit ausplaudern, die gegen sie sprach? Schließlich war diese Frau ihre Chefin und sie wollte ihren Job behalten, auch wenn es nur eine dumme Putzstelle war. Ob Frau Strunz wusste, was ihre Tochter in der Firma so trieb? Sie, als Mutter wäre gerne informiert. „Ich habe gehört, dass Holtmann den Trojaner eingeschleust haben soll.“
Brigitte nickte. „Ich hätte ihm gekündigt, wenn das nicht passiert wäre.“
„Aber er war es nicht alleine“, tastete sich Uschi weiter vor. Ein fragender Blick ruhte auf ihr. „Ihre Tochter hat mir gestanden, dass sie auch beteiligt ist.“
Wenn Uschi jetzt Überraschung in Brigittes Gesicht erwartet hatte, wurde sie enttäuscht. Die Frau wandte sich ab, griff ruhig nach ihrer Weinflasche und füllte sich ihr Glas. „Möchten Sie auch einen Schluck?“
Sie trat an ihren Schrank, holte ein zweites Weinglas und stellt es vor Uschi auf den Tisch. Hatte die Frau sie nicht richtig verstanden? dachte Uschi. Oder war sie schon zu betrunken, um sie zu verstehen? Allerdings wirkte sie noch ziemlich nüchtern.
„Alina war auch dabei“, wiederholte sie.
Brigitte Strunz hob langsam ihren Kopf und sah sie an. Ihre Augen hatten einen müden und auch traurigen Ausdruck. Uschi wurde schlagartig klar, dass sie die Wahrheit schon kannte. Und noch etwas konnte sie in ihrem Blick lesen. Die Frau hatte Ungeheuerliches getan, um ihre Tochter zu schützen.
„Ich wollte das nicht“, sagte sie leise, als Uschi sie weiterhin eindringlich ansah. „Aber jede Mutter hätte so gehandelt. Sie müssen das doch verstehen.“
„Was meinen Sie?“ Ein Schauer lief ihr über den Rücken, bei dem Gedanken, der sich ihr aufdrängte.
„Dieses Schwein hat meine Tochter verführt und angestachelt. Er musste dafür büßen.“ Brigitte hielt inne, immer noch die Weinflasche in der Hand. Sie atmete tief durch. „Eigentlich wollte ich nur mit ihm reden, als ich ihm in den Keller gefolgt bin. Ich hatte so ein komisches Gefühl. Doch da hat Alina schon auf ihn gewartet. Ich habe mich in den Fahrstuhl zurückgezogen und abgewartet, was die beiden so heimlich zu tun hatten. Dann hat er ihr erzählt, wie wunderbar der Trojaner arbeitete. Da wusste ich, dass er sie da mit reingezogen hat. Dieser miese Verbrecher. Meine Tochter! Ich habe alles für sie getan, habe nicht geheiratet, nur um für sie da zu sein. Habe diese Firma aufgebaut, damit sie es mal leichter hat als ich. Er hat sie dazu gebracht, ihre Mutter zu betrügen! Er hat mich so angewidert.“
Das musste die sonst so rationale Frau total aus der Bahn geworfen und in wahre Rage versetzt haben. War sie dann gar nicht auf die Idee gekommen, dass es genau anders herum gelaufen sein könnte? Dass ihre Tochter den Plan zum Betrug geschmiedet hatte?
„Und da haben Sie zugeschlagen?“, fragte Uschi.
Plötzlich veränderte sich Brigittes Gesichtsausdruck. In ihren Augen blitzte Zorn auf. „Ich gehe nicht ins Gefängnis!“, fauchte sie. „Dann hat meine Tochter niemanden mehr. Auf ihren Vater kann sie nicht zählen. Der hat sich noch nie gekümmert.“
Langsam wurde Uschi mulmig zu Mute. Warum hatte diese Frau sie angesprochen? Wollte sie womöglich nur wissen, was die Polizei an Beweisen zusammen getragen hatte? Vorsichtig erhob sie sich von der Couch. Sie wollte nur noch weg aus dieser brenzligen Situation. Brigitte beobachtet wie eine Raubkatze auf Beutezug jede ihrer Bewegungen.
„Ich geh jetzt“, versuchte es Uschi bestimmt. Hoffentlich hörte Brigitte nicht das Zittern in ihre Stimme.
Sie wollte auf die Tür zugehen. Doch Brigitte schnitt ihr den Weg ab. In ihrer Hand schwenkte sie drohend die Weinflasche hin und her. „Wenn Sie verschwinden, gilt das bei der Polizei als Schuldeingeständnis. Schließlich war der Hammer auch in Ihrer Gartenlaube.“
Erschrocken machte Uschi einen Schritt zurück. Das konnte die Frau doch nur wissen, weil sie ihn selbst dort abgelegt hatte. Und jetzt wollte sie alles ihr anhängen. Obendrein war sie so blöd gewesen, ihr zu erzählen, dass Weinrich sie noch im Fadenkreuz hatte. Brigitte baute sich furchteinflößend vor ihr auf. Drehte sie nun völlig durch? Ängstlich suchte Uschi nach einem Ausweg. Es gab nur zwei Türen, eine zum Flur und die andere zum Garten. Wenn sie nicht zur Haustür kam, dann konnte sie vielleicht nach draußen flüchten. Behutsam ging sie in kleinen Schritten rückwärts auf die Terrassentür zu, ihren Blick fest auf Brigitte geheftet.
„Sie haben doch auch Kinder und würden alles für sie tun“, erklärte Brigitte mit einer seltsam hohen Stimme und einem irren Glanz in den Augen.
Was hatte sie vor? dachte Uschi panisch. Die Frau folgte ihr Schritt für Schritt.
„Sie kommen hier nicht weg“, säuselte sie und grinste. „Sie waren das. Sie haben Holtmann auf dem Gewissen. Nicht ich!“ Brigitte war komplett ausgerastet.
Nervös überlegte Uschi, wie ihre Chance stand, sich erfolgreich gegen diese Frau zu wehren. Brigitte war nur unwesentlich jünger als sie, aber kräftig und durchtrainiert. Ob sie regelmäßig ins Fitnessstudio ging? Sie hatte das auch schon lange vor und dann doch nie geschafft. Jetzt war es zu spät für gute Vorsätze.
„Sie sind eine Mörderin“, schnaubte Brigitte.
Kalter Schweiß bildete sich auf Uschis Stirn. Wieso hatte sie niemandem gesagt, wohin sie wollte? Instinktiv griff sie nach dem Plüschkissen in dem Sessel rechts von ihr. Als wenn sie sich damit verteidigen könnte. Was für eine dumme Idee, schalt sie sich in Gedanken. Doch sie fühlte sich besser mit irgendetwas in der Hand. Bis zur Terrassentür konnte es nicht mehr weit sein.
„Mein Mann wird mich schon suchen“, versuchte sie an die Vernunft von Brigitte zu appellieren. Es blieb wirkungslos.
Die Frau war jeglicher Realität entrückt. „Ich werde Sie im Garten verscharren. Da findet sie niemand.“ Ein schrilles Lachen folgte. „In dem frischen Beet, das ich erst letzte Woche angelegt habe.“
Uschi wollte laut schreien. Aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie bekam nur ein leises Krächzen heraus. Dann endlich ertastete ihre Hand hinterm Rücken feinen Gardinenstoff. Sie schleuderte Brigitte das Plüschkissen entgegen und wirbelte herum. Hektisch rüttelte sie am Griff der Terrassentür. Brigitte sprang auf sie zu, holte mit der Weinflasche aus. Bevor Uschi die Tür aufreißen konnte, schlug sie zu. Ein stechender Schmerz durchzuckte Uschi vom Hinterkopf bis zu den Beinen. Vor ihren Augen tanzten Sterne in allen Regenbogenfarben. Dann sank sie zu Boden.
„Sie werden verschwinden. Für immer“, flüsterte Brigitte ihr zu. Doch Uschi hörte sie nicht mehr.
 



 
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