Mörderisches Mutterherz, Teil 6

Baxi

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Kommissar Jürgen Weinrich hatte gerade das Büro verlassen, als Andy Recker auf ihn zu kam. Recker strahlte über das ganze Gesicht. Er hatte sich durch den privaten PC von Jens Holtmann gearbeitet und war dabei auf ein Onlinekonto gestoßen. Am Mittwochabend war eine Summe von 20.000 € eingezahlt worden, Absender unbekannt. 10.000 € davon wurden auf ein anderes Onlinekonto weitergeleitet. Aufmerksam hörte Weinrich zu. Es würde ihn nicht wundern, wenn das zweite Konto zu Alina Strunz führen würde. Sein Gespräch mit der Frau versprach sehr interessant zu werden. Aufgekratzt versicherte Recker weiter zu suchen, blieb aber erwartungsvoll stehen. Sicher machte der Kollege extra Überstunden dafür, kam es Weinrich in den Sinn und dachte auch an den Lehrgang in Mitarbeiterführung, den er erst letztens absolviert hatte. Seufzend ließ er sich zu einem halbherzigen „Gut gemacht“ hinreißen. Dann überlegte er, ob es dem jungen Kollegen gefallen würde, bei der Überprüfung dabei zu sein. „Ich wollte gerade die junge Dame besuchen. Möchten Sie mitkommen?“
Auf so eine Einladung schien Recker nur gewartet zu haben. Beschwingt fischte er seine Jacke von der Rückenlehne seines Stuhls. Weinrich legte den schriftlichen Bericht zu den Unterlagen in seinem Büro und gemeinsam marschierten sie direkt zum Parkplatz.
Sie entdeckten die junge Frau mit einer großen Tasche bepackt und ihrem Schlüssel in der Hand an ihrem Sportwagen. Während Weinrich seinen Wagen am Straßenrand parkte, fragte er sich besorgt, ob Alina unerwartet verreisen wollte. Sie beeilten sich beim Aussteigen und Recker kontrollierte vorsichtshalber den Sitz seiner Dienstwaffe.
„Frau Strunz“, sprach Weinrich sie an. „Wir haben noch einige Fragen an Sie. Können wir rein gehen?“
Alina sah ihn forschend mit großen Augen an. Dann zuckte sie mit den Schultern und öffnete ihnen die Tür zu ihrer Wohnung. „Ich wollte gerade zum Sport“, erklärte sie, während ihre Tasche zu Boden plumpste.
„Es dauert nicht lange. Versprochen.“
Demonstrativ blieb Alina an ihrem Küchentresen stehen. Sie hatte keine Lust mehr, Fragen zu beantworten, die doch keine Aufschlüsse zum Tod von Jens Holtmann geben konnten.
Weinrich ließ sich davon nicht von seiner Arbeit abhalten. „Wann haben Sie von der Industriespionage erfahren?“, fragte er.
Misstrauisch schaute Alina ihn an. Hatte Frau Beerhues mit ihm telefoniert? Und ihm von ihrer Beteiligung erzählt? Dabei hatte sie doch gesagt, dass die Polizei nicht alles wissen musste. Recker stellte sich breitbeinig vor ihre Wohnungstür, um ihr im Notfall den Fluchtweg abzuschneiden. Der Kommissar fand das etwas übertrieben, sage aber nichts dazu.
„Hat die blöde Kuh doch gepetzt!“, platzte Alina heraus.
„Was meinen Sie?“
„Na, Frau Beerhues. Sie war gerade bei mir und die gleiche Frage gestellt wie Sie!“
Schon wieder diese Frau, dachte Weinrich genervt. „Und? Was haben Sie ihr geantwortet?“
„Das wissen Sie doch längst!“ Bockig verschränkte sie ihre Arme vor der Brust.
„Ich möchte es aber von Ihnen persönlich hören“, beharrte Weinrich.
Alina schnaufte laut. „Ich habe zusammen mit Jens die Daten geklaut. Zufrieden?“
Also hatte war er doch auf der richtigen Spur. „Warum? Damit schaden Sie sich doch selbst.“
„Die Firma gehört meiner Mutter, nicht mir. Außerdem ist der Schaden nicht groß. Die Rezepte werden sowieso ständig weiterentwickelt und verbessert.“ Sie hielt das mehr für einen Scherz, denn für eine Straftat.
Weinrich ahnte, dass die Schwierigkeiten zwischen Mutter und Tochter doch größer waren, als er bislang dachte. „Was haben Sie mit den Daten gemacht?“
Doch dazu schwieg Alina.
„Ich vermute, Sie haben sie verkauft. Richtig?“, warf nun Recker ein.
Sie nickte langsam.
„Weiß Ihre Mutter, dass Sie beteiligt sind?“, fragte Weinrich.
„Ich weiß nicht. Vielleicht.“
Der Kommissar seufzte. „Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?“
Wieder nickte Alina.
„Wann?“
„Am Mittwochabend. Sie hat sich fürchterlich aufgeregt, dass so etwas passieren konnte. Und das Jens nichts bemerkt hat, sonder Fiedler.“ Ein zufriedenes Grinsen huschte über ihr Gesicht.
„Ihre Mutter hat keine Anzeige erstattet. Ich vermute, weil sie genau weiß, dass Sie darin verwickelt sind“, erklärte er. „Wissen Sie, ob Ihre Mutter zu Hause ist?“
„Ich habe sie nicht wegfahren gesehen.“
„Gut. Das war’s schon. Aber ich denke, die Kollegen von der Wirtschaftskriminalität werden mit Ihnen sprechen wollen.“
Er ging zur Tür, wo Recker augenblicklich zur Seite trat, drehte sich aber noch mal um. „Seit wann ist Frau Beerhues weg?“ – „Vielleicht seit einer viertel Stunde?“, schätzte Alina. Die Beamten verabschiedeten sich endgültig.

Auf dem Weg zu seinem Auto telefonierte Weinrich mit der Wache. Diese Frau Beerhues hatte sich wieder mal in seine Ermittlungen eingemischt. So etwas passte ihm gar nicht.
„Ich möchte, dass Sie Ursula Beerhues zur Wache bringen. Jetzt sofort!“, befahl er einem Kollegen. „Sie soll dort auf mich warten. Lassen Sie sie auf keinen Fall vorher gehen.“
Als der Beamte nach einen Grund für sein Vorgehen fragte, nannte Weinrich Behinderung der Polizeiarbeit. Recker sah ihn nur fragend an.
„Ich will nicht, dass die hier weiter auf eigene Faust Detektiv spielt. Wir haben es schließlich mit Mord zu tun!“, erklärte sich der Kommissar.
Sie setzten sich in sein Auto und Weinrich strich sich müde über seinen Bart. Jetzt konnten sie nur abwarten. Recker saß neben ihm und checkte sein Handy, steckte es aber schnell wieder zurück, als er den strengen Blick seines Vorgesetzen bemerkte. Von ihrem Platz konnten sie die gesamte Front des Hauses beobachten. Sie würden sehen, falls Frau Strunz ihre Wohnung verlassen würde. Zu ihr zu gehen, machte erst Sinn, wenn er wusste, dass die nervige Putze nicht eigenwillig unterwegs war. Keinesfalls wünschte er sich, dass sie mitten in seine Befragung platzen würde. Alina setzte ihren Sportwagen aus der Einfahrt und fuhr davon. Es war schon kurz vor vier Uhr. Am liebsten hätte Weinrich Feierabend gemacht und wäre nach Hause zu Frau und Sohn gefahren. Stattdessen saß er hier rum. Neben ihm begann Recker auf dem Armaturenbrett zu trommeln. Nicht allzu laut, dafür rhythmisch nach irgendeinem Song. Weinrich hätte ihm gern auf die Finger geschlagen, beherrschte sich jedoch gerade noch.
„Lassen Sie das!“, maulte er.
Seine Nerven lagen blank, seit ihm wieder Frau Beerhues durch die Ermittlungen getigert war. Leider musste er sich eingestehen, dass diese unmögliche Frau seine Befragung von Alina abgekürzt hatte. Sicher wäre die junge Frau sonst nicht so schnell mit der Wahrheit rausgerückt. Das war der Vorteil von Privatpersonen. Denen vertraute mancher ehe etwas an, als einem Hauptkommissar. Sein Handy klingelte. Der Kollege von gerade war am anderen Ende. Er erklärte ihm, dass Frau Beerhues nicht zu Hause angetroffen wurde. Der Ehemann wusste nicht, wohin sie gefahren war. Auch der Sohn hatte keine Ahnung. Und über Telefon konnten sie sie nicht erreichen, weil ihr Handy ausgeschaltet war.
Wütend schnauzte Weinrich in sein Handy: „Zur Fahndung ausrufen!“
Sauer stieg er aus. Er wusste genau, dass es nicht nötig gewesen wäre, den Kollegen so anzugehen. Der konnte doch nichts dafür. Es war die schreckliche Frau, die ihm mehr zusetzte, als ihm lieb war. Er sehnte sich danach, diesen Fall bald abzuschließen und ihr damit den Grund für ihr selbstherrliches Handeln entziehen. Auch sein junger Kollege sprang aus dem Wagen und eilte dem Kommissar nach.

Weinrich atmete erst mal tief durch, bevor er den Klingelknopf drückte. Jetzt musste er sich ganz auf Brigitte Strunz konzentrieren. Als die Frau öffnete, fiel ihm sofort ihre Blässe auf. Außerdem sah sie mitgenommen aus. Oder lag es daran, dass sie heute nicht geschminkt war? In ihrer rechten Hand hielt sie ein Geschirrtuch mit Blutflecken.
Sie folgte seinem Blick und meinte: „Ich habe mich geschnitten. An einer Weinflasche.“
An einer Weinflasche? grübelte er. Hatte sie getrunken? So früh am Tag? Neben ihm hatte Recker schon wieder seine Hand an seiner Waffe. Hoffentlich ließ sich dieser übereifrige Kerl nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen, dachte er mürrisch. Sein Kollege war bei der Recherche vielleicht besser aufgehoben, als im Außendienst.
„Sie sollten damit zum Arzt gehen“, riet er der Frau.
Doch sie winkte ab. „So schlimm ist es nicht.“
„Frau Strunz, wir müssen mit Ihnen noch mal über Ihr Alibi sprechen. Sie haben angegeben, nach der Mittagspause von 12.30 Uhr bis 16.30 Uhr am Donnerstag Ihr Büro nicht verlassen zu haben. Gab es Anrufe in der Zeit, die das bestätigen können?“ Er beobachtete jede ihrer Regungen.
Sie begann das Geschirrtuch in ihren Händen zu kneten, als wenn sie eine Antwort daraus quetschen könnte. „Es gab da schon ein paar Anrufe. Aber die Liste müsste ich im Büro ausdrucken.“
„Können wir das sofort machen?“, schlug er vor. „Sie könne mit uns fahren.“
Ehe er weiter reden konnte, klingelte sein Handy erneut. Er entschuldigte sich bei Frau Strunz und zog es hervor. Ein Kollege von der Wache teilte ihm mit, dass der Polo von Frau Beerhues am Paterweg gesichtet wurde. Paterweg? Da waren sie doch gerade. Hatte Frau Beerhues Alina gar nicht verlassen? Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sie hatte genau das getan, was sie auch machten: sie war zur Mutter Brigitte Strunz gegangen. Nur, hier war sie nirgends zu sehen.
„Darf ich mich etwas umsehen?“, fragte er höflich und ging an Frau Strunz vorbei durch den Flur, ohne ihre Antwort abzuwarten. Recker sicherte sogleich wieder die Tür hinter ihm. Wollte er ihm damit imponieren? Dabei musste Frau Strunz schon außergewöhnlich sportlich sein, damit Weinrich nicht mit ihr fertig wurde. Falls sie ihn attackieren sollte, was er sich kaum vorstellen konnte. Er spähte durch die offene Küchentür.
„Was suchen Sie denn?“, fragte Brigitte. „Alina hat ihre eigene Wohnung.“
„Ich weiß“, erwiderte Weinrich und schaute ins nächste Zimmer, in dem sich ein großer Schreibtisch und etliche Regale mit Büchern und Ordnern befanden. „Sind Sie alleine?“
Brigitte folgte ihm unsicher. „Ja. Warum?“
Aufmerksam sah er sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches finden. Außer zwei Weingläsern, die auf dem Tisch im Wohnzimmer standen. Zeitungen lagen verstreut am Boden, alle von diesem Wochenende. Hatte die Frau darin nach Berichten über den Mord gesucht? Sicher war das keine gute Reklame für ihre Firma.
„Was suchen Sie denn? Vielleicht kann ich Ihnen helfen“, meldete sich Frau Strunz zu Wort.
„War Frau Beerhues heute hier?“
Brigitte überlegte. Etwas zu lange, wie Weinrich fand. „Ja“, gab sie dann zu.
„Wann ist sie weg gegangen?“
„Vor zwanzig Minuten, ungefähr. Warum?“
Da hatten sie schon in seinem Wagen gesessen. Aber außer Alina war niemand aus dem Haus gekommen. Schon gar nicht Frau Beerhues. „Was wollte sie?“, fragte er.
„Sie hat mir nur gesagt, dass Alina beteiligt ist.“
„Und dann?“
„Dann hat sie mir den Mord an Holtmann gestanden.“
„Wie? Einfach so?“ Das überraschte ihn jetzt doch.
„Sie musste wohl ihr Gewissen erleichtern. Die ganze Zeit diesen Druck im Kopf, das hat sie fertig gemacht“, erklärte sie. „Sie hat sich mir mitgeteilt, weil wir beide Mütter sind. Da versteht man manche Dinge besser. Ich wollte, dass sie sich der Polizei stellt. Aber sie ist dann losgestürmt. Ich konnte sie nicht aufhalten.“
Weinrich zog ungläubig eine Braue hoch. „Hat sie gesagt, warum sie Herrn Holtmann erschlagen hat?“
Auch darauf hatte Frau Strunz eine Antwort: „Er hat ihr übel mitgespielt. Hat sich an ihre Tochter ran gemacht, sie in kriminelle Machenschaften gezogen und ihren Mann ins Gerede gebracht. Da ist sie durchgedreht. Ehrlich gesagt, das kann ich sogar nachfühlen.“
„Wo ist sie hin, Frau Strunz?“ hakte Weinrich nach.
Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Dass spürte er genau. Recker kam mit langen Schritten ebenfalls ins Wohnzimmer, Frau Strunz fest im Blick.
Brigitte bearbeitete immer noch ihr Geschirrtuch. „Ich weiß es nicht. Aber ich habe Angst, dass sie sich was antut.“
Das passte noch weniger zu Frau Beerhues, bezweifelte Weinrich ihre Bemerkung. Für ihn sah es eher so aus, dass Frau Strunz ihm Blödsinn erzählte. Viel wahrscheinlicher erschien es ihm, dass sie ihre eigenen Gefühle auf die andere übertrug. So, wie sie Motive für den Mord anführte, die eher zu ihr passten. Es war doch ihre Tochter, die sich strafbar gemacht hatte. Er hatte schon von Fällen gehört, in denen die Täter ihre schrecklichen Verbrechen auf andere schoben, weil sie es nicht länger ertrugen, ohne daran zu zerbrechen. Am Ende glaubten sie selbst, unschuldig zu sein. Passierte hier gerade auch genau das?
Resolut durchsuchte der Kommissar die anderen Räume der Wohnung, während sein Kollege bei Brigitte blieb. Doch Uschi Beerhues fand er nicht. Brigitte Strunz setzte sich auf ihre Couch, immer noch das Geschirrtuch um ihre rechte Hand gepresst. Dabei starrte sie vor sich hin.
„Frau Strunz? Wo ist Frau Beerhues?“, fragte Weinrich nochmals. Aber die Frau reagierte nicht auf ihn. „Frau Strunz?“ Er fasste sie an der Schulter.
Mit einem seltsam entrücktem Blick meinte sie leise: „Sie ist weg.“
„Aber ihr Auto steht noch vorm Haus.“
Irritiert drehte sie ihm ihr Gesicht zu. „Sie ist weg“, wiederholte sie nur.
„Was haben Sie mit ihr gemacht?“
„Sie ist eine Mörderin“ entgegnete sie dumpf.
Weinrich überlegte, ob er den psychologischen Dienst anrufen sollte. Diese Frau war hochgradig verwirrt. Zunächst mussten sie jedoch Frau Beerhues finden, möglichst schnell. Und dafür brauchten sie Verstärkung von der Wache. Gemeinsam mit den Kollegen könnte in Kürze das ganze 2000 m² Grundstück abgesucht werden. Irgendwo musste die Frau doch sein. Das hatte sie nun davon, dass sie sich immer wieder einmischte, dachte er.
Sein Blick fiel durchs Wohnzimmerfenster in den Garten. Durch das Gras huschte eine fette Taube. Eine Schubkarre mit einem Spaten stand neben einem sorgsam bepflanzten Blumenbeet. Der Wind spielte mit den Zweigen eines kleinen Apfelbaums. Warum hatten sie nur so viel Zeit mit Warten vergeudet? Wäre er doch nur gleich zu Brigitte Strunz gegangen. So hatte sie reichlich Spielraum, Spuren zu beseitigen. Auf dem Teppich zu seinen Füßen bemerkte er frische Rotweinflecken. Kleine, grüne Glassplitter funkelten dazwischen. Ungewöhnlich weit vom Tisch entfernt, wie er fand. Hatte hier ein Kampf stattgefunden? Dann war Frau Beerhues womöglich in ernster Lebensgefahr. Hoffentlich, dachte er, hoffentlich war er nicht zu spät.
Als die Verstärkung eintraf, saß Frau Strunz steif auf ihrer Couch. Was um sie herum vorging, schien sie nicht mehr wahrzunehmen. Jedes Ansprechen war zwecklos. Sie durchstöberten alle Zimmer gründlich, ohne Erfolg. Recker tippte auf den Garten und machte sich mit drei Kollegen an die Arbeit, das Gelände zu durchforsten.

Weinrich rieb sich nachdenklich den Bart. Hier half nur noch Logik. Frau Beerhues war kein Leichtgewicht. Und Brigitte Strunz konnte die gut 70 kg bestimmt nicht weit transportieren. Was würde er tun? In den Keller schleppen war zu beschwerlich. Im Garten konnte man von den Nachbarn gesehen werden, solange es noch hell war. Aber die Garage hatte einen direkten Zugang vom Haus durch eine Zwischentür. Wieso war ihm nicht schon früher die Idee gekommen? fluchte er leise. Weinrich eilte hin.
Das Tor zur Straße war geschlossen. Kurz tastete er nach dem Lichtschalter, um sich dann in dem schummrigen Licht umzusehen. Ein Mercedes parkte auf einem der zwei Stellplätze. Rasch hob er den unverschlossenen Kofferraumdeckel an. Er fand aber nur eine leere Einkaufskiste darin. Neben dem Auto lehnte ein Fahrrad an der Wand, zugestaubt und sicher schon lange nicht mehr benutzt. Vor Kopf stapelten sich einige Kartons unterschiedlicher Größe hüfthoch vom Boden. Etwas weiter, neben der Tür zum Garten, hingen verschiedene Gartengeräte an einer Hakenleiste.
Weinrich ging auf die Kartons zu. Waren das Blutspuren da auf der Pappe? Ungeduldig öffnete er einen von ihnen in der oberen Reihe. Er enthielt alte Bücher und Kinderspiele. Als er einen zweiten aufmachen wollte, rutschte der erste mit Getöse vom Stapel. Erstaunt stellte er fest, dass die unteren Kartons nicht so groß waren, wie er zunächst angenommen hatte. Sie ließen noch knapp einen halben Meter Platz bis zur Wand. Dahinter offenbarte sich ein schmaler Hohlraum in der Mauer. Früher musste hier ein wuchtiger Heizkörper gehangen haben, der bei der Renovierung entfernt worden war. Flott räumte der Kommissar noch zwei Kartons zur Seite. Dann sah er es. Am Boden bereitete sich eine grüne Plane über irgendetwas aus. Weinrich schob die Kartons ganz weg und hob die Plane vorsichtig an einer Ecke an. Erschrocken blickte er auf ein Bein in Jeans. Hastig riss er die Plane komplett zur Seite. Vor ihm auf dem Boden lag Uschi Beerhues, die Augen geschlossen. Ihre Hände waren vor ihrem Bauch mit Blumendraht zusammengebunden. Etwas Blut klebte in ihren Haaren. Er tastet umgehend nach ihrem Puls und rief den Notarzt. Na ja, wenigstens mischte sie sich jetzt nicht mehr ungefragt ein. Dann überlegte er, dass das hier unmöglich für länger gedacht sein konnte. Wollte Frau Strunz warten, bis es dunkel wurde, um dann Frau Beerhues endgültig verschwinden zu lassen? Er sah sich um und entdeckte ein großes Pflanzenrollbrett, das neben dem Hohlraum an der Wand lehnte. So hatte Brigitte Strunz die Frau und Kartons in kurzer Zeit transportiert. Und ihre Hände hatte sie zusammengebunden, wie die Zweige von großen Pflanzen, damit sie besser durch die Tür passte.

Zwei Tage später ging es Uschi schon wieder besser. Zwar litt sie noch an heftigen Kopfschmerzen, verursacht durch eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde am Hinterkopf, aber sie wusste, wie viel Glück sie gehabt hatte. Brigitte musste sie für tot gehalten haben, als sie bewusstlos zusammensackte.
„Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, zitierte Wilfried eine Redensart, als er sie aus dem Krankenhaus abholte.
„Ja, ja. Ich weiß. Aber ich lebe ja noch. Außerdem ist man hinterher immer schlauer“, verteidigte sich Uschi. Doch eigentlich waren beide froh, dass alles vorbei war.
„Der Patrik Fiedler leitet jetzt die Firma, kommissarisch. So wie es aussieht, haben wir unsere Arbeitsplätze noch. Ich denke, er macht das ganz gut“, erzählte Wilfried. Nach einer Pause meinte er: „Vielleicht solltest du dich doch beim Kommissar bedanken?“
Das musste sich Uschi allerdings erst noch überlegen. Ohne seine Anschuldigungen hätte sie nicht so weit eigene Nachforschungen betrieben. Oder vielleicht doch? Sie war sich nicht sicher. Das Denken fiel ihr im Moment sowieso schwer. Hauptkommissar Weinrich brauchte noch eine schriftliche Aussage von ihr. In den nächsten Tagen erwartete man sie dazu auf der Wache. Eventuell könnte sie sich zu einem klitzekleinen Danke durchringen. Aber nur, wenn er ihr nicht wieder Vorhaltungen machte.
„Hast du nun genug von Krimis?“ unterbrach Wilfried ihre Gedanken.
„Nein, ganz im Gegenteil.“ Uschi lächelte ihrem Mann zu. „Jetzt weiß ich endlich, was ich schreiben will.“
Ihr Roman spukte ihr schon seit dem Morgen im Kopf herum. Diesmal wusste sie auch schon, wie sie anfangen würde: So hatte sie es sich nicht vorgestellt. Da war Gabi gerade mal eine Woche im Urlaub gewesen und alles sah aus, wie bei Hempels unterm Sofa.
Doch in ihre Version würde die Putze den Kommissar retten. Das klang viel besser. Sicher hatte die Chefin als alleinstehende Frau Pfefferspray, um ihn außer Gefecht zu setzen. Etwas schriftstellerische Freiheit war erlaubt, schmunzelte sie vor sich hin.
Und auch einen Titel hatte Uschi schon parat: Mörderisches Mutterherz.
 



 
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