Liebe Noel,
zunächst muss ich dir sagen, dass mir die Spielerei mit dem Wortbild nicht gefällt. Heißt dein Text nun: Moment Enttäuschung oder Moment Täuschung oder etwas dazwischen? Zwischen beidem oder dreiem gibt es ja eine ziemliche Differenz wie zwischen Kopf, Zuschauer und Henkerbeil. Und wenn du das dritte meinst, dann schreib es doch. Hier willst du „modern“ sein, wirst aber nur unklar. Auch die Verwendung des &-Zeichens hat sich schon lange verabschiedet, und man hat den Eindruck, du klebst verblühte Rosensträuße auf deinen Badezimmerspiegel, anders gesagt: Du kannst nicht mehr anders.
Teilweise einverstanden bin ich mit: „Ich will reden mit dir, doch nur zuhören kann ich, noch fragen vielleicht“. Schon, dass ich anstandslos deine ersten Zeilen als Prosa schreiben kann, beweist, dass du keine Verse geschrieben hast, das zum einen. Frage: Warum nur? Zuhörenkönnen ist ein seltener Schatz. Dieses „nur“ empfinde ich nicht als zumutbares Understatement, sondern als Koketterie.
„Obgleich, dabei entkräfte ich dein Andersland“:
Sicher, man kann mit Fragen einem Gespräch eine bestimmte Richtung geben. Jedoch nicht, wie du schreibst, etwas entkräften. Denn dieser Entkräftung steht immer auch die festgemauerte Überzeugung des Sprechenden gegenüber, die selten durch Fragen entkräftet wird, sondern eher Widerstand erzeugt, nämlich ein Zurückziehen auf die eigenen Bastionen. Die Neubildung „Andersland“ gefällt mir sehr gut.
„das Tage zu Wochen, zu Monaten werden lässt und alles weitet dem nichts entgegen“
Das Andersland ist also für die Zuhörende reichlich langweilig, uninteressant, nicht attraktiv. Sie glaubt aber, sie sei gescheit genug, dem Gespräch durch Fragen die entscheidende Wende zu geben, damit der Sprechende seine eigenen, wie das Ich glaubt, Fehler erkennt. Durch die generelle Kleinschreibung hast du den Sinn des „Nichts“ unklar gemacht. Ich kann das „nichts“ als „Nichts“ verstehen, nämlich dass die Argumente des Sprechenden der Zuhörenden nichts bedeuten, sie wischt sie vom Tisch. Ich kann aber auch „nichts“ verstehen, und das würde bedeuten: Die Argumente der fragenden Zuhörerin sind so überzeugend, dass der Sprechende dem nichts entgegenzusetzen weiß. Die Spielerei All – alles kommt mir in welchem Zusammenhang auch immer nicht ganz unbescheiden vor.
„und der Moment täuscht verkehrt“:
Ist hier gemeint, dass es die falsche Täuschung ist? Das Ich also eine andere Täuschung beabsichtigt hat? Das Spiel Enttäuscht – täuscht weist darauf hin. Eine größere Aussage erreichst du damit meiner Ansicht nach nicht. Erst an dieser Stelle wird deine Prosa zum Gedicht.
„Worte passend im Vergessen“:
Auch hier wieder das Spiel Worte – Orte, passend – End. Wenn du es sagen willst, warum sagst du es nicht, sondern frühstückst uns mit solchen Halbworten ab? Ich habe das Gefühl, du sprichst von Brot, doch reichst uns nur das Stullenpapier. Oder ist das tatsächlich nur reine Formspielerei?
Aber zum Inhalt: Mir nicht ganz klar. Soll der Sprechende oder das Ich etwas vergessen? Warum eigentlich? Oder stellt das Ich fest, dass all seine Bemühungen vergeblich waren? Würde ich eher so sehen, wenn ich den Bezug zur nächsten Zeile bedenke.
„Das Morgen uns schon gestern war“:
Die beiden haben sich im Kreise gedreht, das Gespräch hätte auch nicht stattfinden können.
Liebe Noel, ich habe versucht, mir dein Gedicht zu deuten. Teil mir bitte mit, wo ich mich geirrt oder etwas falsch oder überhaupt nicht gesehen habe.
Insgesamt ist mein Eindruck, dass dein Ich sich sehr ernsthaft mit dem Gegenüber beschäftigt hat, es ihm dabei aber nicht gelingt, seine eigenen Grenzen zu sprengen. Irgendwo hätte ich das Wort „eigene Grenzen“ oder ähnliches erwartet, denn die stehen Erkenntnisgewinn und gutem Gesprächsende entgegen, nicht nur die Grenzen des anderen. Zu Überheblichkeit also keinerlei Ursache, auf beiden Seiten nicht.
Lieben Gruß
Hanna